INSPEKTOR SVENSSON: WANNABE SVENSSON [Der neue Adventskalenderroman]

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 9 und 10 Uhr am Vortag zum Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt. Alles, was Sie lesen, ereignet sich in Koordinierter Weltzeit UTC.

23.12.2009 - 09:00 UHR

[Lukas kann sich so richtig breit machen, Wannabe fühlt sich in die Enge getrieben]

Der Wecker piepte und wurde sogleich von zarter Hand zum Verstummen gebracht. Yelena Svensson, die sorgsam eingehüllt unter ihrer warmen Bettdecke lag, blinzelte verschlafen erst zum Nachttisch hinüber, dann zu der Wölbung der Bettdecke neben ihr, die sich immer wieder im gleichbleibend langsamen Rhythmus hob und senkte und dabei ein intensives Schnarchen von sich gab. Ihr müdes Haupt drückte sich noch einmal fest in ihr Kissen, und dabei blickten ihre Augen in den großen Spiegel an der Decke. Wie sie nur wieder aussah! Ihre Haare waren völlig zerzaust. Ein wohliges Lächeln zog bei der Suche nach der Ursache für diesen Zustand in ihr Gesicht, verursacht von dem erregenden Gedanken, daß noch vor knapp zwei Stunden ihr ganzer Leib ähnlich aufgewühlt gewesen war unter den leidenschaftlichen Zuwendungen, die ihr ihr Lukas hatte zukommen lassen. Ja, man spürte es in solchen intimen Momenten eben immer wieder, daß sich dieser Mann schon von berufswegen mit einer intensiven Leibesvisitation bestens auskannte. Sie hob die Bettdecke über ihrem Körper ein wenig an und lugte in den entstehenden Spalt. Die Hände ihres geliebten Mannes hatten sich scheinbar im Schlaf um ihre Hüfte geschlungen, wo sie nun auf ihrem Bauch in Höhe des Nabels ruhten - ausruhten von ihrem nächtlichen Treiben, bei dem sie ohne Unterlaß von oben bis unten an ihr auf- und abgewandert waren und ihr damit wieder und wieder höchste Wonnen bereitet hatten. Sicher, in dem, was sie beide da des Nachts miteinander unter der Bettdecke angestellt hatten, steckte bei weitem nicht mehr so viel von jenen geradezu akrobatischen Darbietungen ihrer jugendlichen Sturm- und Drangzeit. Umso mehr Wert legten Sie dafür mit den Jahren auf den intensiven Austausch von Zärtlichkeiten und das Erfühlen der Wünsche und Bedürfnisse des anderen. Ihr Lukas war in jeder Hinsicht einfach ihr ganz persönlich fleischgewordener Traum von einem Mann. Bei ihm fühlte sie sich grenzenlos geborgen. In seinen Armen konnte sie sich fallen lassen. Unter seinen Berührungen durfte sie sich gehen lassen und dabei jedes Mal aufs Neue den Gipfel der Leidenschaft erklimmen. Behutsam schlug sie ihre Bettdecke zur Seite und zog ihren nackten Leib unter den Händen ihres Gatten hervor. Dann setzte sie sich auf die Bettkante, wo sie ihren Körper erst einmal ausgiebig reckte und streckte. Schließlich erhob sie sich leise, um ihren Lukas nur nicht zu wecken, und verließ das Schlafzimmer auf Zehenspitzen in Richtung Dusche.

