INSPEKTOR SVENSSON: WANNABE SVENSSON [Der neue Adventskalenderroman]

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 18 und 19 Uhr am Vortag zum Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt. Alles, was Sie lesen, ereignet sich in Koordinierter Weltzeit UTC.

23.12.2009 - 18:00 UHR

[Lukas begegnet Charles, Wannabe trifft auf Svensson]

Lou Cypher hatte inzwischen sein Ziel erreicht, und das gleich im doppelten Sinne. Zum einen war er mit seiner Limosine bei seinem Kellerversteck angelangt, zum anderen hatte er seinen heißbegehrten Atomexperten Henry Fist völlig eingeschüchtert und willenlos hinter sich auf dem Rücksitz hocken. Und so stieg er breitgrinsend aus dem Auto und öffnete seinem Gast die Hintertür, wozu er sprach: "Nur herein, mein Lieber, in die gute Stube. Geh nur vor, Du kennst den Weg ja sicher noch!". Vom Scheitel bis zur Sohle ausgestattet von Lou Cypher entstieg Henry Fist dem Wagen und machte sich auf wackligen Beinen über den Hauseingang und die dahinter befindliche Treppe auf den Weg hinab in den Keller. Er mußte dabei jetzt in der Dunkelheit noch mehr als vorher am Tage auf seine Schritte achten, um nicht ins Stolpern zu geraten und dadurch zu Fall zu kommen. So dauerte es einige Minuten, bis er sich zur Eingangspforte des Kellerlochs vorgetastet hatte, die - der ihm nachgehinkte - Lou Cypher auch sofort aufschloß. Da war er nun also wieder - in der dunklen Höhle jenes Unholds, der im Begriff war, gemeinsam mit ihm und seinen anderen Geschäftspartnern die Erde mitsamt der auf ihr lebenden Menschheit zu vernichten. Cypher schloß die Eingangstür wieder hinter sich ab, wie er es schon beim ersten Besuch Fists getan hatte, nur diesmal machte er vor seinem Gast daraus keinen Hehl mehr. Dann schlich er sich ganz dicht an Henry vorbei und setzte sich sogleich vor sein Netbook, das er in Windeseile hochfahren ließ, um dann direkt das ICQ-Programm zu starten. Der Ton des Nebelhorns verkündete seine Anwesenheit im Netz der unbegrenzten Kommunikation, und rasch gesellten sich ihm über seine Kontaktliste auch wieder PreMount und DCALive hinzu. Die beiden Herren fragten an, wie alles gelaufen wäre, und Cypher teilte ihnen mit, daß der besagte Experte nun zugegen sei. Dazu zerrte er den noch immer wie angewurzelt dastehenden Fist näher zu sich heran, so daß er direkt vor dem Netbook mit der oberhalb des Bildschirms eingebauten Webcam zu stehen kam. Der Hinkefüßige drückte ein paar Tasten, und schon war die bibbernde Gestalt des weinrot gekleideten Fist auch auf dem Bildschirm zu sehen. Vonseiten der beiden Kontakte zeigte man sich sehr beeindruckt über die imposante Erscheinung der fremden Herrn, dem Cypher in diesem Augenblick im Hintergrund - von der Kamera gänzlich unbemerkt - die rauhe Pranke aufs Gesäß packte. Der arme Henry kniff in seiner Angst die Augen wie auch seine Hinterbacken fest zusammen und ließ den ihm unangenehmen Übergriff über sich ergehen, während seine Nase an seinem Peiniger abermals einen leichten Schwefelgeruch wahrzunehmen glaubte. Mit den Fingern seiner freien rechten Hand hämmerte Cypher alias LordDeVil vor Fists zusammengekniffenen Augen noch so einiges an Botschaften und Anweisungen in die Tasten, schließlich auch seine letzte und alles entscheidende Nachricht an seine beiden Komplizen. Und während Henry einmal ganz kurz blinzelte, konnte er erkennen, was dort geschrieben stand: "Den genauen Starttermin unserer Aktion 'Final Countdown' finden Sie hier: 010-120150-006". Krampfhaft versuchte Henry Fist, jene mysteriöse Zahlenkombination am Ende im Innern seines Schädels einzumeißeln, wozu er sie in Dreiergruppen zerlegte ... 