INSPEKTOR SVENSSON: WANNABE SVENSSON [Der neue Adventskalenderroman]

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 18 und 24 Uhr am Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt. Alles, was Sie lesen, ereignet sich in weihnachtlicher Zeit.

24.12.2009 - 18:00 UHR

[Lukas findet einen Beweis, Wannabe macht ein paar unerhörte Entdeckungen]

Majestätisch erhob sich St.Pauls Cathedral mit ihren zwei Türmen in den abendlichen Himmel, während der große Zeiger der Turmuhr ganz nach oben auf die 12 zeigte und der kleine Zeiger genau entgegengesetzt dazu nach unten auf die 6. Und während aus dem Innern der Kirche durch die weit offenstehende Tür des Haupteingangs die leise Melodie von "O Come All Ye Faithful" nach draußen klang, strömten aus allen Himmelsrichtungen auch bereits die Gläubigen zu diesem Haus Gottes, um miteinander einer ganz besonderen Geburtstagsfeier beizuwohnen - der Feier der Geburt Jesu Christi vor genau 2009 Jahren. Unter all denen, die sich zu Fuß durch den Schnee hindurch auf den Weg zu dieser Feierstunde gemacht hatten, waren auch Yelena und Lukas Svensson, die sich von der nahegelegenen Ubahnstation nun der Kathedrale näherten. Mit ihnen gemeinsam war der Saxophonist Saxi unterwegs, der sein Instrument unter dem Arm mit sich trug. Auf der Straße an ihnen vorbei fuhr dabei mehrfach laut hupend das Auto Cathrin Napolitanis, in dem neben der Eigentümerin auch deren Freundin Jane und der kleine Luke - Yelenas und Lukas' Enkelsohn - saßen und dem Svenssonpaar ganz aufgeregt zuwinkten. Aus der entgegengesetzten Richtung war derweil ein zarter Glöckchenklang zu vernehmen, der von einem Zweispännerschlitten herrührte, welcher ebenfalls auf dem Weg zur Feier jenes Heiligen Abends zu sein schien. Auf dem Kutschbock des eigentümlichen Kufenfahrzeugs saßen Charles Wannabe und Claudia Palmer, in deren Mitte der farbige Junge Cedrick mit großen, strahlenden Augen auf das bunt erstrahlende Kirchengemäuer starrte. Hinter den Dreien aber hockten auf einer Ladefläche zehn, dick in alte Lumpen gekleidete Obdachlose - eben jene Obdachlose, deren momentane Wohnadresse die London Bridge war. Lediglich Henry Fist fehlte noch, um das dreckige Dutzend - wie Cedrick die Ansammlung der Zwölf oftmals leicht sarkastisch zu bezeichnen pflegte - voll zu machen. Da schoß wie aus dem Nichts einer der CI7 Mannschaftswagen heran, der am Straßenrand hielt, und dem als Fahrer Youstan Texas und als Beifahrer John Wayne Powerich entstiegen. Beide Männer begaben sich flinken Fußes nach hinten, wo sie die Türen des Transporters öffneten und dann eine Rampe herunterfahren ließen, über die sich Tim Hackerman mit seinem Elektrorollstuhl den Weg ins Freie bahnte. An seiner Seite aber lief Sabrina Meltstone mit leicht wippendem Schritt die abschüssige Rampe wie einen Laufsteg entlang. Und während sich alle auf dem Vorplatz der Kathedrale nun langsam immer näher kamen, erhob sich über ihren Häuptern mit einem Male ein geradezu ohrenbetäubender Lärm, mit dem eine gewaltige Luftströmung einherging. Die auf dem Platz Versammelten erhoben sichtlich erstaunt die luftig umwehten Köpfe und erkannten einen Hubschrauber, der nun inmitten des Platzes zur Landung ansetzte. Kaum hatte der Pilot jenes Helikopters auf dem Boden aufgesetzt und die Rotoren abgestellt, da entsprangen dem Bauch dieses Monstrums, dessen Heckflosse die russische Fahne zierte, auch schon Nina Svensson und ihre Tochter Lisa, wobei letztere sofort freudestrahlend auf ihren Vater zurannte und ihn in die Arme schloß. Und während Lukas, einige Sekunden lang in dieser innigen Umarmung verharrend, über die Schulter seiner Tochter schaute, erspähte er auf dem Vorplatz noch zwei weitere bekannte Gesichter. Das eine gehörte dem Kunstsammler Leon Ardo, der neben einem schwarzen Zylinderhut und einem langen Kunstnerzmatel auch einen dicken schwarzen Wollschal trug, den er sich einmal lässig um den Hals geschwungen hatte. Das andere vertraute Gesicht aber war das des Pflegers Alfred Robber, der an seiner Hand einen älteren Mann mit sich führte und ihn hin und wieder dazu animierte, statt kleiner Tippelschritte doch lieber größere Schritte zu machen. Sekunden später standen all diese Menschen zusammen vor der großen Treppe, die ins Kircheninnere führte und beschritten vereint die Stufen. Nur Timmy fuhr mit seinem Rollstuhl - begleitet von Sabrina - zum Seiteneingang der Kirche, wo eine von Pfarrer Shepherd selbst zurechtgezimmerte Rampe aus zwei Brettern auch ihm und seinem Rollstuhl den Zugang zu dem Innern des imposanten Gotteshauses gestattete. Drinnen trafen Sabrina und er dabei wieder auf all die anderen Besuchern der Gottesdienstfeier, die sich inzwischen in die unzähligen Bankreihen links und rechts des langen Gangs, welcher zum Altar führte, zu zwängen versuchten. Nur die zehn Obdachlosen, unter denen sich acht Männer, eine Frau und ein Baby befanden, wurden - noch bevor sie Gelegenheit hatten, überhaupt Platz zu nehmen - bereits von Pastor Shepherd zur Seite genommen. Er tuschelte aufgeregt mit ihnen und führte sie dann mit sich fort, wodurch sie den Blicken der übrigen, deutlich besser gekleideten Klientel der Gottesdienstbesucher entschwanden. Tim Hackerman, der dieses merkwürdige Vorgehen des Geistlichen ein wenig irritiert beobachtet hatte, hingegen blieb mit seinem Rollstuhl gleich neben dem Sitzplatz Sabrinas in vorderster Reihe direkt am Gang stehen, wo ihm sich wenige Momente noch ein kleines Mädchen mit langen blonden Haaren und großen leuchtenden Augen sowie einem unheimlich bezaubernden Lächeln hinzugesellte, welches in einem Faltrollstuhl von seiner Mutter hereingeschoben wurde.

