INSPEKTOR SVENSSON: DER VERSCHOLLENE SCHATZ [Ein Fortsetzungsroman]

Die Geschichte, die ich hier erzähle, ist reine Fiktion. Sie knüpft unmittelbar an die Geschichte "Zwei Frauen am Zug" an. Die Story hat an sich fast nichts mit 24 zu tun, und in welche Richtung sie genau geht, gehört zu den zahlreichen Überraschungseffekten, die Euch im Lauf der Geschichte begegnen werden. Seid gespannt und glaubt mir, wenn ich Euch verspreche: Nichts ist am Ende so, wie es am Anfang scheint! ... Aber lest selbst. Ich wünsche Euch fürs erste viel Vergnügen und spannende Unterhaltung.

Hinweis: Ich habe diese Geschichte aus eigenem Ermessen in ihrer Gesamtheit als FSK 16 eingestuft, da sie in den späteren Fortsetzungen einige etwas explizite Darstellungen beinhalten wird. Mehr möchte ich dazu noch nicht sagen, um nicht zuviel zu verraten. Aber ich bitte alle Leser den Hinweis ernstzunehmen, den wir alle von Baustellenschildern her kennen: "BETRETEN AUF EIGENE GEFAHR!"

WAS ZULETZT GESCHAH:

Der Nebel lichtete sich langsam. Die Schleier der Dunkelheit wurden gelüftet. In Lukas Svenssons Kopf setzte die Dämmerung ein, in der das aufflackernde Licht der Erinnerung die Schatten des Vergessens nach und nach vertrieb. Wie in Zeitlupe richtete sich sein Oberkörper in seinem Bett auf, während sein Brummschädel ihm nur allzu schmerzhaft ins Bewußtsein rief, daß er gestern für seine bescheidenen Verhältnisse wohl doch ein wenig zu viel getrunken haben mußte. Vor allem der letzte doppelte Wodka mit diesem unbekannten Russen - der dann so nett war, ihn nach Hause zu fahren - schien es in sich gehabt zu haben. Auf alle Fälle konnte sich Lukas seit dem Verlassen des Lokals um Mitternacht an rein gar nichts mehr erinnern. Nicht daran, wie er nach Hause kam, und schon gar nicht daran, wie er dort bis ins Bett gelangte - und wer ihn dann bis auf Unterhemd und Boxershorts ausgekleidet hatte.

Svensson schaute an sich herunter und entdeckte auf seinem Unterhemd einen großen blutroten Fleck. In Gedanken redete er mit sich selbst: 'Oh nein! Auch das noch! Da muß ich mit diesem Iwan Sowieso wohl gestern Nacht auch noch einen Zwischenstop bei McMickeys eingelegt haben, wonach mir wieder einmal der verdammte Ketchup auf die Wäsche tropfte'. