INSPEKTOR SVENSSON: WANNABE SVENSSON [Der neue Adventskalenderroman]

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 1 und 2 Uhr am Vortag zum Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt. Alles, was Sie lesen, ereignet sich in Koordinierter Weltzeit UTC.

23.12.2009 - 01:00 UHR

[Lukas übernimmt einen neuen Fall, Wannabe ist mal wieder ganz der alte]

Just als vom Parlamentsgebäude Big Ben - The Voice of Britain - ein Uhr schlug, war von der Bürotür her ein deutliches Klopfen zu vernehmen. Lukas schaute kurz auf und rief: "Die Tür steht Dir offen, mein Freund! Also nur herein, wenn's kein Schneider ist". Langsam wurde die Tür geöffnet. Ein farbiger Mann im langen schwarzen Mantel trat ein, und sprach mit ruhiger, fester Stimme: "Nein, ein Schneider ist es nicht, sondern ein Hirte - und das gleich im doppelten Sinn und in dreifacher Ausführung!". Damit trat er ein paar Schritte vor und machte so zwei weiteren nächtlichen Besuchern platz. Lukas Svensson war sichtlich erstaunt: "Pastor Shepherd?! Entschuldigung, aber ich hatte mit jemand anders gerechnet. Was verschafft uns denn die Ehre Ihres nächtlichen Besuchs?". Der Pastor reichte Lukas und Charles die Hand und sprach: "Naja, wir kamen mehr oder weniger zufällig hier vorbei, entdeckten das Schild mit dem mir vertrauten Namen neben der Eingangstür und sahen einen schmalen Lichtstreif am Fenster. Aber eh ich nun zu meinem Anliegen komme, darf ich mich und meine Kollegen vielleicht dem Herrn an Ihrer Seite erst einmal rasch vorstellen. Also, mein Name ist Marc Sheppard von der Saint Pauls Cathedral. Sie erinnern sich vielleicht noch an mich?! Ich war derjenige, der vor guten drei Monaten das Brautpaar Svensson getraut hat. Und meine beiden Begleiter sind zu meiner Linken Matthew Grave und zu meiner Rechten John Baptist". Nacheinander reichten die drei Würdenträger Wannabe die Hand, wobei dieser jeweils meinte: "Charles Wannabe, der Jüngere - von 'Wannabe Svensson'. Bitte setzen Sie sich!". Schließlich saßen alle drei Pastoren Lukas und Charles am Tisch direkt gegenüber. Pfarrer Shepherd aber ergriff sogleich das Wort: "Was uns zu dieser ungewöhnlichen Stunde zu Ihnen führt, ist ein sehr schmerzlicher Verlust. Die meiner Gemeinde einst vom britischen Thronfolger Prinz Charles und seiner Gemahlin Lady Di anläßlich ihrer Vermählung geschenkte hölzerne Statue des Heiligen Paulus, jenes Namensgebers unserer altehrwürdigen Kathedrale, ist spurlos verschwunden. Wir haben natürlich sofort die Polizei gerufen, aber die meinten nur, über die Feiertage sei da nichts zu machen, frühstens im nächsten Jahr. Nun müssen Sie allerdings wissen, daß wir seit 1981 noch nie ein Weihnachtsfest ohne unseren hölzernen Schutzpatron gefeiert haben. Und es würde unseren zahlreichen Besuchern und vor allem den festen Gemeindemitgliedern im Herzen wehtun, wenn wir am morgigen Heiligen Abend mit dieser liebgewordenen Tradition brechen müßten ...".

Ohne weiter nachzudenken, unterbrach Charles Wannabe die Ausführungen des Pastors: "Was, um Himmels willen, ist denn so furchtbar tragisch, wenn Ihnen bei Ihrer kleinen alljährlichen Krippenshow um die nächtliche Stallgeburt Ihres christlichen Wunderknaben nun ein Holzkopf mehr oder weniger zuschaut?!". Den drei Geistlichen standen die Münder weit offen, und mit großen Augen schauten sie gleichzeitig zu Lukas Svensson herüber. Der hatte bislang nur dagesessen und nebenbei in aller Ruhe seine - über die komplette Schreibtischfläche verteilt liegenden - Flitterwochenfotos wieder in der Tasche seines Regenmantels verstaut. Jetzt aber warf der Pensionär einen gestrengen Blick auf Wannabe: "Nun, mein lieber Charlie, wenn es wirklich nur um einen Holzkopf mehr als Zuschauer ginge - ich glaube, ich könnte Sie morgen abend für ein oder anderthalb Stündchen entbehren. Ich weiß halt nur nicht, ob ich dem Herrn Pfarrer damit wirklich eine Freude machen würde". Und an Pastor Shepherd gewandt, ergänzte er schulterzuckend: "Sie müssen meinem neuen Partner die etwas abfällige Bemerkung schon verzeihen, aber er glaubt leider weder an Gott noch an dessen Sohn Jesus Christus". Pfarrer Goody Shepherd schaute mitleidig auf Charles Wannabe. Und während er sich eilends vor der Brust bekreuzigte, fragte er den ehemaligen kommissarischen Yardchef: "Ach je, und woran glauben Sie dann?". Wannabe dachte kurz nach, dann antwortete er: "Woran ich glaube? Nun, das ist einfach. Vor allem glaube ich an mich selbst und an die Macht des Geldes. Und ich glaube an die Theorie, daß das Universum durch einen Urknall entstand sowie daran, daß sich der Mensch mittels Darwinscher Evolution aus dem Affen entwickelte". Lukas Svensson schüttelte schmunzelnd den Kopf: "Ja, mein guter Charles, und wenn ich Ihnen manchmal so zuhöre, dann kommt es mir so vor, als stünden Sie mit Ihren teilweise recht affigen Ansichten noch immer ganz am Anfang jener Entwicklung".

Pastor Shepherd zugewandt, ergänzte Lukas: "Oh Gott, Herr Pfarrer! Ich für meinen Teil kann gut verstehen, wie bedauernswert dieser Verlust für Sie und Ihre Gemeinde sein muß! Ich hatte schließlich bei der Vorabbesichtigung Ihres Gotteshauses anläßlich meiner Trauung im September des Jahres ausreichend Gelegenheit, jene hölzerne Statue des Apostels Paulus zu bewundern. Ein wahrhaftes Meisterwerk der Holzschnitzerei und sicher von unschätzbarem Wert ...". Hier meldete sich nun wie auf Stichwort auch Charles Wannabe zu Wort: "Kann man diesen ach so unschätzbaren Wert nicht vielleicht doch mal in Zahlen ausdrücken, vorzugsweise in Englischen Pfund?!". Lukas schüttelte den Kopf über die kühle Berechnung, mit der sein Kompagnon auf die Kunde vom Verschwinden eines so wichtigen, gleichermaßen geistlichen wie nationalen Kulturgutes reagierte: "Aber Charles, es geht doch hier wohl um mehr als um schnöden Mammon, oder?!". Wannabe sah ihn verwundert an und zuckte mit den Schultern: "Wieso? Ich möchte doch nur wissen, was die olle verschwundene Holzfigur denn so wert ist, um daraus meine Schlüsse ziehen zu können, wieviel wir den Herren Schwarzröcken hier für die Wiederbeschaffung in Rechnung stellen können". Ein wenig beschämt schaute Svensson wieder zu den Geistlichen herüber und sprach: "Sie müssen schon verzeihen, meine Herren, aber mein Partner mit der kalten Schnauze ist heute mal wieder ein wenig sehr direkt. Natürlich geht es in erster Linie um die Wiederbeschaffung der verlorenen Figur. Und was die Kosten unserer Ermittlungen betrifft ...". Pastor Shepherd versuchte, an dieser Stelle einzulenken: "Nun ja, unsere Paulusfigur hat einen aktuellen reellen Schätzwert von 241 Pfund. Was allerdings den ideellen Wert für uns als Gemeinde betrifft, so liegt der sicher um ein Vielfaches höher". Wannabe rieb sich die Hände, wobei er zugleich klarstellte: "Ok, das freut mich zu hören! Bei einem für unser Gewerbe üblichen Kostensatz von 10 Prozent wären da sonst für unsere Detektei nur läppische 24 Pfund und 10 Pence herausgesprungen, aber so kann man sich sicher von vornherein auf 240 Pfund als Honorar einigen, zuzüglich einer Erfolgsprämie von weiteren 60 Pfund. Selbstverständlich dürfen Sie je nach Zufriedenheit auch gern mehr zahlen". Damit streckte er den Kirchenvertretern in freudiger Erwartung seine geöffnete rechte Hand entgegen, während Lukas Svensson zugleich peinlich berührt sein Gesicht in seinen beiden hohlen Handflächen zu verbergen suchte. Zögerlich starrten sich die drei Geistlichen gegenseitig an, schließlich sagte Pastor Shepherd: "Ehrlich gesagt hatten wir uns erhofft, daß Sie, weil doch Weihnachten ist ...". Wannabe zog seine ausgestreckte Hand wieder zurück und nickte nachdenklich: "Aber ja, natürlich. Morgen ist ja schließlich Heiligabend und übermorgen Weihnachten. Und weil das Weihnachtsfest das Fest der Liebe und des Schenkens ist, da dachten die Herren selbstverständlich, wir würden nun auch unsere Dienste verschenken. Was für eine schöne Idee ... Ne, meine Lieben, daraus wird nichts! Nur Bares ist Wahres! Und ob da nun Weihnachten oder Pflaumenpfingsten ist, das juckt einen Geschäftsmann wie mich herzlich wenig. Mir ist es auch egal, ob Sie dafür den Papst persönlich anpumpen müssen oder einfach Ihren Opferstock plündern. Fest steht auf jeden Fall: Entweder Sie zahlen, oder Ihr ganzes weihnachtliches Theater geht ohne uns und damit auch ohne den heißgeliebten Holzkasper über die Bühne. Was mich angeht, ist Weihnachten sowieso nur Humbug!".