Kaum hatten alle ihre Plätze eingenommen, da wurde im Innern langsam das Licht gedämpft, und der neben hinter dem Altar stehende gemischte Chor der St.Pauls Cathedral begann, als Eingangslied mehrstimmig "Hark The Herald Angels Sing" vorzutragen. Andächtig lauschten Lukas und Yelena und in ihrer Mitte der kleine Luke der wundervollen alten Weise, ebenso wie gleich neben ihnen Charles Wannabe und Claudia Palmer, zwischen denen dem kleinen Cedrick der Mund vor sichtlichem Erstaunen weit offenstand. Da drang mit einem Male ein leises "Psst" an das Ohr Wannabes. Zunächst hielt er es für die eindringliche Aufforderung eines Besuchers an einen anderen, doch bitte still zu sein, und kümmerte sich gar nicht weiter darum. Dann aber wiederholte sich jenes zischende Geräusch, zu dem sich ebenso zischend die Nennung seines Nachnamens gesellte, umkleidet von zwei höflichen Anreden: "Psst, Mister Wannabe, Sir!". Nun kümmerte sich Charles doch darum, woher dieses Geräusch kam, und entdeckte dabei hinter einem der Kirchenpfeiler Pastor Marc Shepherd, der ihn aufgeregt zu sich heranwinkte. Charles stand auf und begab sich, seinen Körper an seinen Banknachbarn vorbeizwängend, zu dem Geistlichen. Der aber begrüßte ihn rasch und flüsterte dann nervös: "Sir, ich hab da ein großes Problem! Mir ist quasi in letzter Minute der Engel des Herrn abgesprungen, und ich hab keinen Ersatz für ihn. Könnten Sie nicht vielleicht?!". Charles Wannabe war sichtlich erstaunt: "Gerade ich, der ich bei unseren bisherigen Zusammentreffen selten ein gutes Haar an Ihnen und Ihrem Glauben gelassen habe? Warum nehmen Sie denn nicht meinen Partner Lukas Svensson, zu dem die Rolle doch viel besser passen würde?". Shepherd aber erwiderte: "Nun, es ist wegen der Größe!". Und als Wannabe ihn fragend ansah, ergänzte er: "Wegen der Kleidergröße! Unser Engelskostüm ist eher eine M als eine, nun ja, XL". Charles Wannabe mußte unweigerlich schmunzeln, wozu er sprach: "Ihr Engel muß also schlank sein, ja?! Ist das nicht eine Art Diskriminierung der Schwergewichtigen? Ich sollte den Fall vielleicht einmal Amnasty International oder den Weight Watchers melden! Ne, Spaß beiseite: Ok, ich mach's! Ich hätte da allerdings noch drei Fragen ... Erstens: Wo ist der Fummel? Zweitens: Wie lautet mein Text? Und zu guter Letzt: Wie hoch ist meine Gage?". Entsetzt sah ihn Pastor Shepherd an. Charles aber grinste nur: "Ha, reingefallen! Aber nun sollten wir keine weitere Zeit verschwenden! Ich würd sagen, Sie weisen mir den Weg zur Krippe mit unserem kleinen Star von Bethlehem, und ich folge Ihnen unauffällig!".

Währenddessen war das Eingangslied auch schon fast an seinem Ende angelangt. Und so mußte sich Pastor Shepherd mit der Wegweisung für Charles Wannabe tatsächlich ein wenig sputen, um rechtzeitig zu seinen Eröffnungsworten wieder an seinem Platz hinter dem Altar zu sein. Er schaffte es gerade noch mit der letzten Note des Liedes, holte einmal tief Luft und sprach dann zu den versammelten Gästen: "Liebe Gemeinde, liebe Besucher! Wir alle haben uns heute abend hier zusammengefunden, um - wie in jedem Jahr - die Geburt unseres Herrn Jesus Christus zu feiern. Und wenn Sie sich dabei fragen sollten, was wir unserem Geburtstagskind wohl schenken könnten, so lassen Sie mich einen Vorschlag machen. Wie wäre es denn zum Beispiel mit einem offenen Ohr für das, was er uns an diesem Heiligen Abend von sich, seiner Botschaft und von seinem Vater im Himmel zu erzählen hat? Lauschen wir also nunmehr in diesem Sinne gemeinsam andächtig der Geschichte seiner Geburt". Es kehrte mit einem Schlag Stille ein in dem großen Kirchengebäude. Und ganz vorn rechts vom Altar erstrahlte das schummrig-fahle Licht eines Scheinwerfers zum Ende des langen Kirchganges hin, in dessen Mittelpunkt sich die Konturen einer Frau und eines Mannes abzeichneten, die sich - in lange Tücher gehüllt - bedächtig ihren Weg über den roten Teppich bahnten. Der Mann stützte dabei die Frau an seiner Seite, deren Bauch - unter den, ihn bedeckenden Tüchern - eine auffällige Wölbung aufwies. Vom Altar her aber verkündete die warme Stimme eines älteren Mannes dazu: "Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger". Mann und Frau hatten im sie umgebenden schummrigen Licht inzwischen den ganzen langen Gang hinter sich gelassen und standen nun rechtsseitig des Altars vor einer großen Wand aus Pappmasche, über deren eingebauter Tür ein Schild mit der leuchtenden Aufschrift "Herberge" hing. Der Mann klopfte kurz an der Tür an, worauf ihm von einem dickbäuchigen Mann geöffnet wurde, der das Paar kurzzeitig ein wenig mitleidig beäugte, dann aber kopfschüttelnd seine breiten Schultern hob und ihnen die Tür vor der Nase zuschlug. Gesenkten Hauptes gingen die Frau und der Mann ein paar Schritte weiter nach links, wo