010-120-150-006. Wieder und wieder wiederholte er im Geiste diese Zahlengruppen, gerade so, als hänge sein Leben davon ab. Und wenn die Kombination tatsächlich auf den Starttermin des geplanten nuklearen Erstschlags verwies, dann war dem ja auch so - dann hing womöglich nicht nur sein Leben, sondern das der gesamten Menschheit davon ab. Lou Cypher beendete abrupt den Chat, indem er sein Netbook kurzerhand zuklappte, um sich nun wieder ganz seinem unfreiwilligen Gast zu widmen. Mit süßlich verstellter Stimme säuselte er: "Es ist an der Zeit, mit Dir gemeinsam unser Vorgehen ein wenig ausführlicher zu besprechen, wozu wir es uns vielleicht etwas bequemer machen sollten. Ich hab uns vor meiner Abfahrt vorhin noch rasch den Bollerofen angefeuert. Spürst Du, wie warm es hier drinnen schon ist. Geradezu höllisch heiß, nicht wahr?!". Henry Fist spürte nichts, er wollte nichts mehr spüren. Verbissen dachte er an die geheimnisvolle Zahlenkombination. Nur an sie und an nichts anderes mehr. Er nahm dabei nicht wahr, wie Cypher ihn brutal am Arm packte und ihn mit sich in einen der vielen schmalen Nebenräume zu einer, auf dem Boden ausgelegten Matraze schleifte, wie er ihn dort niedersinken ließ und ihn dann langsam Stück um Stück entkleidete, um sich schließlich - ebenfalls aller Hüllen und Hemmungen entledigt - neben ihn zu legen und den herben, angstschweißigen Geruch, der Fists ganzen zitternden Körper überzog, tief in sich aufzunehmen.

Auch Tim Hackerman war mit seinem Rollstuhl inzwischen in einem Keller angelangt, nur daß es hier nicht nach Schwefel roch, sondern nach Arbeit. Emsiges Treiben beherrschte klar erkennbar jenen Kellerraum gegenüber der Personalabteilung, an dessen sperrangelweit aufstehender Tür ein Schild mit der Aufschrift "T01 Technische Abteilung" angebracht war. Ein junger Mann stürmte gerade eben durch jene Tür aufs Treppenhaus zu und hätte dabei fast Timmy mitsamt seinem Rollstuhl über den Haufen gerannt. Einen Moment lang stand der Jüngling in seinem Blaumann wie angewurzelt da, dann aber klatschte er sich mit der rechten Handinnenfläche vor die Stirn und rief: "Na, wenn das nicht der Timmy ist - seinerzeit Jahrgangsbester im St.Matthews College! Womit er nicht nur leistungstechnisch einen gewissen Tom S. Edison in den Schatten stellte, sondern auch all die hübschen Mädels abgriff! Immer dabei, wenn irgendwo was los war! Und stets bis weit nach Mitternacht noch auf den Beinen ...". Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß Tim in einem Rollstuhl vor ihm hockte, und so stammelte er: "Oh, entschuldige! Ich wußte ja nicht ... ich meine ... blöder Spruch ... das mit den Beinen und so!". Verlegen schaute der Blaumannträger zu Boden. Tim aber schlug ihm voller Freude auf die herabhängende Schulter und sprach: "Mensch, Tom! So ein blöder Spruch ist doch noch lange kein Beinbruch! Und der fahrbare Untersatz hier macht mich auch nicht zur bedauernswerten Jammergestalt, sondern eher zum heißen Flitzer. Oder kannst Du etwa mit Deinem Dienstwagen bis direkt ins Büro fahren?!". Tom grinste und antwortete dann - wie es seit der Schulzeit sein Markenzeichen war - mit einem einfachen, extra langgezogenen "Ähhh, nööö!". Nun schmunzelte auch Tim. Und seine Hand der Einfachheit halber auf Toms Schulter belassend, fragte er: "Sag mal, Kumpel, was ist da drin bei Euch eigentlich grad los?!". Tom druckste ein wenig: "Naja, Timmy, eigentlich darf ich darüber nicht reden, wegen der Geheimhaltung, weißt Du?!". Timmy nickte: "Ach ja, die Geheimhaltung! Die gleiche Geheimhaltung, durch die von mir bis heute noch kein Mensch erfahren hat, wer Rita Woolworths Schlüpfer in der achten Klasse gegen den Union Jack auf unserem Schulgebäude ausgetauscht hat?!". Toms Gesicht bekam erst eine blasse, dann eine recht gesunde rote Farbe, wozu er hinter vorgehaltener Hand leise zu flüstern begann: "Ok, das ist so: Sir Douglas hat einem Odachlosen namens Henry Fist einen Peilsender in die Schuhe schieben lassen, um ihm dann zu dem Versteck eines gewissen Lou Cypher zu folgen. Dieser Cypher soll nämlich planen, mittels gezielter gleichzeitiger Nuklearschläge weltweit die gesamte Menschheit auszurotten. Leider ist die ganze Sache schiefgelaufen. Erst verlor der Fahrer von unserm Chef den Wagen mit Cypher und Fist aus den Augen, dann hat Fist den Schuh mit dem Peilsender aus dem fahrenden Auto auf die Straße geworfen - ob freiwillig oder unter Zwang, weiß kein Mensch. Fakt ist: Henry Fist ist spurlos verschwunden, und das Versteck dieses Cypher weiterhin unbekannt. Tja, sieht nicht gut aus für den Alten, zumal er bei der Gefährdungslage den Fall längst hätte an den CI7 abtreten müssen. Wenn das dieser Amerikaner Jack erfährt, der wird den Boß glatt teeren und federn, wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was man über den so hört. Bin ja schon mal gespannt, wie dieser aalglatte Hund Douglas sich da wieder rauswinden wird! Der Powerich, der hat ihm jedenfalls vorhin bei der Einsatzbesprechung ordentlich die Meinung gegeigt. Dafür hat ihn Douglas allerdings dann auch gleich achtkantig rausgeschmissen. Und falls Du wissen willst, was ich und die Jungs hier jetzt tun?! Wir suchen praktisch die Nadel im Heuhaufen ... Aber sag mal, willst Du uns nicht ein wenig beim Auswerten der Aufzeichungen der unzähligen Überwachungskameras, die überall auf den Straßen Londons angebracht sind, helfen. Da kommt schließlich jede Menge Arbeit inklusive schlafloser Nächte auf uns alle zu". Timmy aber winkte nur müde ab: "Ne Du, laß mal, ich hab da heute abend schon was Besseres vor!". Und während er seinen Rollstuhl rasch wendete und dann in Richtung Lift davonfuhr, rief ihm sein alter Bekannter noch schmunzelnd nach: "Ich weiß schon, was Du meinst, Du alter Schürzenjäger!". Timmy aber raunte im Angesicht des vor ihm eintreffenden Fahrstuhls leise: "Das glaub ich kaum, daß Du das weißt!".

