INSPEKTOR SVENSSON: WANNABE SVENSSON [Der neue Adventskalenderroman]

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 0 und 1 Uhr am Vortag zum Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt. Alles, was Sie lesen, ereignet sich in Koordinierter Weltzeit UTC.

23.12.2009 - 00:00 UHR

[Dem Einen öffnet sich die Tür zu einem Neubeginn, der Andere erstrahlt plötzlich in ganz neuem Licht]

Das nächtliche London wurde von dichten Nebelschwaden durchzogen. Vor dem zweistöckigen Gebäude in der Baker Street 221B lehnte ein junger Mann mit einem Saxophon an der vor ein paar Tagen frisch gestrichenen Hauswand und spielte ununterbrochen die jazzige Melodie von Earle Hagens Klassiker "Harlem Nocturne". Nur spärlich erreichte ihn das Licht der Straßenlaternen durch jenen natürlichen Schleier des Nebels hindurch - ebenso spärlich, wie es in den Flur im Obergeschoß des Gebäudes schien. Und doch konnte man in jenem Schummerlicht vor der Milchglasscheibe der Tür eines sich dort befindlichen, verschlossenen Büros deutlich zwei unterschiedlich große menschliche Schatten erkennen. Und während in der Ferne gerade das Glockenspiel Big Bens den Anbruch eines neuen Tages einläutete, verkündete der kleinere Schatten mit stolzgeschwellter Brust: "Ah, Mitternacht! Kommen wir also zu Punkt 1 meines Zeitablaufplans für den heutigen Abend ...". Der größere Schatten schüttelte etwas schwerfällig den Kopf hin und her: "Sie haben doch jetzt nicht wirklich einen Zeitablaufplan entworfen für unser zwangloses Zusammentreffen heute abend, oder?!". Der kleinere Schatten reagierte sichtlich erstaunt: "Ja, selbstverständlich! Aber unterbrechen Sie mich bitte nicht! Also: Diese kleine schwarze Metallbox rechts neben der Bürotür, die auf den ersten Blick den Eindruck einer simplen Wechselsprechanlage macht, ist in Wirklichkeit das inovative Türverriegelungssystem KEYWORD 2010 von der Firma LOG-IN mit integriertem Stimmerkennungsmodul. Ich demonstriere Ihnen mal die einfache und dennoch geniale Funktionsweise, die für jedes kriminelle Element eine unüberwindbare Barriere darstellt". Damit drückte der kleinere Schatten den Sprechknopf jenes metallenen Kästchens und raunte: "Mein Name ist Watson, Doktor Watson!". Alles, was der Blechkasten dazu vermeldete, war ein kühles, computergeneriertes "Zutritt verweigert!". Etwas kleinlauter wiederholte der kleine Schatten seine Ansage, die Reaktion der Metallbox aber blieb dieselbe. Einen Moment lang herrschte bedrücktes Schweigen, dann wandte sich der kleine Schatten zögerlich dem größeren zu: "Ich fürchte, meine Stimme ist wohl heut ein wenig heiser. Vielleicht könnten Sie es jetzt mal versuchen?!". Grinsend erwiderte der große Schatten: "Wahrlich eine unüberwindbare Barriere für jedes kriminelle Element. Oder liegt Ihr Scheitern doch eher daran, daß Ihre Stimme keinen allzu großen Wiedererkennungswert hat?! Wie dem auch sei: Sie erinnern sich doch noch daran, was ich zu Ihnen sagte, als Sie am Nachmittag des ersten Advent mit der Broschüre jenes vermeintlichen Meisterwerks modernster Schlüsseltechnologie mein vorweihnachtlich gestimmtes Zuhause stürmten?!". Der kleine Schatten nickte und murmelte dazu leise: "Äh ja ... Also ich glaube, Sie meinten, daß es sich bei unserem Büro ja schließlich nicht um Ford Knox handle und daß es daher auch einfach ein ganz altmodisches Schloß mit zwei Schlüsseln und einem Ersatzschlüssel tun würde". Der große Schatten nickte: "Ganz recht! Aber Sie taten meinen Einspruch mal wieder damit ab, derartige Schlösser seien wie ich selbst Reliquien einer längstvergangenen Zeit und die zugehörigen Schlüssel hätten auch alle so einen unschönen