Eine warme Dusche hätte sich auch Charles Wannabe gewünscht, nach jener unfreiwilligen kalten, die ihm der rücksichtlose LKW-Kutscher vorhin beschert hatte. Stattdessen saß er nun in zerrissener Hose und abgewetztem Mantel da, frierend und feucht bis auf die Haut. Wie um Himmels Willen - so dachte er - kann man diesen Zustand nur über längere Zeit aushalten?! Seine Suppe war verspeist und auch den herrlich heißen Tee hatte er längst Schluck um Schluck gänzlich in sich aufgenommen. Wieder trat Pauli zu ihm heran und raunte: "Nun, mein Sohn, geht es Dir jetzt ein wenig besser?!". Charles Wannabe schüttelte den Kopf: "Besser?! Mir ging es wohl noch nie im Leben so miserabel! Und lassen Sie doch bitte endlich dieses 'mein Sohn'. Sie sind doch nicht mein Vater!". Pauli nickte: "Stimmt, aber ich könnte es theoretisch sein! Und vielleicht wäre ich Dir sogar ein weitaus besserer Vater als der leibliche, der Dich nach dem frühen Tod Deiner Mutter immer wie einen Fremden behandelt hat. Ach Charles, was hast Du doch als Kind alles unter seiner Strenge erdulden müssen?! Nicht nur, daß er Dich mithilfe eines unbarmherzigen Hauslehrers von der Schule und dem Umgang mit anderen Kindern gewaltsam ferngehalten hat. Nein, er hat Dir vor allem immer wieder eingebläut, daß Gefühle zu zeigen eine Schwäche ist und daß auf dieser Welt nur Macht und Geld zählen, auch wenn man dabei ohne jeden Skrupel über Leichen gehen muß! Ja, der alte Ebeneezer Wannabe war wahrlich ein echter Tyrann!". Erschrocken war Charles aufgesprungen und hatte dabei das leere Blechnapf und den Plastikbecher umgestoßen, welche er sogleich mit einem wutentbrannten Fußtritt beiseite kickte: "Wer sind Sie eigentlich, daß Sie das alles zu wissen glauben? Wer hat Ihnen das alles verraten?". Pauli, der angesichts Wannabes Wutausbruch sicherheitshalber einen Schritt zurückgewichen war, antwortete ruhig: "Nun, ich hab da einen guten Freund, der Sie von Kindesbeinen an kennt und dabei in Ihre Seele und Ihr Herz hineinzuschauen ...". Wannabe unterbrach ihn zornig: "Aha, dieser miese kleine Psychoheini Siggi, mit dem ich zu Lebzeiten meiner Mutter immer im Sandkasten gespielt und dem ich mich später zu Beginn meiner Ausbildung im Rahmen seiner damaligen Tätigkeit als Polizeiseelsorger einmal anvertraut habe, hat also gequatscht. Und dem hab ich damals vertraut, hab ihn sogar für meinen besten Freund gehalten. Wo ist er? Hat er Sie etwa auf mich angesetzt?". Traurig schüttelte Pauli sein bärtiges Haupt: "Nein, das hat er nicht. Ihr Freund Siggi ist tot. Er starb mit nur 24 Jahren bei dem Versuch, bei einem Großbrand eine Mutter mit ihrem Kind aus den Flammen eines Hauses zu befreien". Charles' Augen bekamen einen glasigen Schimmer. Seine Hände aber ballten sich zu Fäusten, wozu er knurrte: "Geschieht dem elenden Verräter ja auch ganz recht!". Pauli blickte ihn mitleidig an: "Wie kann man sich nur selbst so belügen? Sie wären doch heilfroh gewesen, wenn damals bei dem Anschlag am Picadelly Circus jemand wie Ihr Freund Siggi dagewesen wäre, um ihre Mutter unter dem Wrackteil des explodierenden Busses herauszuholen". Charles Wannabe ging weinend in die Knie, wo er sich in ein wimmerndes Häufchen Elend verwandelte: "Bitte, hören Sie auf damit! Es ist genug! Warum tun Sie mir das an! Ja doch! Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich würde alles dafür geben, wenn ich damals als kleiner Junge nicht wie angewurzelt dagestanden, sondern meine Mutter unter dem brennenden Busteil hervorgezogen hätte. Aber ich konnte es einfach nicht! Ich war einfach starr vor Schreck. Ja, verdammt, es ist so, wie mein Vater immer behauptet hat: Ich bin schuld, daß meine Mutter damals sterben mußte!". Pauli beugte sich zu Charles Wannabe herunter und umschloß den weinenden Mann fest mit beiden Armen: "Was reden Sie da nur, Charles? Sie waren mit ihren sechs Jahren noch viel zu klein, um ihre Mutter befreien zu können. Im Gegenteil: Sie hätten sich nur selbst in Lebensgefahr gebracht. Und das hätte Ihre geliebte Mutter Simone ganz sicher nicht gewollt!". Wannabe schluchzte laut: "Was wissen denn Sie von meiner Mutter?!". Pauli aber wischte Charles die Tränen von den Wangen und sprach: "Nun, ich weiß, daß sie Sie über alles geliebt hat, genau wie auch Sie sie über alles geliebt haben. Ja, sie liebte ihren kleinen Charlybär, der sie des Sonntags in die Kirche begleitete und jeden Abend vor dem Zubettgehen für sich, seine Eltern und seine Freunde zum Vater im Himmel gebetet hat".

Wannabe schaute dem Mann in Schwarz tief in die Augen. Woher nur wußte er das alles? Und als könne sein Gegenüber seine Gedanken erraten, kam als Antwort prompt: "Woher ich das alles weiß?! Nun, ich kenne da wie gesagt jemanden, der damals in den Gottesdiensten Ihrer kleinen Gemeinde immer mitten unter ihnen weilte". Charles Wannabe aber sprach: "Ist mir egal, woher Sie das wissen! Auf alle Fälle hab ich damals erfahren müssen, daß all dieses Beten und der ganze Hokuspokus um Gott und seinen Sohn großer Blödsinn ist! Wo war denn Ihr gnädiger Gott, als meine Mutter umkam und als ich ihn dann in den Wochen danach so dringend gebraucht hätte, um mit diesem Verlust fertig zu werden?". Nun war es Pauli, der seinerseit dem Ex-Yardchef tief in die Augen blickte: "Nur daß sie seine Anwesenheit nicht gespürt haben, heißt doch nicht, daß er nicht da war. Vielleicht konnten und wollten Sie ihn in ihrem Schmerz damals ja gar nicht sehen, wenn er in den unterschiedlichsten Gestalten zu Ihnen kam ... Erinnern Sie sich an den älteren Herrn, der Sie damals am Picadelly Circus an der Hand nahm und nach Hause brachte? Oder an Ihr Kindermädchen, die bezaubernde Jeannie, die sie tröstete, wenn Ihr Vater und der Hauslehrer Sie wieder einmal den ganzen Tag über schikaniert hatten? Oder wissen Sie noch, wie ein gewisser Lukas Svensson Sie mit seinem Mantel zu Boden riß, um Sie so vor der Explosion einer Granate zu beschützen? ... Ich glaube fest daran, daß unser Gott in all diesen Fällen seine Hand mit im Spiel hatte, auch wenn Sie es gar nicht bemerkten. Es gibt da nämlich die schöne Geschichte von dem Mann, der am Ende seines Lebensweges Christus trifft, welcher ihm sagt, er sei die ganze Zeit über bei ihm gewesen. Der Mann blickt hinter sich, und registriert tatsächlich über längere Wegstrecken immer wieder zwei Fußspuren im Sand. Doch werden diesen Abschnitte stets unterbrochen von solchen, wo es nur eine einzige Spur im Sand gibt. Der Mann fragt Jesus nach diesen Abschnitten, und der Gottessohn erklärt ihm, daß das die Lebensabschitte gewesen seien, in denen der Mann es besonders schwer gehabt habe. Und als der Mann ihn vorwurfsvoll fragt, warum er denn gerade in jenen Stunden nicht an seiner Seite gegangen sei, antwortet Jesus: 'Weil ich Dich in diesen schweren Zeiten aufgehoben und hindurchgetragen habe'". Wannabe schaute einen Moment lang nachdenklich zu Boden. Sollte dieser Pfaffe recht haben? Gab es Gott und seinen Sohn vielleicht doch und hatte er ihr Dasein einfach bisher nur verdrängt? Nein, so leicht wollte er dem Gottesdiener dann doch nicht auf den Leim gehen. Und so setzte er rasch zum verbalen Gegenangriff an: "Naja, das kann natürlich wieder nur einer wie Sie sagen, der dieses Glaubenszeug sicher schon mit der Muttermilch eingeflößt bekommen hat?!". Paulis Kopf aber vollführte sogleich eine deutliche Schüttelbewegung: "Mein Lieber, wenn Sie wüßten! Ich hab mich lange Zeit meines Lebens genau wie Sie lustig gemacht über diese geradezu kindische Art des Glaubens. Ich hab mich sogar dagegen zur Wehr gesetzt und bin jeden angegangen, der versuchte, die Botschaft von Jesus Christus irgendwo öffentlich zu verbreiten. Bis zu jenem Tag, da mich mein Unglaube auf recht unsanfte Weise zu Fall brachte. Da begegnete ich Jesus persönlich. Ich hörte ihn zu mir sprechen und mich zur Umkehr auffordern. Da erst bemerkte ich, wie blind ich doch war. Die Augen wurden mir geöffnet, und letztlich konnte ich gar nicht mehr anders, als fortan selbst das Evangelium vom jungfräulich geborenen, gekreuzigten und wiederauferstandenen Gottessohn zu verbreiten. Unzählige Länder hab ich auf dieser Mission bereist und vielen Menschen zum Glauben verholfen - nicht durch Zwang, sondern durch das anschauliche Vorleben von Nächstenliebe und Vergebung, wie sie mir seither auch selbst immer wieder aufs Neue widerfährt ... Aber keine Sorge, ich will Sie hier nicht missionieren, Charles Wannabe! Ich möchte Ihnen vielmehr meine Hilfe bei Ihrer Suche anbieten". Damit streckte er dem frischgebackenen Privatdetektiv seine Hand entgegen, welche Charles Wannabe nach kurzem Zögern letztendlich auch ergriff.

Mühsam erhob sich Wannabe mit Paulis Hilfe wieder und klopfte sich den Staub von den feuchten Kleidern. Dazu raunte er leise: "Also gut, ich nehme Ihre Hilfe an, Mister Pauli". Pauli schmunzelte: "Niemand nennt mich Mister Pauli. Alle nennen mich ganz einfach Pauli oder aber bei meinem Vornamen John. Der hat mir gemeinsam mit meinem Geburtsdatum, dem 16.März, übrigens auch den Spitznamen John 3-16 eingebracht, müssen Sie wissen!". Henry Fist trat in diesem Moment aus dem knappen Dutzend der versammelten Obdachlosen hervor und unterbrach die beiden Männer in ihrem gerade erst in Gang kommenden Dialog, indem er gegenüber Pauli feststellte: "Ich muß los! Um 10 Uhr hab ich einen Termin beim Sozialamt, vielleicht gibt es ja diesmal zur Abwechslung wenigstens einen Gelegenheitsjob als Abfallaufleser im Hyde Park für mich". Er reichte Pauli die Hand, die dieser sogleich fest umklammerte und ihm dabei Mut zusprach: "Ich drück Ihnen ganz fest die Daumen, Henry! Melden Sie sich doch bitte bei mir, wenn es geklappt hat. Wenn nicht natürlich auch! Der Ex-Bischof, Diane und ich stehen Ihnen rund um die Uhr zur Verfügung, wenn Sie jemandem mal ihr Herz ausschütten wollen". Henry Fist bedankte sich, zog sich ein paar verschlissene graue Handschuhe über die eisigen Finger und stapfte vondannen. Charles Wannabe sah ihm nach und sprach anerkennend: "Ein interessanter Mann. Schon beeindruckend, wie er trotz aller Widrigkeiten nicht klein beigibt. Gibt es für ihn und all die anderen armen Leute hier denn eigentlich keine angemessenere Unterkunft?". Pauli sah Charles Wannabe verwundert an und erklärte schließlich mit einem Hauch von Zynismus: "Klar doch, es gibt ja schließlich genug Obdachlosenasyle und Zellen im Knast, wo er und seinesgleichen herumlungern können, oder?! Und wenn er sich hier draußen in der bitteren Kälte am Ende den Tod holt, was geht Sie das an?! Vielleicht ist das ja am Ende sogar die einzige Möglichkeit, der ständig wachsenden Überbevölkerung auf unserem Planeten erfolgreich zu begegnen ... Das waren doch Ihre Worte, oder, Charles?!". Wannabe erinnerte sich natürlich nur allzu gut an seine Unbeherrschtheit im Zusammentreffen