Alles, was sein alter Freund Lukas Svensson im Moment wußte, war, daß er gleich wieder seinen neuen Lieblingssatz aufsagen würde: "Gestatten, Sherlock Holmes!". Er stand nämlich in dieser Sekunde gemeinsam mit Claudia wieder unten vor der Haustür des Gebäudes 221B Baker Street, aus dessen Flur ihm nun die klar erkennbare Melodie von "Auld Lang Syne" - kunstvoll gespielt auf einem Saxophon -. entgegenschall. Bedächtig grub Lukas sich auf der Suche nach seinem Schlüsselbund mit beiden Händen durch seine reich gefüllten Manteltaschen. Auch Claudia durchforstete ihre Handtasche, aber ohne Navi war da eh selten etwas zu finden. Schließlich gab Lukas seine Suche auf und pochte stattdessen mit den dadurch wieder frei gewordenen Händen leicht gegen die Haustür. Drinnen verstummte das gespielte Instrument, und ein paar Schritte näherten sich rasch der Tür, die im nächsten Moment von innen her weit aufgerissen wurde. Im Türrahmen aber erschien Wannabe und rief freudestrahlend: "Nur herein, wenn's kein Svensson ist ... Oh pardon, Schmusekätzchen und Trenchcoatfetischisten müssen leider draußen bleiben! ... Ne, im Ernst! Immer reinspaziert! Freut mich, Sie endlich wiederzusehen, Partner! Sie ahnen ja gar nicht, was ich in der Zwischenzeit alles erlebt hab, während sie Ihr 14-Stunden-Nickerchen machten. Also da war zuerstmal der Saxi hier, den ich fast umgerannt hab und der mir dafür das Blasen beibringt. Haben Sie eben gehört, wie ich gespielt hab? Wahnsinn, oder?! Ach und dann waren da noch der Pauli und Diane, ein echter Engel, aber dennoch natürlich kein Vergleich zu unserer unvergleichlichen Claudia. Und da war dieser Junge Cedrick, auch als Mike L. Jag's Sohn unterwegs - das ist vielleicht ein Früchtchen, aber auch ein herzensguter Kerl. Überhaupt alles herzensgute Leute, die da unter der London Bridge campieren. Und darum hab ich sie auch alle zu mir eingeladen zum Weihnachtsessen. Ok, dann war da noch der Herr Butler, der aber gar kein Butler ist, sondern der Hausherr am Eaton Place. Und bei dem wohnt der Alfred, von dem ich dachte, er wolle mir an die Wäsche. Dabei hat der mich ja nur auf ein Loch in der Hose hinweisen wollen. Naja, bei dem Pauli dacht ich dann ja auch, der dealt mit Drogen, dabei war das nur Insulin. Und die Suppe, das Brot und der Tee, die der ausgeschenkt hat, einfach sagenhaft. Und was der alles von mir wußte. Am Ende hat er mir sogar seinen Pferdeschlitten leihweise überlassen, den draußen vor der Tür, mit dem wir zuvor diesen Henry Fist ...". Wannabe stockte in seinem Redefluß. Sein Gesicht bekam plötzlich einen sehr ernsten Ausdruck, wozu er sprach: "Ach ja, das ist schrecklich! Dieser arme Henry hat da einen Lou Cypher getroffen, der mit seiner Organisation die gesamte Menschheit auslöschen will. Mit Atomraketen, die sich vermutlich sogar schon in seinem Besitz befinden. Ich hoffe inständig, daß unser neuer Yardchef in der Sache rasch weiterkommt, so daß man diesen Cypher und seine Bande dingfest machen und aus dem Verkehr ziehen kann ... Oh, verzeihen Sie, Lukas, ich laß Sie ja gar nicht zu Wort kommen! Wie ist es Ihnen denn mittlerweile ergangen? Und wo kommen Sie jetzt eigentlich mit meinem ... äh unserem Fräulein Claudia her?!". Lukas, der das Gerede von Charles Wannabe und dessen damit einhergehende neugewonnene Liebenswürdigkeit erst einmal verdauen mußte, schwieg zunächst, dann aber erklärte er kurz und knapp: "Ich war mit Claudia noch einmal bei Leon Ardo. Und der hat uns auf eine ganz neue Spur gebracht, ein Mädchen im Rollstuhl namens Lilly ...".