Bart wie ich. Und nun stellt sich scheinbar mal wieder heraus, daß ich recht hatte, und daß Ihr modernes Schließsystem mehr was für den Schließmuskel und die ihn umgebene Körperregion ist ... Aber gut, ich will hier mal nicht den Besserwisser spielen. Stattdessen sag ich Ihnen jetzt etwas, was ich Ihnen schon früher immer mal während unserer gemeinsamen beruflichen Tätigkeit sagen wollte: Treten Sie doch einfach mal zurück!". Damit schob der große Schatten den kleinen beiseite und sprach in Richtung der eigensinnigen Blackbox: "Gestatten, Sherlock Holmes!". Die kühle Computerstimme aber vermeldete augenblicklich: "Herzlich Willkommen, großer Meister! Ich bitte einzutreten!". Wie von Geisterhand öffnete sich mit einem leisen Surren die bis dato festverschlossene Bürotür. Während der kleine Schatten sichtlich verdutzt stehenblieb, wagte der große Schattenmann sogleich einen beherzten Schritt ins Halbdunkel des Büroinnern. Dabei sprach er zufrieden: "Na, bitte, funktioniert ja doch tadellos, dieser neumodische elektronische Schlüsselkasten!". Der kleine Schatten aber knurrte in seinem Rücken leise: "Großer Meister?! Daß ich nicht lache! Aber das war ja klar, daß Sie auch hier mal wieder die erste Geige spielen müssen! Ganz genauso wie mein Vater früher! Ich wünschte nur, ich könnte Ihnen und allen anderen endlich ein für allemal beweisen, wozu ich wirklich fähig bin!". Der große Schatten drehte sich schlagartig zu dem hinter ihm Zurückgebliebenen um: "Haben Sie etwas gesagt, mein Allerwertester?! Nein?! Ich dachte! ... Naja, wie dem auch sei, ich werd jetzt hier erstmal ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Ach je, wie ging das gleich nochmal, sagten Sie neulich?!". Das war das Stichwort für den kleineren Schatten, der sogleich aus dem Hintergrund verkündete: "Das wäre dann jetzt wohl Punkt 2 meines Ablaufplans. Und bei 3 Minuten nach Mitternacht liege ich da auch noch absolut in meinem Zeitfenster". Mit diesen Worten drängte er sich an dem größeren Schatten vorbei, nahm in Siegerpose inmitten des dunklen Büros Aufstellung und rief mit feierlicher Stimme: "Es werde Licht!".

Und tatsächlich, es ward Licht. Der Kronleuchter an der Decke, der mit einem sprachgesteuerten Schalter ausgestattet war, erhellte schlagartig den Raum. Die beiden Schattenmänner aber verwandelten sich in seinem Lichte von einer Sekunde auf die andere in den großgewachsenen Lukas Svensson und den neben ihm etwas kleiner geratenen Charles Wannabe. Beide waren festlich in weiße Oberhemden und schwarze Anzüge gekleidet, die sich nur dadurch unterschieden, daß Svenssons Anzug inklusive Krawatte und Oberhemd von der Stange war und nur einen Bruchteil von dem kostete, was Wannabe in seinen maßgeschneiderten Markenzwirn investiert hatte. Lukas Svenssons Aufmerksamkeit und Staunen galt momentan allerdings weniger dem Chickie-Mickie-Outfit Wannabes als vielmehr der Einrichtung des kleinen Büros, in dem laut dem englischen Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle bereits dessen berühmter Meisterdetektiv Sherlock Holmes seine Fälle gelöst haben sollte. Wannabe, der die sprachlose Begeisterung seines nächtlichen Begleiters beim Anblick des von ihm in den letzten Wochen mühsam eingerichtete Büro sichtlich zufrieden registrierte, vollführte mit beiden Händen eine einladende Geste und sprach dazu bedeutungsschwanger: "Das alles hier ist jetzt quasi unser neues berufliches Zuhause. Sehen Sie sich nur ruhig um! Oder um es mal mit dem Lieblingsmotto unseres neuen, stets wohl parfümierten Yardchefs Sir Douglas zu formulieren: Come in and find out!". Lukas Svensson folgte der Einladung, trat ein