mit jenem nordirischen Saxophonisten vor einigen Stunden. Doch woher um alles in der Welt wußte dieser John Pauli schon wieder davon? Ob er wirklich Gedanken zu lesen vermochte? Wie dem auch sei, es war Charles Wannabe peinlich, daß er sich so daneben benommen hatte. Und so wich er dem Blick des Geistlichen vor ihm aus, indem er sein Augenmerk wieder auf die jammervollen zehn Gestalten richtete, die in einigen Metern Entfernung im Schutz eines Brückenpfeilers die wärmende Metalltonne umlagerten. Ihm wurde dabei schlagartig bewußt, daß er den kleinen Cedrick seit dem ersten Zusammentreffen mit Pauli ganz aus den Augen verloren hatte. Wo steckte der Junge denn? Er würde doch wohl keine Dummheiten machen? Charles Wannabe war selbst am allermeisten erstaunt über diese Gedanken? Was war denn in ihn gefahren? Was scherte ihn denn dieser kleine Stromer? Er kannte den Jungen doch grad erst seit gut einer Stunde. Und nun machte er sich schon ... ja, tatsächlich, das waren Sorgen, die er sich um den Jungen machte. Und so ließ er Pauli ganz einfach stehen und begann, nach Cedrick Ausschau zu halten.

Es dauerte eine Weile, dann erblickte er den krausen Lockenkopf des Jungen auf dem Kutschbock des Pferdewagens, wo er hockte und sich gerade den linken Ärmel des Wollpullis hochkrempelte. Erleichtert lief Charles ein paar Schritte auf ihn zu, als er plötzlich schockiert stehenblieb. Der Knabe hielt in seiner Rechten eine aufgezogene Spritze und war dabei, sich diese mit voller Wucht in den Arm zu rammen. Charles Wannabe sprang mit ein paar Sätzen auf den Kutschbock, wo er dem Jungen die Spritze entriß und ihn dabei mit hochrotem Kopf anschrie: "Bist Du eigentlich von allen guten Geistern verlassen, Dir dieses Zeug einfach so in den Körper zu jagen?". Cedrick aber erwiderte sichtlich überrascht: "Ey Alter, was ist nur in Dich gefahren? Solltest mal Deinen Blutdruck checken lassen. Ich brauch das Zeug, also gib es mir bitte wieder zurück! Ohne den Stoff gehts mir nämlich ziemlich schnell ziemlich dreckig!". Erwartungsvoll streckte er seinen entblößten Arm aus, aber Charles Wannabe sprach mit versteinerter Miene: "Du weißt doch gar nicht, was dieses Dreckszeug aus Dir machen kann. Du ahnst ja nicht, wie oft ich als Polizist halbe Kinder wie Dich mit einer Plane zugedeckt gesehen hab, die Arme förmlich durchlöchert, die Lippen blau, die Augen leer. Diese verdammten Drogen sind nie eine Lösung. Der süße Rausch ist nur von kurzer Dauer, und der Preis, den Du dafür zahlst, ist einfach zu hoch. Das Teufelszeug zerstört Dich nämlich ganz langsam und wird Dich letztlich todsicher umbringen! Glaub mir! Du brauchst den Dreck nicht! Wir finden gemeinsam eine bessere Lösung, das versprech ich Dir! Wo hast Du das Zeug überhaupt her?". Cedrick verfiel in schallendes Gelächter, während die Stimme der engelhaften Diane aus dem Hintergrund vermeldete: "Er hat die Spritze von mir bekommen. Geben Sie sie ihm bitte wieder zurück! Sein Leben hängt daran!". Charles Wannabe traute seinen Ohren kaum. Wutschnaubend schrie er: "Seid Ihr denn alle verrückt! Einen kleinen Jungen mit Drogen vollpumpen. Ihr seid keine helfenden Engel, Ihr seid