direkt vor dem Altar am Boden auf breit ausgelegtem Stroh eine kleine hölzerne Futterkrippe stand. Das fahle Licht, das sie die ganze Zeit über auf ihrem Weg begleitet hatte, begann eigentümlich zu flackern, wozu sich wieder die sanfte Stimme des älteren Herrn erhob und verkündete: "Und als sie dort waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge". Das Flackern des Lichts hörte auf, und inmitten des Strohs der Futterkrippe war - angestrahlt von einem viel kleineren, aber dafür deutlich helleren Scheinwerfer - ein mit Mullbinden umwickeltes Kleinkind zu erkennen. Einen Augenblick lang war alles still, nur das kleine Kind gab immer wieder schrille, jauchzende Laute von sich. Erst jetzt bemerkte Tim Hackerman, das sowohl das Kind als auch die Frau und der Mann, welche lächelnd um die Krippe herumstanden, den Reihen der zehn Obdachlosen von der London Bridge entstammten. Das fahle Licht des großen Scheinwerfers richtete seinen Strahl nun von der Krippe weg auf die linke Seite des Altars aus, wo zwischen ein paar kleinen Stofflämmchen die restlichen sieben Obdachlosen auf dem Boden hockten - Strohhüte auf den Köpfen und lange, aus Baumästen zurechtgeschnitzte Stöcke in den Händen. Dazu ertönte ein weiteres Mal die Stimme des alten Mannes: "Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde". Da tauchte mitten unter den Hirtendarstellern das grelle Licht eines weiteren Scheinwerfers auf, in dessen Mitte sich - anfangs nur schemenhaft sichtbar - die mit Flügeln behangene Gestalt eines Mannes mit einer Art goldenem Ring über dem Kopf aus seiner bisherigen, am Boden zusammengekauerten Haltung heraus langsam zu voller Größe aufrichtete. Und die sanfte Stimme des alten Erzählers erklärte: "Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie, und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen ...". An dieser Stelle verstummte der alte Mann, das grelle Licht wurde leicht gedrosselt, woraufhin sich jene beflügelte Gestalt in einen, ganz in weißen Tüll gekleideten und von einem leicht verrutschten Heiligenschein gekrönten Charles Wannabe verwandelte, der mit tiefer Baßstimme geradezu gespenstisch raunte: "Fürchtet Euch ...". Der Flügelbehangene räusperte sich kurz und verlieh damit seiner Stimme sogleich etwas Helleres, als er daraufhin geradezu feierlich verlautbarte: "Fürchtet Euch nicht! Siehe, ich verkündige Euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen". Um den mit seiner kleinen, und dennoch keineswegs unbedeutenden Gastrolle in diesem Krippenspiel sichtlich zufriedenen Engel Chales leuchteten in diesem Augenblick exakt zwei Dutzend kleine, helle Scheinwerferspots auf, wobei in jedem das strahlende Lachen je eines ebenso kleinen, ganz von weißem Tüll umkleideten Kindes erschien. Die Stimme des alten Mannes aber erklang dazu noch ein letztes Mal: "Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen ...". Und auf dieses Stichwort ertönte aus den Reihen der himmlischen Kinderschar ein 24faches, wenn hier und da auch nicht ganz synchrones, und dennoch dadurch keineswegs weniger zu Herzen gehendes: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens".

Alle Lichter verloschen, nur der Spot auf dem Kind in der Krippe blieb. Und während sich im Halbdunkel unter dem donnernden Beifall aller spontan von ihren Plätzen aufgestandener Besucher all die anderen Laiendarsteller - unter ihnen mit stolzgeschwellter Brust und ein paar Tränchen der Rührung in den Augen auch Charles Wannabe - still und heimlich nach hinten abgingen, um sich wieder umzukleiden, blieben die Verkörperer der Maria und des Josef bei dem Kinde an der Krippe stehen und schauten ihm in die strahlenden Augen. Dazu betrat Pastor Shephard unter den leisen Klängen von "Away In A Manger" den Altar, bekreuzigte sich und begann - nach dem langsamen Abschwellen des Applauses - mit feierlicher Stimme seine Predigt: "Ja, liebe Besucher, uns allen ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr. Heute vor mehr als 2000 Jahren wurde in ihm Gott Mensch und begab sich aus den paradiesischen Zuständen seines Himmelreichs zu uns herunter, mitten hinein in unsere Welt. Dabei kam er keineswegs machtvoll seine Stärke zur Schau stellend in Glanz und Gloria mit einer prunkvollen, goldenen Kutsche und viel Gefolge, wie es die Herrscher seinerzeit zu tun pflegten. Nein, er kam nackt, schwach und geradezu ohnmächtig zur Welt unter denkbar ärmlichsten Verhältnissen. Gott machte sich in ihm arm, um uns durch das Geschenk seiner menschlichen Geburt reich zu machen. Schon in dem Zeichen seiner Geburt war er damit angetreten, den armen Menschen von seinem qualvollen Schicksal zu befreien, indem er ihm die Vergebung seiner Schuld und damit an seiner Seite das ewige Leben in einer besseren Welt, dem Paradies, anbot. Alles aber, was