Von hinten fiel ihm Claudia Palmer ins Wort, die - leicht ihr Näschen rümpfend - einwarf: "Was um alles in der Welt stinkt denn hier so? Ist das etwa dieses Hundetier, das mir gerade mein Bein abschleckt?". Wannabes schmuddlige Finger reckten sich aufgeregt in die Höhe: "Ich glaube, der kleine Stinker bin wohl eher ich. Und was den Hund angeht: Der heißt Vierbein, gehört zu mir und hat scheinbar einen exzellenten Geschmack, wenn es um Frauen geht - wenn Du mich fragst, Claudia!". Das versteckte Kompliment Wannabes ließ Claudia auf der Stelle erröten. Stattdessen meinte Svensson grinsend: "Da ist unser Charlie also nun ganz und gar auf den Hund gekommen. Und statt einer dezenten Note von Boss oder Old Spice, umweht ihn nun wahrhaft ein Hauch von billigem Eau de Toilette! Aber was am verrücktesten ist: Ihm scheint das sogar noch zu gefallen! Ich wußt es ja immer! Halleluja, es geschehen auf dieser Welt doch noch Zeichen und Wunder!". Charles Wannabe schmunzelte kurz, gab dann aber sogleich zu bedenken: "Nun ja, so ganz freiwillig ist mein Aufzug und der mit ihm verbundene Geruch ja nun auch wieder nicht. Ich hatte da neben all den tollen Momenten heute eben schon auch ein paar weniger schöne! Und zum Duschen und Umziehn bin ich bislang leider noch nicht gekommen. Wüßtet ihr Beide nicht vielleicht eine Möglichkeit, wo ich mich duschen und mir anschließend was Ordentliches überziehn könnte?!". Wieder meldete sich aus dem Hintergrund Claudias süße Stimme zu Wort: "Also duschen kannst Du bei mir zuhause, Charles. Ich hab da sogar eine Badewanne, die ist vielleicht in Deinem Zustand eh angebrachter. Und Deinen kleinen Dreckspatz Vierbein nehmen wir gleich mit zum Baden, würde ich sagen!". Damit packte sie Charles Wannabe kurzerhand am Arm und zog ihn mit sich zu ihrem Auto, mit dem die Beiden samt dem noch rasch herangerufenem Hund umgehend davonfuhren. Lukas Svensson aber blieb mit Saxi allein zurück und sprach zu dem Musiker: "Und wir Zwei, wir gehen jetzt nach oben ins Büro. Da können Sie sich dann noch ein wenig aufwärmen und ausruhen, während ich die Ubahn nehme, um am Eaton Place rasch noch einer weiteren Spur nachzugehen. Aber zuerst mal zaubere ich uns noch einen schönen heißen Grog nach schottischer Art. Fließend Wasser und einen Wasserkocher haben wir oben, und wo der alte Haudegen Wannabe seine eiserne Whiskeyreserve versteckt hat, weiß ich auch!".