elendige Dealer! Ich laß Euch einsperren, Ihr Mörder!". Die restlichen Obdachlosen standen inzwischen - von Charles' Geschrei angelockt - mit grimmigen Mienen in einer Traube um den Kutschbock des Planwagens herum, so daß Charles Wannabe quasi von ihnen eingekesselt war. Pauli aber trat nun zwischen ihnen hindurch von hinten an Charles heran, entwendete ihm kurzerhand die Spritze und gab sie an den kleinen Cedrick zurück, der sich die Nadel sofort in den Oberarm versenkte und sich dann in aller Seelenruhe mit geschlossenen Augen den flüssigen Inhalt injizierte. Und Pauli, der in dieser Sekunde ein schweres Brecheisen vom Kutschbock zur Hand nahm, sprach mit ruhiger Stimme zu Wannabe: "Ach Charles, daß Ihnen aber auch immer gleich die Pferde so durchgehen müssen. Glauben Sie mir, hier wird keiner eingesperrt. Wenn Sie mich mal für einen Moment unter die Plane der Ladefläche unseres Wagens begleiten würden?!". Charles Wannabe aber ergab sich vor der offensichtlichen Übermacht der Gegenseite in sein Schicksal. In dem Bewußtsein, daß nun wohl die letzten Sekunden seines Lebens angebrochen sein dürften, verabschiedete er sich in Gedanken von seinem Partner Lukas Svensson und bedauerte es ein wenig, daß er nun keine Gelegenheit mehr haben würde herauszufinden, ob aus ihnen beiden vielleicht doch noch Freunde hätten werden können. Auch mit Claudia hätte er gern noch mehr Zeit verbracht. Und ganz im Stillen hoffte er noch, daß es doch so etwas wie einen Himmel geben würde, wo er nun endlich seine geliebte Mutter Simone wiedertreffen würde.

In der Svenssonschen Wohnung hatte Yelena inzwischen längst ihre heiße Dusche beendet und danach ihren Körper ausgiebig abgetrocknet und eingecremt. Auf Makeup verzichtete sie dabei weitestgehend - Lukas liebte schließlich ihre pure, natürliche Schönheit trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Fältchen, die das Alter nun einmal so mit sich brachte. Sie hatte sich stattdessen in ihren blumigbunten Seidenmorgenmantel gehüllt und in der Küche Kaffee für sich und ihren Lukas angesetzt. Ganz nebenbei aber war sie auch schon mit der Zubereitung eines geradezu festlichen Mittagessens beschäftigt. Im eingeschalteten Küchenradio liefen gerade noch die letzten Takte von Sara Brightmans "Time To Say Goodbye", wonach eine hauchdünne Frauenstimme verkündete: "RADIO AKTIV 201.5 - Der Supergau für Ihre Ohren. In wenigen Minuten ist es zehn Uhr. Die Wetterfrösche klappern mit ihren Schenkeln, und das ausnahmsweise mal nicht, weil sie von ihren französischen Chefs in die Pfanne gehauen werden sollen. Nein, das Schenkelklopfen rührt vielmehr von den eisigen 2 Grad unter Null her, die wir momentan hier im Herzen Londons messen. Übrigens verrät die neuste Statistik der Polizei, daß bei solchen unterirdischen Temperaturen nicht nur viele Menschen draußen auf der Straße erfrieren, sondern daß außerdem auch die Neigung zu Gewaltverbrechen deutlich zunimmt. In diesem Sinne: Wenn Sie heute rausmüssen, dann passen Sie gleich doppelt auf sich auf! Und damit gebe ich auch direkt ab zu den Nachrichten zur vollen Stunde" ...

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