wir tun müssen, um dieses kostbare Geschenk in Empfang nehmen zu können, ist glauben. Ja, meine lieben Freunde, glauben an ihn, den Heiland, der uns heil macht, indem er uns befreit von all dem, was an dunklen Schatten auf unserer Seele lastet". Leise schluchzend senkte Cathrin Napolitani bei diesen Worten ihren Kopf und legte ihn auf die Schulter ihrer Freundin Jane, die ihr dabei sanft über das Haar strich. Pastor Shepherd aber fuhr in seiner Ansprache fort: "Er, der unsere Armut am eigenen Leibe erfahren hat, ist gekommen, sie schon hier auf Erden zu mildern und zu lindern. Er schenkt den armen Seelen reichen Trost, und läßt sie durch sein unermüdliches Bodenpersonal gelebte Nächstenliebe erfahren". Die inzwischen zurückgekehrten, und sich ganz leise überall im Gang vertreilenden Obdachlosen nickten sich stumm zu. Saxi aber, der in einer der hinteren Bankreihen saß, lächelte, und versuchte dabei, mit den Augen seine beiden neuen Freunde Lukas Svensson und Charles Wannabe unter den Anwesenden auszumachen. Jenen Charles Wannabe, der gerade wieder neben Claudia und Cedrick Platz genommen hatte und nun vielsagend dem kleinen, farbigen Jungen an seiner Seite zublinzelte. Pastor Shepherd aber sprach: "Und dabei beschränkt sich jenes Mildern unserer Leiden keineswegs auf die Armut allein, sondern gilt ebenso für all die Krankheiten, die uns plagen. Auch hier verspricht Gott dem gläubigen Menschen in seinem Wort Trost, Beistand und Linderung". Stumm schauten sich Alfred Robber und der neben ihm sitzende Hudson Butler tief in die Augen. Pastor Shepherd aber fuhr unvermindert fort: "Allem voran aber beschenkt uns Gott in seiner Menschwerdung mit seiner Liebe. Einer Liebe, die das Handeln seines Sohnes über die ganze Zeit seines irdischen Daseins begleitet und die ihn am Ende nicht einmal vor dem Sich-selbst-für-uns-Opfern am Kreuz zurückschrecken läßt. Ja, liebe Schwestern und Brüder, werte Gäste, auch der Schatten des Kreuzes schwebt bereits über dieser festlichen Stunde. Das Kreuz auf dem Hügel Golgatha vollendet, was im Stall in der Krippe begann - Gottes Plan zur Erlösung und Errettung der Menschheit. Diese selbstlose, aufopfernde Liebe Gottes zu uns, seinen Kindern, sollte uns dabei jederzeit als Beispiel dienen - als Beispiel für unsere Liebe zu Gott wie auch für unsere Liebe untereinander". Bei diesen Worten kehrte ein seltsames Funkeln in die Augen vieler Besucher ein, wobei sie jeweils paarweise dem Menschen an ihrer Seite tief in die Augen schauten - Yelena Lukas, Sabrina Timmy und Charles Claudia. Und wenn Lukas nicht nur Augen für seine Frau gehabt hätte, dann wäre ihm vielleicht auch aufgefallen, welch verstohlene Blicke in diesem Moment in seinem Rücken auch seine Tochter Lisa und der wohl kaum ganz zufällig gerade neben ihr sitzende John Wayne Powerich miteinander austauschten. Pastor Shepherd aber setzte all dessen ungeachtet nun zum Ende seiner Predigt an: "Und damit entlasse ich Sie, denen Gott das wunderbare Geschenk dieses Heiligen Abends zuteil werden läßt, aus dieser Feierstunde und vertraue Sie dem Segen Gottes an". Die Versammelten erhoben sich, soweit es ihnen möglich war, auf jenes Stichwort hin von ihren Plätzen und falteten dabei andächtig die Hände vor sich. Pastor Shepherd aber erhob seine Hände weit ausgebreitet über ihre Köpfe hinweg und sprach: "Der Herr segne Euch und behüte Euch. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Euch und sei Euch gnädig. Der Herr hebe sein Angesicht über Euch und gebe Euch Frieden! Amen!". Einstimmig bekräftigte die Menge der Anwesenden den in jenem Amen zum Ausdruck kommenden Wunsch, das alles Gesagte genau so geschehen möge, worauf Pastor Shepherd zu ihnen sprach: "Und nun, bevor Sie aufbrechen und draußen vor der Tür wieder jeder seines Wegs zieht, möchten wir es wie schon im letzten Jahr halten und einem jungen Musiker die Chance geben, uns mit seiner Sangeskunst zu erfreuen. Und darum, meine Lieben, zum musikalischen Ausgang unseres Gottesdienstes hier nun der kleine Cedrick, oder - wie er sich zu nennen pflegt - Mike L.Jag's Sohn mit seinem, zum Geist dieses ganz besonderen Abends äußerst passenden Wunsch "Heal The World". Cedrick aber erhob sich von seinem Platz und trat freudestrahlend nach vorn, wo er aus voller Kehle mit glasklarer Stimme jene ergreifende Popballade vorzutragen begann. Am Ende spendete man dem jungen Künstler minutenlang tosenden Beifall, woraufhin sich die Masse anschließend langsam von ihren Plätzen erhob und nunmehr aus den Bankreihen über die Gänge dem Ausgang entgegenströmte, an dessen weit geöffneter Pforte der inzwischen dorthin enteilte Pastor Shepherd noch einmal jedem Einzelnen von ihnen die Hand schüttelte und dabei unermüdlich jedem ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest wünschte.