und schaute sich genau um. Auf den ersten Blick war es eines dieser Detektivbüros, wie man sie von Groschenromanen und alten Schwarz-Weiß-Filmen her kannte. Zwischen zwei - mit blauen Metalljalousien verhangenen - Fenstern stand, ein wenig von der Wand abgerückt, ein großer herrlich altmodischer, hölznerner Schreibtisch mit jeweils drei schlichten Holzstühlen auf beiden Seiten. Dahinter an der Wand neben einem der Fenster war ein kleiner Aktenschrank aufgestellt, wie ihn Lukas Svensson noch aus seiner Anfangszeit beim Yard kannte. Aus der guten alten Zeit ohne Computer, ohne Bits und Bytes - als Files noch Akten hießen und Notebooks einfach nur Notizbücher waren. Heute hingegen stand an jedem noch so kleinen Arbeitsplatz nicht mehr der Angestellte im Mittelpunkt, sondern ein möglichst leistungsstarker Rechner. So auch hier: Inmitten der antik anmutenden, gebeizten Schreibtischplatte machte sich als Fremdkörper ein Laptop in Marmoroptik breit, der aus Lukas' Sicht wie der Grabstein für den hinter ihm sofort ins Abseits tretenden Aktenschrank wirkte. Wannabe hatte inzwischen voller Eifer vor jenem Designerlaptop platzgenommen und ihn aufgeklappt. Seine Augen glitzerten wie Edelsteine, während der Rechner leise schnurrend hochfuhr. Eine Glockenton verkündete schließlich schon eine Minute später den erfolgreichen Start des Betriebssystems, und auf dem Bildschirm erschien zwischen mehreren Symbolen zum Öffnen von Programmen und Ordnern der goldfarbene Schriftzug "Wannabe Svensson - Private Ermittlungen aller Art". Charles Wannabe jubelte: "Hurra! Exakt 0 Uhr 5, und wir kommen zu Punkt 3 meines Ablaufplans. In diesem edlen Computer vereint sich in Zukunft unser gesamtes Rechnungswesen, unsere komplette Korrespondenz und sämtliches Aktenmaterial über unsere Klienten und Fälle. Ist das nicht wunderbar?! Früher hätte das riesige Aktenschränke gefüllt, heute paßt alles auf nur eine einzige Festplatte. Und den Rechner hab ich dabei sogar echt billig erstanden, nur weil er noch unter Windows 95 läuft". Letzteres hätte Wannabe wohl lieber nicht sagen sollen, denn im gleichen Moment erschien inmitten des eben noch so farbenfroh goldigen Rechnerdisplays ein recht eintöniges dunkelblaues Hinweiskästchen, das anschaulich und wortgewaltig weiß auf blau von einem fatalen Fehler sprach. Sekunden später verfinsterte sich der Bildschirm komplett, und der Rechner hing sich auf. Wenn man Charles Wannabe in diesem Moment ins entsetzte Gesicht sah, konnte man meinen, er würde es dem Rechner am liebsten gleichtun. Das Edelsteinglitzern seiner Augen war gänzlich verschwunden und wurde Sekunden später durch ein zorniges Funkeln ersetzt. Die Gesichtszüge entgleisten ihm, und dem offenstehengebliebenen Mund entfuhr ein: "Du elendiger Versagerkasten, was soll denn der Blödsinn! Ich hab die Faxen jetzt so langsam dicke! Alles läuft heute schief! Einfach alles!".

Damit wanderte Wannabes entrüsteter Blick auch schon weg vom unverändert schwarzen Bildschirm auf die goldene Rolex an seinem Handgelenk. Seine Stirn legte sich dabei nur noch mehr in Falten, und er murmelte verärgert: "0:07. Na bitte, sag ich's doch! Alles läuft schief! Laut Punkt 4 meines Zeitplans sollte der bestellte Cateringservice schon längst da sein. Ich hatte diesem Herrn Booker doch ganz deutlich 0 Uhr und 6 als Liefertermin genannt. Ich glaub, ich muß da noch mal anrufen! Sie gestatten doch?!". Lukas Svensson, der Wannabes steigender Erregung und den damit verbundenen Gefühlsausbrüchen die ganze Zeit sichtlich gelassen - wenn auch ein wenig erstaunt - gegenüberstand, nickte nur stumm. Charles Wannabe aber kramte aus seiner Anzugjackentasche sogleich nervös ein diamantbesetztes Smartphone hervor, tippte ein paar Ziffern auf dem bernsteinfarben hinterlegten Display an und führte es schließlich zum Ohr. Am anderen Ende meldete sich eine jugendliche Stimme: "Cateringservice Booker. Einen wunderschönen Guten Morgen! Was kann ich für Sie tun?". Wannabes verärgerte Antwort auf diese Frage ließ nicht lang auf sich warten: "Sie können mir zum Beispiel einmal sagen, wo meine Bestellung bleibt! Charles Wannabe hier! Sie erinnern sich vielleicht noch dunkel: Zwei Dutzend Lachs- und Kaviarschnittchen sowie eine Flasche edelster französischer Champagner um Mitternacht plus 6 an die Adresse 221B Baker Street". Am anderen Ende der Leitung waren ein Rascheln und ein verlegenes Räuspern zu vernehmen, dann meldete sich der Lieferant mit entschuldigendem Tonfall: "Oh, das tut mir aber leid! Da hab ich jetzt wohl die Adressen verwechselt. Ich hab die Bestellung nämlich gerade ausgeliefert, nur in die Jump Street Nummer 21 im Londoner Stadtteil Ratcliff. Muß wohl die Macht der Gewohnheit sein, denn 21 Jump Street war früher in den Staaten sozusagen mal jobtechnisch meine Stammadresse. Und ich hab mich schon gewundert, weil solch zwielichtige Gestalten, wie ich sie dort unter dem mysteriösen Firmenlabel 'F.C.Europe' eines gewissen Lou antraf, eigentlich seit meinem Ausscheiden aus dem amerikanischen Polizeidienst gar nicht zu meiner sonst so erlesenen Clientel gehören. Ich hoffe, Sie nehmen mir den kleinen Fauxpax nicht übel und erstatten mir trotz allem meine gesamten Unkosten in Höhe von ...". Weiter kam er nicht, da Wannabe bereits wutentbrannt sein Handy auf den Tisch geknallt hatte. Wild schnaufend murmelte er: "Exakt 241 Pfund ... Ich hätte es wissen sollen, schon sein Vorgänger bei dieser ominösen Partyservicefirma namens Johnny war ein unfähiger Depp! Und ich hab für unseren geplanten luxoriösen Mitternachtsimbiß extra auf mein allabendliches Dinner im Ritz verzichtet. Ich könnt mich echt in den versaceverhüllten Hintern beißen!". Lukas Svensson schüttelte augenzwinkernd den Kopf: "So verlockend dieser Anblick auch sein mag, ich hab da - glaub ich - eine wesentlich bessere Idee, die alle unserer momentanen Probleme mit einem Mal löst". Und schon angelte er seinerseits aus seinem - die ganze Zeit über den Arm gelegten Regenmantel - sein Klapphandy samt einem zusammengeknüllten Notizzettel. In aller Seelenruhe tippte er die Ziffernkombination des Zettels in das Tastenfeld des Handys ein und drückte abschließend die grüne Wähltaste. Bei ihm meldete sich am andern Ende eine für die fortgeschrittene Uhrzeit noch recht wache Stimme, die erstaunt fragte: "Hallo, Lukas, weißt Du eigentlich, wie spät es ist?! Was gibt es denn so Dringendes?!". Lukas Svensson erwiderte: "Also erstmal ist es nicht spät, sondern - ganz im Gegenteil - früh am Tage. Und zum anderen könnte ich hier gleich in doppelter Hinsicht Deine Hilfe gebrauchen. Sir Wannabe ist nämlich mal wieder mit seinem Latein so ziemlich am Ende, was die Tücken der modernen Technik angeht. Und der Magen hängt ihm auch schon in den Kniekehlen, was eine leichte Verstimmung desselbigen sowie seines Besitzers zur Folge hat. Vielleicht könntest Du ja beim Herkommen vom 'Ristorante Mama Lucia' noch drei Pizzen und einen dazu passenden Wein besorgen". Mit einem Blick auf den völlig niedergeschlagen wirkenden Wannabe fragte er: "Charles, für Sie mit extra viel Käse?!". Wannabe aber winkte nur müde ab: "Egal, ist ja eh alles Käse! Mein schöner Zeitplan!". Lukas Svensson grinste und beendete dann sein Telefonat mit den Worten: "Ok, Du hast es ja gehört! Dann bis gleich, mein Freund!".

Deprimiert ließ Charles Wannabe vor Svenssons Augen den Kopf auf die Tischplatte sinken, wobei er maulte: "Sie haben es gut, Sie haben wenigstens noch Freunde, die für Sie da sind, wenn Sie sie brauchen! Ich hab gar nichts! Keine Familie, keine Freunde, nicht mal mehr meinen Zeitplan!". Lukas spürte in diesem Augenblick ein Gefühl in sich aufkommen, das er in Verbindung mit Wannabe noch nie zuvor so gehabt hatte - Mitleid. Und so bewegte er sich, dieser Empfindung nachgehend, langsam auf Charles zu und legte ihm behutsam die rechte Hand auf die Schulter. Und mit beruhigender Stimme sprach er: "Sie haben sich in der Vergangenheit mit Ihrer recht eigentümlichen Art aber auch nicht gerade darum bemüht, sich Freunde zu machen". Erstaunt hob Wannabe sein gesenktes Haupt wieder ein wenig: "Mit meiner eigentümlichen Art?! Wie bitteschön meinen Sie denn das?!". Lukas zuckte leicht mit den Schultern: "Nun ja, um ehrlich zu sein, waren Sie, solange ich Sie kenne - wie formulier ich das jetzt bloß, ohne sie allzusehr zu beleidigen - naja, ein fieser Kotzbrocken eben. Ein eingebildeter, arroganter Schnösel. Ein echter Armleuchter ...". Wannabes herabgesenkter Kopf schnellte augenblicklich wieder in die Höhe: "Danke, das reicht schon! Ich glaube, das deckt sich eh so ziemlich mit dem Bild, das ich bislang von Ihnen hatte. Und bevor wir uns - wie einst in Yardtagen - jetzt gegenseitig noch mehr unschöne Dinge an den Kopf werfen, lassen Sie uns doch lieber schweigend auf das Eintreffen Ihres Freundes warten". Lukas Svensson nickte: "Mir solls recht sein. Das wird für uns beide bestimmt eine ganz neue Erfahrung. Über eine längere Zeit auf so engem Raum zusammen, ohne von beiden Seiten ausgehend eine verbale Schlammschlacht anzuzetteln?!". Und so verbrachten die beiden Ex-Kriminalisten die nächste Viertelstunde gemeinsam einträchtig in aller Stille, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln. Wannabe trommelte stattdessen zum Zeitvertreib mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte, während Svensson leisen Schrittes im Büro auf und ab ging und hin und wieder die Lamellen der blauen Jalousien auseinanderdrückte, durch die er dann gedankenversunken hinaus ins Dunkel der Nacht schaute.

Es war schließlich Charles Wannabe, der das wohltuende Schweigen brach und die zuvor unterbrochene Unterhaltung wieder aufnahm: "Entschuldigen Sie, aber gestatten Sie mir doch bitte eine Frage! Wer ist es überhaupt, den Sie da mitten in der Nacht bei Eiseskälte durch halb London jagen? Muß wohl ein ziemlich guter Freund sein?!". Lukas Svensson nickte: "Ja, ein sehr guter! Einer, der im Moment gerade selbst eine unheimlich schwere Zeit durchmacht, auch wenn er nicht gern darüber redet. Und einer, dem dennoch für seine Freunde nie ein Opfer zu groß war und ist". Leise seufzend schaute Wannabe zu dem immer noch hinter ihm auf und abgehenden Svensson: "Was meinen Sie, Lukas, ob wir Beide jemals auch so etwas wie Freunde werden könnten?! Oder glauben Sie, dieser Gedanke ist einfach zu abwegig und absurd?". Lukas blieb unvermittelt stehen. Mit so einer Frage hatte er aus dem Munde Wannabes jetzt am allerwenigsten gerechnet. Der pensionierte Beamte grübelte einen Moment, dann erwiderte er: "Im Grunde genommen lautet meine Devise in dieser Hinsicht ja immer: Nichts ist unmöglich! Denken Sie doch zum Beispiel an so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Sherlock Holmes und Doktor Watson". Charles Wannabe nickte: "Ja, oder Simon und Simon, Starsky und Hutch, Jack und McCabe, Bodie und Doyle, Crockett und Tubbs, Hardcastle und McCormick, Mike Stone und Steve Heller. Oder aber auch Dick und Doof". Einen Augenblick stutzte Lukas Svensson, hatte doch die letzte der von Wannabe aufgezählten Paarungen erst einmal gar nichts mit Krimi zu tun. Doch dann erkannte er darin die Gelegenheit, Charles Wannabe gehörig aufs Korn zu nehmen, indem er mit einem kurzen Blick herab auf sein stattliches Bäuchlein bemerkte: "Na, das war ja wohl eher ein Eigentor, Charlieboy! Denn dick sind Sie ja nun keinesfalls und schon gar nicht im Vergleich zu mir! Damit bliebe für sie wohl nur noch der andere Part. Doof gelaufen, was?!". Charles Wannabe ging nicht weiter auf Lukas Svenssons Bemerkung ein, bei ihm lag das Gewicht längst auf einer ganz anderen Frage: "Und wenn auch gemischtgeschlechtliche Paarungen gingen?! Dann hätte ich da nämlich noch Miss Marple und Mister Stringer, Dempsey und Makepeace, Hunter und DeeDee McCall oder das Model und der Schnüffler anzubieten".

