INSPEKTOR SVENSSON: WANNABE SVENSSON [Der neue Adventskalenderroman]

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 4 und 5 Uhr am Vortag zum Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt. Alles, was Sie lesen, ereignet sich in Koordinierter Weltzeit UTC.

23.12.2009 - 04:00 UHR

[Lukas verschließt sich einer fragwürdigen Offenbarung, Wannabe eröffnet sich eine aussagekräftige Informationsquelle]

Lukas Svensson hörte im Flur des Erdgeschoßes, wie sich oben die Fahrstuhltüren schlossen und der Aufzug sich daraufhin ruckartig in Bewegung setzte. Zeitgleich vernahm er aber auch von außen ein leichtes Ruckeln am äußeren Türknauf und ein zaghaftes Klopfen an der Haustür in seinem Rücken. Der Ex-Inspektor drehte sich um, begab sich zu der schwarzglänzend lackierten Massivholztür. Er drückte die Klinke kräftig herunter und zog sie zu sich heran. Im Türrahmen erschien die Gestalt jenes jungen Straßenmusikers, der sich noch bis vor kurzem an die Hauswand gelehnt und Saxophon gespielt hatte. Er zitterte und bließ sich mit dem Mund warme Atemluft in die vorgehaltenen, eiskalt gewordenen Hände, während er sein Instrument zwischen den Beinen eingeklemmt hatte. Dazu stotterte er mit einem nordirisch klingenden Akzent: "Darf ich ... ich mich ... mich hier ein bißchen ... bißchen aufwärmen? Draußen ... draußen ist es ... ist es so bitter ... bitterkalt! Bitte!". Svensson nickte: "Aber natürlich junger Mann. Treten Sie näher! Dort hinten in der Ecke neben dem Hintereingang ist eine Bank. Da können Sie sich gern ein wenig ausruhen. Ein Automat für Kaffee und andere Heißgetränke hängt gleich daneben an der Wand. Bedienen Sie sich nur nach Herzenslust!". Der junge Musiker zuckte traurig mit den Schultern und krempelte dann seine leeren Hosentaschen nach außen. Lukas verstand. Er griff in die linke innere Brusttasche seines Trenchcoats und fischte eine Handvoll Münzen heraus, die er dem Frierenden entgegenstreckte. Sein Gegenüber aber schüttelte heftig den Kopf: "Das müssen Sie nicht tun, Sir! Ich bin Ihnen schon dankbar, daß ich diesen Hausflur übergangsweise als Wärmehalle benutzen darf". Lukas ergriff das eiskalte Händchen des am ganzen Leibe zitternden Mannes, öffnete es mit dem seinen - deutlich wärmeren - vorsichtig und ließ die Geldstücke aus seiner anderen Hand sanft hineinpurzeln. Dazu sprach er mit ruhiger Stimme: "Ich möchte es aber. Zum einen, weil sie in Ihrem Zustand etwas Heißes sicher gut gebrauchen können, und zum anderen, weil sie vor einigen Stunden mit Ihrem gefühlvollen Spiel mein Herz erwärmt haben. Im Übrigen bin ich kein Sir, sondern Lukas Svensson. Für meine Freunde ganz einfach Lukas!". Der Nordire lächelte, stopfte sich die Münzen in seine - rasch wieder nach innen gekrempelten - Hosentaschen und griff nun seinerseits nach Lukas Hand: "Sehr angenehm, Lukas! Mein Künstlername ist Coffi Suggar. Im Ausweis steht Martin McFly, und meine Freunde nennen mich schlicht und ergreifend Saxi".