Es dauerte zirka eine halbe Stunde, dann war das Kirchengebäude fast menschenleer. Nur hier und da saßen und standen vereinzelt noch ein paar Gäste. Vorn nahe dem Altar beispielsweise hatten sich Charles Wannabe, Hudson Butler und sein Pfleger Alfred sowie der Kunstsammler Leon Ardo vor der wiederaufgetauchten Paulusfigur eingefunden, wobei letzterer entzückt feststellte: "Ist er nicht einfach eine prächtige Erscheinung?! Sie haben sich mit diesem wunderbaren, einzigartigen Werk wahrlich schon zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt, großer Meister Butler". Und während Hudson Butler vorsichtig nickte, ertönte aus dem Hintergrund die Stimme einer Frau: "Ja, das hat er. Und nicht nur in dieser hölzernen Figur, sondern vor allem auch in seiner nicht weniger wunderbaren und einzigartigen Tochter Lilly". Erschrocken in sich zusammenzuckend drehte sich Hudson Butler um und stammelte: "Angela, Du! ... Ich ... ich hab das ... das nicht ... nicht gewußt, daß ... daß Du und Lilly ... daß ihr auch hier ... auch hier seid, sonst ...". Die Frau, die vor sich den Rollstuhl mit jenem kleinen blonden Mädchen herschob, aber fiel ihm ins Wort: "Na, was dann, Hudson?! Ich hoffe doch, Du wolltest sagen, dann hättest Du uns längst begrüßt, mir die Hand und Deiner Tochter einen Kuß gegeben?!". Überglücklich stürzte Butler auf die beiden Damen zu und umklammerte dabei erst dankbar die Hand der Frau, um dann vor dem Rollstuhl mit dem Mädchen auf die Knie zu sinken, ihr seine Arme um den Hals zu werfen und ihr kleines, strahlendes Gesicht über und über mit Küssen zu bedecken. Die Mutter der Kleinen aber sprach: "Verzeih mir bitte die Verbitterung, mit der ich in den letzten Jahren nicht nur Dir Dein Töchterchen, sondern auch ihr den Vater vorenthalten habe! Du kannst uns in Zukunft jederzeit besuchen kommen, ebenso wie Lilly Dich jederzeit besuchen darf. Das verspreche ich Euch Beiden und wünsche uns allen Dreien damit ein frohes und segensreiches Fest und noch viele glückliche neue Jahre!". Langsam erhob sich Hudson Butler und erwiderte: "Ich hab Dir längst verziehen, Angela! Und ich wünsche auch Dir und meiner Lilly von ganzem Herzen ein frohes und segensreiches Fest!". Und ohne lang zu zögern, ergriff er Lillys Rollstuhl und begann, ihn langsam vor sich herzuschieben in Richtung des Seiteneingangs, über dessen Rampe Vater und Tochter gemeinsam mit deren Mutter und Pfleger Alfred nach draußen entschwanden.

Charles, der dieser anrührenden Szene andächtig beigewohnt hatte, richtete seinen Blick nun wieder auf den hölzernen Paulus, von dessen wahrhaft sehr lebendiger Erscheinung nicht nur er, sondern mit ihm erneut auch Leon Ardo ganz angetan war: "Und schauen Sie doch nur, wie seine linke Hand uns den Weg zum Himmel zu weisen versucht ... Aber Moment mal, was ist denn das? Um Himmels willen, da ist ja ein kleiner Riß in seiner Hand, so als hätte er, während er verschollen war, eine Wunde davongetragen". Bestürzt näherte Ardo sein Gesicht der Figur, um die beschädigte Stelle genauer in Augenschein nehmen zu können. Doch auch in Charles Wannabes Gesicht war Bestürzung eingekehrt. Eine Wunde an der linken Handinnenfläche?! Das kam ihm doch irgendwie merkwürdig bekannt vor. Im Geiste erinnerte er sich wieder an seinen Abschied von Pauli und dessen Erwiderung auf seine Frage nach der tiefen Rißwunde, die jener in der linken Hand aufwies: 'Ach, das! Das ist weiter nichts, da bin ich nur beim Kistenschleppen vorhin an einem herausragenden Nagel hängengeblieben'. Wannabe war plötzlich ganz aufgeregt. Aber das konnte doch nicht sein, das war doch nicht möglich! Oder etwa doch? Nun, wenn man einmal länger darüber nachdachte ... Die Figur war auf mysteriöse Weise verschwunden, wenig später tauchte wie aus dem Nichts Pauli auf, dann verschwand Pauli plötzlich wieder spurlos nach einem Spaziergang im Hyde Park, und ein paar Stunden später taucht der hölzerne Paulus wieder auf, unversehrt bis auf denselben wunden Punkt, den zuvor auch Pauli hatte. Charles brauchte Gewißheit. Und so rief er rasch Pastor Shepherd zu sich. Der Pfarrer setzte schon an, sich bei Charles Wannabe für dessen engelhaften Einsatz beim Krippenspiel zu bedanken, aber Wannabe fiel ihm sofort ins Wort: "Wie war das noch gleich, als der Paulus wieder auftauchte?!". Shepherd überlegte kurz, dann erzählte er: "Die Mutter der kleinen Lilly hat ihn uns gestern Nacht zurückgebracht und sagte, ihre Tochter hätte die Figur auf einer nachmittäglichen Spazierfahrt im Hyde Park gefunden, so wie sie es mit der Statue zuvor bei ihrem letzten Besuch hier in der Kirche verabredet hätte! Und die Kleine hat ihm eine rotweiße Pudelmütze mit Bommel übergestülpt und ihn in eine lange rote Kutte eingewickelt". Und während sich Pasor Shepherd nach dieser Auskunft wieder in Richtung Hauptausgang bewegte, um dort auch noch den Rest der Kichenbesucher zu verabschieden, geriet Charles Wannabe ganz außer sich. Er schlug die Hände wild über dem Kopf zusammen und rief begeistert: "Es paßt! Alles paßt! Der Hyde Park! Die rote Kutte, die Pauli trug! Und die rotweiße Bommelmütze, die er aufhatte! Und der Name, natürlich der Name: Pauli! Ich muß echt blind wie ein kleiner Maulwurf gewesen sein, das ich das die ganze Zeit über nicht bemerkt habe. Paulus ist Pauli, und Pauli ist Paulus! Jetzt versteh ich auch die komische Nachricht auf Paulis Karte in der Kutsche 'Was aber unser Wiedersehen angeht, so verweise ich dabei auf: MARY X. MAS. DECEMBER. 24 CUINCHURCH'. Das war gar nicht seine momentane Wohnadresse. Das Ganze ist vielmehr seine Grußbotschaft an mich ... Merry Christmas, also Frohe Weihnacht! Dezember, der vierundzwanzigste, das ist heute. Und das CUINCHURCH bedeutet See You In Church bzw. Wir sehen uns in der Kirche, also hier!". Augenzwinkernd trat Charles Wannabe vor die hölzerne Figur hin und flüsterte: "Schön, Dich wiederzusehen, mein Freund! Hab Dank für alles, was Du während Deines so kurzen irdischen Gastspiels als Mensch für mich getan hast! Ich hoffe, Dir hat unser kleines Krippenspiel genauso gefallen wie mir. Ach übrigens: Ich werde Dich in Zukunft sicher noch öfter hier besuchen kommen und mit den ganzen Neuigkeiten und Problemen in meinem Leben zutexten, schließlich mußt Du mir in Deinem jetzigen Zustand ja zuhören, ob Du nun willst oder nicht! Und weglaufen kannst Du vor mir auch nicht! In diesem Sinne: Zieh Dich schon mal warm an, mein Bester! Und Frohe Weihnachten, mein Freund!".