Das zufällig begonnene, heitere Paareaufzählen fing ganz offensichtlich an, Wannabe zu gefallen. Er, der sonst stets so kühl, steif und unnahbar erschien, wirkte plötzlich gelöst. Seine ernsthaften Gesichtszüge hatten sich entspannt und wurden nun von einem breites Grinsen geflutet. War das tatsächlich noch derselbe Mann, der Lukas Svensson mit seiner überheblichen, intriganten Art einst bei New Scotland Yard das Leben so schwer gemacht hatte?! Man mochte es in diesem Moment kaum für möglich halten, und dennoch war es so! Svensson betrachtete seinen neuen Partner intensiv. Ja, es war ein und derselbe Mann, der momentan ganz in der Aneinanderreihung der unterschiedlichsten Pärchen der Film- und Fernsehgeschichte aufzugehen schien, und schließlich mit einem Augenzwinkern meinte: "Bliebe nur noch die Frage, wer dann von uns die Hosen anhat". Lukas Svensson hatte natürlich auch darauf schon die passende Antwort parat: "Das bin dann natürlich ich! Und sie mit Ihrer eh schon recht dämlichen Art tragen die Kleider. Wobei ich das Attribut dämlich jetzt nicht als uncharmante Umschreibung für bescheuert sondern vielmehr als ein - von der ehrenvollen Bezeichnung Dame abgeleitetes - Synonym für fraulich verstanden wissen möchte. Nicht, daß wir uns da mißverstehen!". Charles Wannabe zwinkerte: "Ich hab Sie alten Gauner schon recht gut verstanden, denk ich mal! Apropos Miss Verstehen - ist das nicht die unverheiratete, alles immer gleich in den falschen Hals bekommende Tochter von Mister und Misses Verstehen?! Aber nun mal wieder ernsthaft: Ich weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen, daß ich irgendetwas Weibisches an mir hätte?!". Sich betont lässig und männlich auf seinen Stuhl lümmelnd, schaute er mit großen, erwartungsvollen Augen zu Lukas Svensson herüber, der daraufhin amüsiert anmerkte: "Nun ja, wer von uns beiden Hübschen hat denn schließlich, wie ich auf der Hinfahrt hierher zu meinem Erstaunen bemerken durfte, einen Schminkkoffer auf dem Rücksitz seines Autos liegen?! Und mal ehrlich: So gekonnt dezent, wie Sie sich schon zu unseren gemeinsamen Yardzeiten vor jedem Presseauftritt an einem stillen Örtchen nochmal die Wangen übergepudert haben, wären Sie mit ein paar zusätzlichen Accesoires wie Lippenstift, Perücke und Abendkleid ganz sicher auch gut und gern als ihre eigene Tante durchgegangen - Charlies Tante sozusagen. Vielleicht würde Ihnen ein derartiges Crossdressing am Ende sogar gefallen. Man weiß ja schließlich nie!". Charles Wannabe aber entgegnete sofort ein wenig empört: "Man vielleicht nicht, ich aber weiß das schon! Ich bin ja schließlich weder homosexuell noch sonst irgendwie pervers veranlagt". Damit verdrängte er diesen Gedanken auch gleich wieder und kam stattdessen unvermittelt noch einmal auf das Paarespiel von eben zurück. Wie ein Erstklässler riß er dabei mit geradezu kindlichen Eifer den Zeigefinger der rechten Hand in die Höhe und vermeldete: "Ein bedeutendes Pärchen der TV Krimihistorie haben wir übrigens eben bei unserer Aufzählung noch vergessen, mein Lieber! John Steed und Emma Peel". Lukas Svensson schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn: "Also Charles, wie konnte uns das nur passieren?! Wie kann man nur den zeitlosen Klassiker 'Mit Schirm, Charme und Melone' vergessen?! ... Also gut, in dem Fall bin ich dann aber John Steed. Einen Schirm hab ich nämlich zuhause, und Charme hab ich auch jede Menge ...". Hier fiel ihm Charles aufgeregt ins Wort, allerdings nicht, um ihm - wie sonst - zu widersprechen oder gar Beleidigungen an den Kopf zu werfen, sondern einzig und allein, um mit einem spitzbübischen Grinsen zu fragen: "Und was würden Sie dann sagen, wenn ich ganz beiläufig anmerke, daß ich schonmal als Baby eine Melone getragen habe, Johnny?". Lukas glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Das war ja quasi die Traumvorlage zu einem cineastisch angehauchten Kalauer. Alle Achtung, soviel Humor hatte er dem ungehobelten Kauz Wannabe nun wahrlich nicht zugetraut. Andererseits war es ja vielleicht auch nur eine völlig ungewollte