Aus dem Halbdunkel des Flurs tönte es in diesem Moment vom aufgehenden Fahrstuhl her: "Hey, Lukas! Sag bloß Du wolltest schon ohne mich verschwinden?!". Im Eiltempo jagte Timmy mit seinem fahrbaren Untersatz auf den Ex-Inspektor zu. Erst als er schon fast neben ihm mit quietschenden Reifen zum Stehen kam, registrierte er den dritten Mann, reichte ihm - ohne lang nachzudenken - die Hand und sprach: "Mensch, der Saxman von vorhin! Ich bin Timmy! Also, was Dein Spiel angeht, das war echt der Hammer! Wow, da bleibt einem beim Zuhören echt die Luft weg!". Der Saxophonvirtuose grinste: "Ja, beim Spielen manchmal auch! Kannst mich Saxi nennen!". Im Nu entspann sich zwischen Tim Hackerman und dem Musiker eine angeregte Unterhaltung über die verschiedenen Atemtechniken beim Saxophonspielen. Lukas aber stand daneben und lauschte interessiert. Noch nie zuvor hatte er schließlich zwei Männer beobachten dürfen, die sich so ausgiebig und fachmännisch übers Blasen austauschten. Am Ende verabschiedeten sich die Drei wie alte Freunde voneinander. Lukas lud Saxi dabei am kommenden Heiligen Abend zum Krippenspiel in die Saint Pauls Cathedrale ein und zog dann mit Timmy des Wegs, während der Saxophonist sich raschen Schrittes zum Getränkeautomaten begab und dort einen schönen heißen Becher Kaffee mit Zucker ohne Milch zog.

Draußen auf dem Gehsteig bewegten sich Lukas und sein Schützling im langsam schwächer werdenden Nieselregen einige Minuten schweigend nebeneinander her, wobei Timmy den Regenschirm Claudias zu gleichen Teilen über seinen und den Kopf des von ihm begleiteten Ex-Inspektors hielt. Erst als sie vor dem Überqueren einer Seitenstraße an einer roten Ampel halt machen mußten, platzte es aus Tim Hackerman heraus: "Au man, Du ahnst ja nicht, was meine Ohren da oben vorm Büro eben noch alles mitgekriegt haben, als Du schon weg warst. Du hättest nur mal hören sollen, wie Charles Wannabe über seine im Koma liegende Frau sprach!". Lukas Svensson deutete auf die Ampel, die eben auf Grün wechselte, und setzte sich ruhigen Schrittes wieder in Bewegung, wozu er sprach: "Glaub mir, ich hab es gehört. Aus seinem eigenen Mund, kurz nach Mitternacht. Und das ist auch schon alles, was ich wissen muß. Ich geb nicht allzuviel auf heimliches Lauschen oder Hörensagen. Und schon gar nicht, wenn es um Charles Wannabe geht. Der versteckt sich im Beisein anderer nämlich eh immer hinter einem Schutzpanzer, um nur nichts von seinem verletzlichen Innern preiszugeben. Und doch beginnt dieser Panzer langsam aufzubrechen, das ist mir heute klargeworden. Der gute alte Charles ist dabei, sich zu öffnen. Es braucht vielleicht nur ein, zwei Menschen und ein paar neue Erfahrungen in seinem Leben, die ihm dabei helfen". Wieder schwiegen Lukas und Tim sich eine Weile lang an, dann fragte der Svenssonschützling nachdenklich: "Ob Claudia Palmer eine solche Erfahrung für Wannabe sein könnte?". Lukas nickte: "Ich denke schon, so wie die Beiden sich vorhin im Büro angeschaut haben". Timmy grinste: "Die haben noch viel mehr gemacht ...". Lukas aber fiel dem jungen Hackerman ins Wort: "Laß mal gut sein, ich will's gar nicht wissen! Das geht uns nichts an, ist schließlich die Privatsache der Beiden". Verärgert konterte Timmy: "Aber strenggenommen ist Charles Wannabe doch noch verheiratet". Svensson aber erwiderte gelassen: "Stimmt! Aber ich werd mich hier jetzt gewiß nicht als Moralapostel oder Richter aufspielen. Und wäre seine Frau nicht auf der Beerdigung ihres Vaters angeschossen worden, dann wären die Beiden eh längst geschieden. Und Charles Wannabe wäre in all seinen Entscheidungen ein freier Mann. Oder glaubst Du, wenn Janet Wannabe jemals wieder aus dem Koma aufwachen sollte, dann ist sie plötzlich wieder die treusorgende, liebende Ehefrau, die sie schon zuvor nie war. Nein, mein Freund, uns steht da absolut kein Urteil zu! Charles Wannabe muß seinen Weg, mit dieser schwierigen Situation umzugehen, ganz für sich allein finden. Und wir sollten ihn dabei nach besten Kräften zu unterstützen versuchen!". Tim Hackerman schmollte ein wenig. Und so setzten die zwei Männer ihren weiteren Heimweg schweigend fort.