Charles Wannabe machte auf dem Hacken kehrt und schaute dabei in die entsetzten Augen Leon Ardos, der sich langsam rückwärts gehend entlang des Ganges in Richtung Ausgang bewegte und dabei immer wieder wisperte: "Ein Verrückter! Ich habs ja von Anfang an gewußt, der Mann ist nicht ganz beitroste. Redet mit einer Holzfigur wie mit einem Menschen und nennt sie sogar seinen Freund! Nichts wie weg hier, bevor der Irre noch ganz durchdreht und uns alle als Geiseln nimmt!". Immer weiter wich der Kunstsammler im Gang zurück und versuchte dabei krampfhaft, auf dem Teppich zu bleiben. Schon war er am Ausgang angelangt, wo er beinahe noch den ihm entgegentretenden Pfarrer über den Haufen gerannt hätte. Pastor Shepherd aber reichte ihm die Hand und wünschte dem, sich langsam umdrehenden, verdutzten Ardo ein frohes Fest. Der Kunstsammler reagierte angesichts der von ihm befürchteten Bedrohung in seinem Rücken zunächst ein wenig unwirrsch, meinte dann aber: "Ihnen auch Frohe Feiertage!". Und mit einem Blick auf den draußen soeben wieder einsetzenden Schneefall, ergänzte er, den Kragen seines Kunstnerzes hochklappend: "Ich nehm mir wohl für den Heimweg lieber ein Taxi! Heut abend sind mir zuviele Spinner unterwegs. Und außerdem holt man sich bei dem Hundewetter ansonsten noch den Tod!". Damit verschwand er in die Dunkelheit des Kirchenvorplatzes. Charles Wannabe aber mußte beim letzten Satz des entschwindenden Exzentrikers mit der Kombination aus Hund und Tod unweigerlich wieder an seinen Gefährten Vierbein denken. Die Tränen schossen ihm augenblicklich in die Augen, und weinend suchte er - sich nach allen Seiten verzweifelt umblickend - nach einer Möglichkeit, sich mit seinem wieder aufkommenden Schmerz ein wenig zurückzuziehen.

Ganz am anderen Ende des Kirchengebäudes saß auf einer der Bänke einsam und verlassen Cathrin Napolitani, aus deren Augen beim Anblick der inzwischen leeren Krippe vorn am Altar ebenfalls Tränen herabrollten. Jane war mit Luke vor einer Minute zur Toilette gegangen, so daß sie für den Moment mit all den quälenden Gedanken in ihrem Kopf ganz allein zurückgeblieben war. Wieder sah sie die toten Augen ihres Mannes Steven vor sich und wieder das Blut, das aus seinem Körper herausschoß und dabei an ihren Händen klebte. Und sie dachte an die Worte des Pfarrers von Schuld und Vergebung und von dem Heiland, der den Gläubigen zu befreien vermag von all dem, was an dunklen Schatten auf seiner Seele lastet. Ob er wohl recht hatte damit? Nun, warum sollte sie es nicht einmal versuchen?! Kein Ort war im Grunde genommen besser geeignet als dieser, um sich einmal alles Belastende von der Seele zu reden. Sie schaute sich in der Kirche um und entdeckte, etwas abseits gelegen, an einer der Seitenwände in eine Nische eingelassen tatsächlich einen Beichtstuhl, zu dem sie nun zuversichtlich ihre Schritte zu lenken begann. Dort angekommen, zog sie den Vorhang beiseite und setzte sich im Innern der kleinen, dunklen Zelle auf den bereitstehenden Stuhl. Sie zögerte einen Moment, dann aber hörte sie nebenan ein leises Räuspern, und so begann sie mit zitternder Stimme: "Pater, ich möchte beichten! Ich habe schwere Schuld auf mich geladen. Wissen Sie, ich habe meinen Mann Steven ermordet mit zwölf Messerstichen in den Bauch. Und meine Freundin Jane, die ich erst an diesem Tag überhaupt kennengelernt hatte, versetzte ihm zwölf weitere Stiche in den Rücken. Ich weiß natürlich, daß es für unser Tun keine Entschuldigung gibt, aber Steven hat uns beide belogen und betrogen und uns dann noch zutiefst gedemütigt, indem er uns quasi eine Ehe zu dritt vorschlug, so als sei das das Natürlichste auf der Welt. Daß wir beiden Frauen trotz allem nicht im Gefängnis gelandet sind, verdanken wir einzig und allein dem Stiefvater meiner Freundin Jane, dem Ex-Inspektor von Scotland Yard, Mister Lukas Svensson. Er hat die beiden Tatwaffen an sich genommen und bei Nacht und Nebel im Auto eines toten Mafiabosses versteckt, wo sie seine Kollegen dann fanden und den Mafiosi postum für den Mord verantwortlich machten. Und obwohl damit alles bereinigt schien, tief im Innern werde ich seither die Last meiner schweren Schuld einfach nicht wieder los. Zutiefst wünschte ich, ich könnte das Geschehene wieder rückgängig machen. Aber das kann ich leider nicht! Das kann niemand! Und darum bitte ich Sie, Pater, vergeben Sie mir stellvertretend! Stellvertretend für meinen toten Mann und für Gott, durch dessen Sohn Jesus Christus und seinen Tod am Kreuz die Vergebung meiner Schuld ja überhaupt erst möglich wird!". Schweigend wartete Cathrin auf ein erlösendes Wort jenes Mannes in der Nachbarzelle. Doch stattdessen vernahm sie nur ein weiteres Räuspern, dann das Rascheln eines zurückgezogenen Vorhangs, ein paar sich rasch entfernende Schritte und schließlich Stille - schwere, bedrückende Stille. Erst die inzwischen mit Luke wiedergekehrte Jane befreite sie aus dieser Stille, indem sie wenige Augenblicke später den Vorhang des Beichstuhls zurückzog und aufgeregt fragte: "Cathrin, um Himmels willen, was tust Du denn da drin? Wir haben Dich schon überall gesucht, und wenn ich jetzt nicht von weitem unter dem Vorhang Deine Wildlederstiefel erkannt hätte ...". Weiter kam Jane nicht, denn schluchzend fiel ihr die kreidebleiche Cathrin in die Arme und wisperte: "Oh Gott, ich glaube, ich hab grad einen schlimmen Fehler begangen! Hast Du vielleicht eben gerade jemanden von diesem Beichtstuhl weglaufen sehn?". Jane aber zuckte mit den Schultern: "Nein, niemanden! Naja, außer vielleicht Mister Wannabe, der an uns vorbei zum Seiteneingang lief und es dabei ziemlich eilig zu haben schien!".