Entsetzt schaute Lukas Svensson zur Seite. Da war sie also wieder, die altvertraute Maske des Sarkasmus und Zynismus, hinter welcher Charles Wannabe sich und seine eigene Verletzlichkeit vor seiner Umwelt zu verstecken suchte. Ebenso rasch wie er sie noch kurz zuvor gegenüber ihm endlich einmal hatte fallen lassen, hatte er sie nun wieder aufgesetzt. Seine zutiefst verletzende Spitzzüngigkeit ging sogar noch weiter, indem er - Lukas Svensson hämisch angrinsend - ergänzte: "Tja, da staunen Sie, mein Lieber, wie?! Als ob mir nicht längst klar wäre, daß Sie mit den Herren unter einer Decke stecken! Schließlich sind alle drei Gottesanbeter Ihnen ja keineswegs gänzlich unbekannt - der eine hat sie getraut, der zweite unseren Ex-Chef begraben und der dritte dürfte dann wohl Ihren Enkelsohn Luke getauft haben, wie ich annehme. Und nun machen sich jene drei Weisen aus dem Abendland - mit bürgerlichen Rufnamen Marc, Matthew und John - Ihren heimlichen Star Luke aufsuchend, auf den Weg in unseren eigentlich noch gar nicht eröffneten Ex-Bullen-Stall. Und hoffen tatsächlich, daß sich Klein Charlie von den drei Engeln unter Beigabe von etwas weihnachtlichem Weihrauchgeschwafel die Sinne vernebeln läßt. Der vereinte biblische Evangelisten-Vierer: Matthew, Luke, Marc und John - einfach himmlisch und doch auch leicht durchschaubar. Fehlt nur noch, daß jetzt Ihre dahingeschiedenen Eltern Maria und Josef auf einer Wolke hereinschweben und wir dann alle sieben gemeinsam um unsere sechs hölzernen Stühle herumtanzend zu den Klängen von 'Stille Nacht' die Reise nach Jerusalem spielen ...". Betrübt über Wannabes schwerwiegenden Rückfall in die Rolle des personifizierten Brechmittels erklärte Lukas Svensson, sichtlich um Sachlichkeit bemüht: "Daß sie bei dem Bittgesuch der drei hohen Herren eine Verschwörung mit meiner Person wittern, ist völlig aus der Luft gegriffen, mein lieber Charles - ebenso wie eben jene Wolke, mit der Sie meine toten Eltern unnötigerweise in die ganze Sache hineinziehen. Und wenn Sie sich nur um Ihren eigenen Profit sorgen, so kann ich Sie beruhigen. Ich komme für die gesamten Kosten der Ermittlungen auf, zuzüglich der von Ihnen geforderten Erfolgsprämie und allen weiteren noch anfallenden Spesen. Und nun kühlen Sie gefälligst mal ein wenig Ihr erhitzes Gemüt ab, das bei allem und jedem gleich eine bösartige Intrige gegen die eigene Person wittert. Und dann entschuldigen Sie sich erstmal in aller Form bei unseren Gästen. Ich für meine Person verzichte auf eine derartige Geste, ich kenne Sie ja schließlich schon lang genug, um auch mit Ihren häßlichen Seiten umgehen zu können".