Im kleinen Büro der Detektei im Obergeschoß der Baker Street 221B ging es da zur gleichen Zeit weitaus kommunikativer zu. Charles Wannabe und Claudia Palmer hatten die Glühweinflasche erfolgreich geleert. Und sichtlich angeheitert hauchte die hübsche Sekretärin: "Es hat Dir also gefallen neulich!". Charles strahlte übers ganze Gesicht: "Na klar, das war phantastisch! Das war aber auch ein Zufall. Da überflieg ich bei Deinem Vorstellungsgespräch Deine Bewerbungsmappe und stelle fest, daß die sich stets so gern dahintreiben lassende Laura Deine Mutter und der gute alte Dave Dein Vater ist. Dave Palmer, der Präsident ... der Präsident meines alten Yachtclubs. Und schon hat man ein gemeinsames Interesse entdeckt. Man gerät ins Plaudern und Fachsimpeln, Du lädst mich ein, und schon bin ich mit Dir auf Deiner kleinen Yacht. Ich darf sogar meine Schuhe anbehalten und endlich mal wieder nach Herzenslust in aller Ruhe dem Sonnenuntergang entgegenschippern wie früher auf meiner alten 'Simone'". Dabei griff er hinter sich in einen der Aktenschrankschübe und beförderte ein Stück verkohltes Holz mit der Aufschrift "Sim" zutage. Er streichelte zärtlich über die rauhe Oberfläche, wozu er traurig seufzte: "Ach ja, das ist alles, was mir von ihr geblieben ist". Claudia legte behutsam ihren Arm um seine Schulter und flüsterte: "Ersetzen kann ich Deine 'Simone' natürlich nicht. Aber wenn Du möchtest, kannst Du jederzeit wieder auf meiner 'Giovanni' mitfahren". Das Strahlen kehrte in sein Gesicht zurück, während er voller Dankbarkeit mit seiner Hand die ihre berührte. Dann legte er das verkohlte Holzstück wieder in die Schublade zurück und raunte: "Lassen wir die Vergangenheit ruhn. Es gibt hier und jetzt Wichtigeres für uns. Darf ich Dir mal eine Frage stellen?". Erwartungsvoll nickte Claudia: "Ja, was möchtest Du denn wissen von mir?". Charles Wannabe zögerte kurz, dann fragte er: "Wer ist denn eigentlich dieser Paulus, nach dessen hölzernem Ebenbild ich da im Auftrag der geballten Londoner Kirchengesandtschaft suchen soll?". Claudia Palmer überlegte kurz, dann sprach sie: "Paulus? Der Apostel? Nun, der hat einst laut Bibel als Christenverfolger namens Saulus begonnen, bis ihn sein Weg nach Damaskus führte. Vor dessen Toren ließ ihn ein grelles Licht zu Boden stürzen, und der Geist Jesu erschien ihm und redete mit eindringlichen Worten auf ihn ein. Er erblindete kurzzeitig und gelangte währenddessen zur inneren Umkehr und zum Glauben. Paulus wurde Christ und ein eifriger Missionar. Er bereiste viele Länder und verbreitete dort die Auferstehung des Gottessohnes von den Toten und die christliche Lehre unter den Völkern. Viele Jahre verbrachte er dafür im Kerker, am Ende ist er in Rom womöglich für seine Überzeugung sogar hingerichtet worden". Wannabe hob und senkte seine Schultern nahezu in einem Atemzug: "Ganz schön dämlich, wenn Du mich fragst. Sich für eine derart abwägige Denkweise umbringen zu lassen: Jesus, Gottes Sohn?! Auferstanden von den Toten?! An sowas glauben doch nur naive Spinner, oder?!". Claudia sah ihm betroffen in die Augen: "Na, wenn Du meinst! Ich glaube jedenfalls daran!". Leichte Schamesröte zog in Wannabes Gesicht, wobei er verlegen stammelte: "Oh, das ... das tut ... tut mir leid! Ich wollte Dich nicht ... also Deinen Glauben ... nicht beleidigen. Du bist natürlich kein Spinner". Claudia schmunzelte. Wie süß dieser Mann doch aussah, wenn er in Verlegenheit geriet. Statt ihm böse zu sein, konterte sie schlagfertig: "Ne, wenn schon, dann höchstens eine Spinnerin". Und reumütig ergänzte Charles: "Ja, eine die das Stroh in meinem Kopf vielleicht zu Gold spinnen kann. Damit mein Innerstes am Ende genauso goldig wird wie Dein ganzes Wesen. Schließlich bist Du ja scheinbar nicht nur eine sehr imposante Erscheinung, sondern ein wandelndes Lexikon". Claudia Palmer nickte eifrig: "Das sagt mein Herr Papa auch immer. Und dann tauft er mich jedes Mal scherzhaft in Wiki P. Dia um". Und schon sprudelten aus ihr die abenteuerlichsten und spannendsten Geschichten über sie und ihre Familie heraus. Charles Wannabe aber hing - während Claudia mit großen, strahlenden Augen mithilfe von Händen und Füßen erzählte - die ganze Zeit über wie gebannt an ihren Lippen und dachte bei sich immer wieder: 'Einfach nur himmlisch, was für eine tolle Frau'!