Charles Wannabe stapfte draußen am Seitenflügel der Kirche im sachte herabfallenden Schnee hin und her. Dabei hatte er den Kopf gesenkt und dachte nach, als er mit einem Male aus der dunklen Ecke hin zum hinteren Bereich des Kirchengebäudes wieder jenes merkwürdige, intervallmäßig immer wieder an- und wieder abschwellende, leise Pfeifgeräusch zu vernehmen glaubte, welches er schon kurz vor der Detonation von Lou Cyphers Unterschlupf in der Jump Street Nummer 21 gehört hatte. Er erhob sein Haupt und ging dem Geräusch nach, wobei ihn seine Schritte zu einer jener alten, blauen Polizeirufzellen aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts führten. Sichtlich verwundert kratzte sich der Privatermittler am Kopf. So ein altes Relikt hier direkt an den Mauern dieser altehrwürdigen Kirche? Vorsichtig schlich er auf leisen Sohlen um die Zelle herum, als er hinter ihr an der Wand einen großen schwarzen Schatten erblickte, der sich ruckartig hin und her zu bewegen schien. Charles Wannabe ballte angriffsbereit die Fäuste und rief: "Hallo, Sie da, was tun Sie da hinter der Notrufzelle? Kommen Sie sofort raus, und zwar schön langsam! Und lassen Sie die Pfoten gefälligst da, wo ich sie sehen kann, verstanden?!". Nun, es schien ehrlich gesagt nicht so, als hätte ihn die hinter dem mysteriösen Schatten steckende Gestalt verstanden, denn mit einem Satz sprang sie auf Wannabe zu und umklammerte wild knurrend sein linkes Bein. Charles Wannabe aber stand einen Moment lang einfach nur starr da, dann ließ er sich auf die Knie sinken und packte den nächtlichen Angreifer mit beiden Händen, wozu er weinend schrie: "Vierbein! Mein Junge! Vierbein, Du lebst ja! Was für ein Glück, daß Du lebst! Danke, Herr, ich danke Dir für dieses Geschenk des Himmels! Du hättest mir wahrlich kein besseres machen können!". In seinem Rücken tauchte aus dem Innern der Polizeirufzelle urplötzlich ein alter Mann mit Mantel, Schal und einer merkwürdigen Pudelmütze auf, der Charles Wannabe zuzwinkerte: "Ah, dann ist das also Ihr Hundchen, wie! Na, freut mich, daß Sie und der kleine Racker sich jetzt wiedergefunden haben! Ich hab den kleinen Ausreißer nämlich gestern am späten Abend im östlichen London in der Jump Street aufgegriffen, kurz bevor da das große Hochhaus in die Luft flog. Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle?! Ich bin der Doktor!". Charles reichte dem Mann die Hand und fragte: "Der Doktor? Doktor Wer?!". Der Mann mit der Mütze aber schüttelte nur den Kopf: "Ach wissen Sie, Namen sind Schall und Rauch!". Charles Wannabe schaute erst auf den Mann, anschließend auf die Notrufzelle hinter ihm, dann fragte er: "Waren Sie etwa die ganze Zeit über da drin in der Zelle?". Der Mann nickte: "Ja, ich wohne sogar da!". Wannabe schaute ihn ungläubig an: "Sie wohnen da?! Das ist doch viel zu klein zum Darinwohnen!". Der namenlose Doktor aber schüttelte nur milde den Kopf: "Ach, drinnen ist es viel geräumiger, als es von draußen ausschauen mag. Wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie doch Ihren kleinen vierbeinigen Kumpel". Und seufzend auf den Hund schauend, ergänzte er: "Wissen Sie, ich kann gut nachvollziehen, wie Sie sich jetzt fühlen. Ich hatte nämlich auf meinen vielen Reisen neben einer Menge Zweibeiner auch mal so einen Vierbeiner als Begleiter, auch wenn der damals nicht ganz so lebendig war wie Ihr kleiner Freund hier! Nun ja, genug geplaudert! Ich muß weiter, wissen Sie?! Aber wir werden uns in naher Zukunft sicher wiedersehen. Ich hab nämlich vor, mich hier in ein paar Jahren seßhaft zu machen! Also dann, bis später! Ach ja, und Frohe Weihnacht!". Charles hatte sich unterdess längst wieder seinem Hundefreund gewidmet, mit dem er wild im Schnee herumtobte. Und so bemerkte er gar nicht, wie sich jener Doktor wieder in seine Zelle zurückzog. Er hörte diesmal auch nicht das eigenartige, intervallmäßig immer wieder an- und abschwellende, leise Pfeifgeräusch, welches Sekunden später folgte. Stattdessen bemerkte er etwa eine Minute danach eine Hand, die ihm aufgeregt auf die Schulter tippte. Sie aber gehörte keinem anderen als Lukas Svensson, der ihm lächelnd entgegensah und dazu mit einem Blick auf Vierbein meinte: "Na bitte, da ist er ja wieder, Ihr kleiner Hund!". Charles Wannabe nickte begeistert: "Ja, ja, da ist er! Der Doktor aus der Polizeirufzelle