Im ehemaligen Gebäude der ostdeutschen Botschaft im Herzen Londons, in dem sich nun schon seit einigen Monaten das neue Hauptquartier der britischen Antiterroreinheit CI7 befand, saß ein großer, durchtrainerter Mann mit kurzgeschnittenem Haar hinter seinem Schreibtisch und studierte eine vor ihm liegende Akte, die das Protokoll einer soeben getätigten Aussage enthielt. Immer wieder versah er die breiten Ränder der einzelnen Aktenblätter mit handschriftlichen Notizen, wobei ihm bei dem Gelesenen mehrfach ein lautes "Verdammt!" enthuschte. Kaum hatte er alles gelesen, da betätigte er an seinem Telefon erst die Freisprechtaste und dann die Kurzwahltaste mit der Nummer 0, die ihn direkt zu seiner Vorzimmerdame durchstellte. Sich dicht über den Telefonapparat beugend aber sprach er sogleich mit aufgeregter Stimme: "Chloe ... äh, Verzeihung, Clara, schicken Sie mir bitte unverzüglich diesen Herrn nach oben, der momentan noch in Vernehmungszimmer 24 sitzt! Danke!". Daraufhin bewegte er seinen Zeigefinger zu der Taste mit dem roten Hörersymbol, um damit die Verbindung zu beenden, als ihm die Stimme seiner Sekretärin entgegenschallte: "Ach, Sir, ich hab da noch einen Gast in der Lobby sitzen, der möchte zu Ihnen. Er meinte zu unserem Mann da unten, man solle Ihnen einfach nur die Stichworte 'Videokonferenz' und 'Redemption' übermitteln, sie wüßten dann schon, um wen es sich handelt". Eine Sekunde intensiven Nachdenkens verstrich, dann aber vermeldete der kurzhaarige Mann hinter seinem Schreibtisch: "Alles klar, lassen Sie ihn raufschicken!". Mit diesen Worten beendete er die Verbindung zum Vorzimmer per Tastendruck und sprang dann hocherfreut hinter seinem Schreibtisch hervor, um seinen Gast höchstpersönlich an der Bürotür in Empfang zu nehmen. Endlich kam mal wieder ein wenig Leben in die Bude! Zu lang schon war er tagein tagaus nur mit dem Wälzen von Akten und Absegnen von Vorgängen beschäftigt, statt draußen auf der Straße selbst dem Terror zu Leibe zu rücken, wie es seinem Wesen entsprach. Er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster seines Büros. Die Lichter der Großstadt gaukelten dem ahnungslosen Betrachter ein verträumtes Städtchen mit einer imposanten Skyline und netten, freundlichen Menschen vor. Aber irgendwo da draußen saß er, sofern man dem Bericht in der Akte auf seinem Tisch Vertrauen schenkte - er, der Staatsfeind Nummer 1. Die startbereiten Atomraketen in der Hinterhand und allerhand lichtscheues Gesindel in seinem Dunstkreis um sich gescharrt, wartete er nur auf seine Chance zum Angriff. Zum blutigen Angriff gegen Freiheit, Demokratie und den Weltfrieden. Nur mutige Menschen wie er, die bereit waren, im Kampf gegen diesen unsichtbaren Feind letzten Endes alles zu riskieren, auch ihr eigenes Leben, konnten diesen skrupellosen Gegner am Ende erfolgreich zur Strecke bringen. Dank durften sie dafür freilich kaum erwarten. Oft stocherten sie dazu bei ihren Ermittlungen allzusehr in einem tiefen Sumpf aus Korruption und Vertuschung herum, der nicht selten bis in die obersten Schaltzentralen weltlicher Macht hineinreichte. Von dort aus pflegte man Leuten wie ihm dann auch nach dem Leben zu trachten und mit ihnen auch denjenigen, die sie liebten und die ihnen wichtig waren. Ewig mußte man sich verstecken, ständig war man vor irgendwem oder vor irgendetwas auf der Flucht. Und am Ende stand man immer wieder allein da, ganz allein. Ein leises Klopfen riß den ins Leere Starrenden aus seinen dunklen Gedanken. Er rief "Herein!", und durch die aufgestoßene Tür kam mit leisem Surren ein Rollstuhl auf ihn zugerollt, dessen Insasse sprach: "Es ist mir eine Ehre, Ihnen endlich einmal von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten zu dürfen, Sir! Mein Name ist Tim Hackerman, aber Sie dürfen mich ruhig Timmy nennen!". Der sichtlich beeindruckte Mann hielt dem jungen Hackerman seine Hand entgegen und verkündete dazu gerührt: "Angenehm, Timmy! Und ich bin ...". Timmy aber unterbrach ihn, indem er schmunzelnd ausrief: "Ja, ich weiß, wer und was Sie sind! Mein Freund Lukas wird ja schließlich nicht müde, es einem wieder und wieder aufs Brot zu schmieren. Sie sind ... der Große Bauer! Wer ihn hat, hat's gut!" ...

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