Ähnliche Gedanken schwirrten an anderer Stelle beim Gedanken an seine Yelena auch durch Lukas Svenssons Kopf, als er sich - mit Tim als Schirmherr im Rollstuhl neben ihm herfahrend - über die naßglänzenden Bürgersteige Londons hinweg seinem Wohnhaus langsam immer mehr näherte. Vor der Haustür verabschiedete er sich mit einer festen, freundschaftlichen Umarmung von seinem Schützling und flüsterte ihm dabei ins Ohr: "Danke fürs Heimbringen! Komm gut nach Hause! Und dann bis morgen abend! Du kommst doch zum Krippenspiel, oder?!". Timmy nickte: "Ja, natürlich! Und entschuldige bitte mein etwas kindisches Schmollen!". Lukas aber winkte ab: "Das geht schon in Ordnung, Du bist doch noch jung. Da gibt es eben viel zu lernen. Zum Beispiel, wie man sich jederzeit erwachsen benimmt und natürlich, wie man anderen Menschen eine Chance gibt, indem man sich nicht einfach ein vorgefertigtes Bild von ihnen macht und sie damit vor den Kopf stößt!". Timmy senkte sein Haupt: "Ich verstehe, Sie meinen Mister Wannabe". Lukas aber erwiderte: "Ja, den auch, aber nicht nur ihn. Ich denk da vor allem auch an eine gewisse junge Dame, die Dich vielleicht ja wirklich liebt, auch mit Deinem Handicap. Und der Du sehr weh tust, wenn Du ihr einfach unterstellst, sie habe nur Mitleid mit einem Krüppel. Gib Sabrina eine Chance, oder denk wenigstens mal in aller Ruhe darüber nach! Du wirst es später mit Sicherheit bereuen, wenn Du es nicht tust! Glaub mir!". Tim Hackerman setzte mit seinem Rollstuhl zum Umkehrmanöver in Richtung seines Zuhauses an, wobei er leise bemerkte: "Ok, ich denk mal drüber nach! Gute Nacht und bis morgen, Luke!". Sichtlich zufrieden mit dieser Zusage machte Svensson auf dem Hacken kehrt, zog sein Schlüsselbund aus der Manteltasche hervor und schloß die Haustür auf. Mühevoll erklomm er zu den deutlich vernehmbaren Schlägen Big Bens die unzähligen Stufen des spärlich beleuchteten Treppenhauses und freute sich dabei schon sehnsüchtig auf sein Bett und seine geliebte Yelena ...

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