hier hat ihn mir zurückgebracht". Lukas sah Charles verwundert an: "Welcher Mann und welche Polizeirufzelle?". Wannabe aber schüttelte nur mitleidig den Kopf: "Na die Zelle direkt hinter mir! Haben Sie denn keine Augen im ...". Weiter kam er nicht, denn in seinem Rücken gab es - wie er, sich umdrehend, feststellte - nur noch die kahle Wand an Ecke des Kirchengebäudes. Die blaue Notrufzelle aber war verschwunden. Charles rieb sich ungläubig die Augen, dann aber sprach er schulterzuckend: "Ach was solls! Hauptsache, mein kleiner Vierbein ist wieder da und lebt!". Und damit erhob er sich und lief mit seinem Hundefreund um die Wette völlig ausgelassen über den schneebedeckten Vorplatz. Lukas aber schaute dem Treiben der Beiden sichtlich amüsiert zu. Und so sah er auch, wie Vierbein sich plötzlich im dicksten Schnee auf den Rücken warf und dabei mit allen vier Pfoten wild um sich schlug. Der hinzugeeilte Charles Wannabe beobachtete den Streuner eine Sekunde, dann rief er: "Ah, ich verstehe: Schnee-Engel! Die haben meine Mutter und ich früher auch immer gemacht!". Und damit warf auch Wannabe sich rücklings in den Schnee und zappelte dabei ganz aufgeregt mit Armen und Beinen. Lukas, der ihnen bislang nur lachend zusah, wurde mit einem Mal nachdenklich und ernst, wobei er zu murmeln begann: "Aber natürlich! Schnee-Engel! Genau die haben meine beiden Eltern und ich doch auch auf dem Flugplatz in Berlin-Schönefeld gemacht, kurz vor unserem Abschied voneinander. Und davon gibt es sogar ein ... Menschenskind, na klar, ein Foto! Ein Foto, das ich mit der Digitalkamera gemacht hab, die mir dieser nette Vater der kleinen Laura auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am Alex geschenkt hat. Die Kamera muß ich dann doch noch irgendwo hier in meiner Manteltasche ...". Aufgeregt durchkramte er erst die rechte und dann die linke seiner tiefen Regenmanteltaschen, wobei er aus letzterer schließlich jene kleine Kamera hervorzog, mit der er wild hüpfend wieder ins Kircheninnere zurücklief, um den beweiskräftigen Fund sogleich seiner Yelena zu präsentieren. Charles und sein Vierbein aber tobten weiter im Schnee herum, bis auch sie schließlich durchgefroren um voller Schnee am ganzen Leib wieder ins Innere der Kathedrale zurückkehrten, um Claudia und Cedrick abzuholen und ihnen vom Umstand ihrer glücklichen Wiedervereinigung zu berichten.

Und während draußen weiter leise der Schnee rieselte, kam in seinem Elektrorollstuhl Tim Hackerman aus dem Seiteneingang der Kirche langsam die Rampe heruntergerollt. Er blickte lange gedankenversunken in den sternenklaren Nachthimmel, dann sah er eine Sternschnuppe und schloß, einen heimlichen Wunsch vor sich her murmelnd, die Augen. Als er sie gerade wieder öffnen wollte, legten sich zwei zarte Hände darüber, und die liebliche Stimme seiner Sabrina ertönte: "Na, was hat mein kleiner Tiny Tim sich gewüscht? Oder will er mir das nicht verraten, weil es sonst nicht in Erfüllung geht?". Timmy aber nickte, wobei Sabrinas Hände seine Augen wieder freigaben. Und ihr einen warmen Kuß auf die kühle Wange hauchend, erklärte er: "Es waren gleich drei Wünsche auf einmal. Zum ersten, daß Du jetzt bei mir sein mögest. Der hat sich eh schon erfüllt! Und zum zweiten, daß Du nicht nur jetzt, sondern für immer bei mir sein mögest! Und der erfüllt sich gleich, wenn Du Ja sagst!". Ein wenig ungläubig schaute Sabrina ihn an: "Ja?! Wozu soll ich ja sagen?". Tim aber schmunzelte: "Dazu, meine Frau zu werden, natürlich! Und ich hoffe, Du bestehst jetzt nicht darauf, daß ich vor Dir niederknie?!". Sabrinas Arme umschlangen seinen Hals. Und während Sie sein Gesicht mit Küssen geradezu überschüttete, rief sie: "Nein! Also nein, natürlich mußt Du nicht niederknien! Und ja! Ja, ich will! Und wie ich will! Laß mich Dein Rollergirl sein! Jetzt und für immer!". Ihre Münder vereinten sich im heißen Spiel ihrer Zungen. Und es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis sich die zwei wieder voneinander trennten, wobei Sabrina neugierig fragte: "Und was war dann eigentlich Dein dritter Wunsch?". Timmy aber sprach: "Das war natürlich jener klassische Schlußsatz von meinem Namensvetter aus Charles Dickens wunderbarer Weihnachtsgeschichte: 'Möge Gott uns alle miteinander segnen, einen jeden von uns!'" ...

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