Doppelsinnigkeit, derer sich der gute alte Charles gar nicht bewußt war. Lukas beschloß, der Sache auf den Grund zu kommen und antwortete: "Nun, als Filmfan sähe ich mich versucht festzustellen, daß ich jetzt keinesfalls bereit bin, mit Ihnen ins Wasser zu gehen, um Hebefiguren zu üben?!". Charles Wannabe nickte wohlwollend - genau auf so eine Reaktion hatte er bei seiner kleinen filmreifen Anspielung ja gehofft - und brach dann allein bei der bildlichen Vorstellung jenes absurden Szenarios in ungezügelt schallendes Gelächter aus. Auch Lukas selbst mußte herzhaft lachen, wobei er schließlich bemerkte: "Entdecke ich da etwa am Ende sowas wie unerwartete Gemeinsamkeiten?! Ach Charles, wenn Sie wüßten! Gefühlte hundertmal hab ich mir mit meiner ersten Frau Nina 'Dirty Dancing' anschauen dürfen. Naja, ist nunmal ihr absoluter Lieblingsfilm, schon allein wegen Patrick Swayze. Ich steh ja mehr auf Julia Roberts in 'Pretty Woman'. Den liebt meine Yelena übrigens auch. Wenn auch wohl weniger wegen Julia, sondern eher wegen Richard Gere, dem Strauß roter Rosen und der schneeweißen Limousine am märchenhaften Happy End". Svenssons Blick verklärte sich mit einem Male. Er stand auf und ging wieder zum Fenster, wo er die Jalousien erneut mit seinen Fingern auseinanderpreßte und hindurchschaute. Sein Ohr lauschte dabei dem einsamen Klang des Saxophons, das unten auf der Straße gerade "Blue Moon" intonierte. Seine Augen wanderten dabei hinauf zu eben jenem Mond, der dank des anhaltenden Nebels heute nacht tatsächlich einen feinen blaugrauen Schleier zu tragen schien. Seufzend hauchte er: "Ach ja, meine Yelena. Sie liegt jetzt ganz allein in unserem warmen Ehebett, die Decke bis an die Nase hoch gezogen und wartet sehnsüchtig darauf, daß ich endlich nach Hause komme".

Auch in Lukas Svenssons Rücken seufzte es. Charles Wannabes eben noch so überschwengliche Heiterkeit kippte, und traurig sprach er: "Ach, wenn man Sie so reden hört, dann könnte man Sie glatt beneiden. Ich wünschte, auf mich würde heut nacht auch jemand warten: Jemand, mit dem ich nicht nur mein Bett, sondern auch meine Gedanken und all meine innersten Gefühle teilen könnte. Aber da gibt es leider niemanden! Meine Ehefrau Janet hat mich nach allen Regeln der Kunst belogen und betrogen. Sie war die Komplizin eines gemeingefährlichen Terroristen und ist durch ihn zur Mörderin an ihrem eigenen Vater geworden. Dann hat man sie angeschossen, und nun liegt sie schon seit drei Monaten unter polizeilicher Bewachung im Spezialtrakt eines staatlichen Pflegeheims im Koma. Manchmal bin ich ja fast versucht, sie dort zu besuchen, aber ich kann es nicht. Ich kann einfach nicht vergessen, was sie ihrem Vater und mir angetan hat. Und vergeben kann - nein, vergeben will ich es ihr erst recht nicht". Lukas Svensson drehte sich ruckartig zu Charles Wannabe um, und schaute ihn lange an. Die Ehe zu Janet Freakadelly, der eigensinnigen Tochter des späteren Yardchefs, war von Anfang an nur eine Zweckehe gewesen, die Wannabe als Sprungbrett für seine Karriere benutzt hatte. Die Beiden hatten nie eine wirkliche Liebesbeziehung zueinander gehabt, und ihre Scheidung war auch vor dem Mordanschlag auf sie ja schon beschlossene Sache gewesen. Mehr noch: Janet Wannabe hatte letzten Endes mittels einer fingierten Kurzmitteilung vom Handy ihres Mannes aus sogar versucht, ihm den skrupellosen Mord an ihrem Vater in die Schuhe zu schieben. Da konnte man Wannabes Unversöhnlichkeit irgendwie schon verstehen. Auch wenn sie ihn scheinbar doch sehr zu belasten schien, wie Lukas zwischen den Sätzen, die sein neuer Partner da so überraschenderweise ganz offen von sich gab, zu erkennen glaubte. Schon erstaunlich! Da dachte man, einen Menschen zu kennen, hatte sich über Jahre hinweg ein festes Bild von ihm gemacht. Dann kam eine Nacht wie diese. Die sorgsam aufgebaute Fassade des andern begann, langsam zu bröckeln. Und plötzlich entdeckte man an ihm ganz neue, unbekannte Seiten. Überaus menschliche, ja sogar fast liebenswerte Seiten, die einem den andern mehr und mehr symphatisch werden ließen.