Die kurze, ungewohnt eindringliche Standpauke Svenssons hatte gesessen. Wannabes Blick senkte sich reumütig der hölzernen Dielung des Fußbodens entgegen, und kleinlaut nuschelte schlußendlich sein zuvor so loses Mundwerk: "Na, also wenn das so ist, dann 'Schuldigung allerseits". Ein leichter Hieb traf den Ex-Yardchef im selben Moment in die Seite, und in sein rechtes Ohr raunte Lukas' Stimme leise: "Na bitte, geht doch, Sie oller geldgieriger Stinkstiefel!". Charles Wannabe hob sein gesenktes Haupt ein wenig und schaute zu Lukas herüber, der ihm - trotz des Bemühens um einen strengen Gesichtsausdruck - zuzublinzeln schien. Wannabe blinzelte vorsichtig zurück und knurrte etwas verlegen: "Das 'oller' verbitt ich mir aber, schließlich sind Sie der deutlich Ältere von uns Beiden". Svensson grinste nur: "Ersetzen Sie mal das Wort 'Ältere' durch das adäquate Wörtchen 'Weisere', und ich denke, man kann sich darauf einigen. So, und nun aber genug Süßholz geraspelt, mein Bester. Es gibt für uns schließlich einen Fall zu lösen, unseren allerersten gemeinsamen Fall. Und darum denke ich, sollten wir jetzt unser weiteres Vorgehen abstimmen. Wenn es Ihnen und unseren Klienten recht ist, dann treffen Sie sich mit Pastor Shepherd bei Tagesanbruch vor der Saint Pauls Kathedrale zu einem Lokaltermin. Und was mich angeht, ich hüte derweil hier unser Büro und sorge von hieraus für die notwendige Koordination der Ermittlungen". Lukas Svensson gähnte, während Wannabe zaghaft nickend verkündete: "Ok, einverstanden!". Auch die - ob der Ereignisse der letzten Minuten - noch immer sichtlich eingeschüchterten Geistlichen stimmten mit eindeutigen Auf- und Ab-Bewegungen ihrer mehr oder minder spärlich behaarten Häupter zu.

Die Kirchenvertreter wollten sich daraufhin schon zum Gehen wappnen, als Lukas Svensson sie mit einem beherzten Griff in seine Manteltasche kurzerhand doch noch ein wenig zum Bleiben aufforderte. Er hatte seine sicher verstauten Flitterwochenfotos wieder hervorgeholt und präsentierte sie nun auch den drei Pfarrern. Dazu erzählte er ihnen all die interessanten Erlebnisse, die sich während der Zwischenstops in Europa, Asien, Amerika und Afrika so zugetragen hatten. Die Gottesdiener gerieten dabei immer wieder ins Staunen, und Pastor Grave bemerkte schließlich am Ende der Fotoschau: "Was für eine Reise! Als jemand, der selbst recht wenig in der Weltgeschichte herumkommt, möchte man Sie fast beneiden. Und das nicht nur um Ihre Eindrücke, sondern auch um die Frau an Ihrer Seite, mein Lieber!". Lukas Svensson nickte: "Ja, meine Yelena ist zweifellos das Beste, was mir je passiert ist. Und ich bin froh, daß es sie gibt und daß ich sie mit Gottes Hilfe gefunden habe!". Anerkennend ergriff Pastor Baptist die Hand Svenssons: "Amen! Ein würdigeres Schlußwort für unseren Besuch bei Ihnen kann es wohl nicht geben. Ach Kinder, wie die Zeit vergeht, wenn man sich geistreich miteinander unterhält! So laßt uns denn aufbrechen! Sie Beide stürzen sich jetzt wohl kopfüber in die Ermittlungen, auf mich aber wartet in 7 Stunden bereits wieder ein Täufling und auf meine Kollegen, so weit ich weiß, am heutigen Tage noch vier Hochzeiten und ein Todesfall". Svensson und Wannabe verabschiedeten sich von den geistlichen Würdenträgern, und Lukas begleitete sie anschließend sogar noch bis zur Bürotür. Im Türrahmen drehte sich Pastor Shepherd dann noch einmal zu ihm um und flüsterte: "Gott segne Sie, mein Sohn! Nach allem, was ich gesehen hab, werden Sie es wohl hier an ihrer neuen Wirkungsstätte nicht immer leicht haben! Aber zum Glück haben Sie Ihren ungläubigen Partner ja scheinbar recht gut im Griff". Und an Lukas Svensson vorbeischauend fügte er etwas lauter hinzu: "Also dann, bis nachher, Herr Wannabe. Um 6 Uhr am Haupteingang der Kirche?!". Wannabe winkte dem farbigen Pfarrer zu und sprach: "Ja, genau, und bis dahin sollten die Herren Kuttenträger noch ein wenig schlafen. Besonders Sie, Pater Brown. Sie wissen ja: Wer schläft, der sündigt nicht!". Lukas aber zuckte nur noch einmal müde mit den Schultern und raunte mehr zu sich selbst als zu den bereits vondannen ziehenden Gottesdienern: "Er kann's nicht lassen!" ...

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