Noch einmal gab Charles Wannabe einen leisen Stoßseufzer von sich: "Wissen Sie, Svensson, darum hab ich mich ja auch Hals über Kopf in dieses Abenteuer einer gemeinsamen Zusammenarbeit mit Ihnen begeben. Ich hoffe, daß mich die Arbeit in unserer Detektei ein wenig ablenkt, indem sie mir wenig Zeit zum stumpfsinnigen Grübeln über die Ereignisse der letzten Wochen und Monate läßt. Natürlich wollte ich auch endlich mal mein eigener Herr sein, was mir weder als Chefinspektor beim Yard im Schatten meines allgegenwärtigen Schwiegervaters Harold Freakadelly noch als Chef der Antiterroreinheit - wo mir der Außenminister und der Innenminister andauernd aus politischen Erwägungen auf die Füße traten - vergönnt war". Lukas Svensson geriet aus dem Staunen einfach gar nicht mehr heraus. Der selbstverliebte Karrierist Wannabe erschien ihm jetzt plötzlich in einem ganz anderen Licht. Eine Frage stellte sich ihm ihm dabei allerdings doch noch - eine, die ihm schon seit Wochen und Monaten unter den Nägeln brannte und die er jetzt auch endlich einmal offen zu stellen wagte: "Tja, aber warum fiel Ihre Partnerwahl für den beruflichen Neuanfang da ausgerechnet auf mich, wo wir doch - solang wir uns kennen - stets wie Hund und Katze waren?". Wannabe schwieg einen Augenblick, dann antwortete er bedrückt: "Nun, um das hier allein durchzuziehen, fehlten mir letztlich der Mut und die Mittel. Ein Großteil meines Geldes steckte schließlich in meiner explodierten Yacht, den Rest verschlingt nun nach und nach die medizinische Versorgung meiner Noch-Ehefrau. Und wie ich dann so darüber nachdachte, wer mit mir in dieses gewagte Unternehmen Zeit und Geld zu investieren bereit wäre, fiel mir eben kein anderer auch nur annähernd so Gutgläubiger ein wie Sie. Freunde hab ich ja wie gesagt keine, und einen gänzlich Fremden wollte ich mir auch nicht mit ins Boot holen. Man braucht ja auch jemanden an seiner Seite, dem man ein wenig vertrauen kann, nicht wahr?!". Lukas' Antwort auf diese eh mehr rhetorisch gemeinte Frage blieb aus. Er war einfach sprachlos. Aus Wannabes Mund klang die Schlußbemerkung ja schon fast wie eine versteckte, zarte Liebeserklärung an ihn.

Langsamen Schrittes begab Svensson sich - von seinem bisherigen Standpunkt deutlich abrückend - wieder an den Tisch, schob den Stuhl zur Rechten Charles Wannabes ein wenig zurück und setzte sich. Dabei kramte er aus der Brusttasche seiner Anzugjacke einen Stapel Fotos hervor, den er Charles mit den Worten überreichte: "Ich glaube, Sie haben jetzt mal ein wenig Ablenkung und Aufheiterung nötig. Vielleicht bringen Sie ja die Bilder von der Hochzeit mit meiner Yelena und unserer anschließenden Flitterwochenweltreise auf andere Gedanken. Wenn Sie mal schaun wollen?!". Charles Wannabe nickte, und dann antwortete er mit einem leichten Augenzwinkern: "Ja, ich will!". So vertrieben sich die beiden Männer, die in dieser Nacht auf dem besten Wege waren, echte Partner und - wenn es so einträchtig mit ihnen weiterging - vielleicht sogar noch so etwas wie gute Freunde zu werden, die Zeit mit Hochzeitsreiseschnappschüssen und den dazugehörigen Geschichten ...

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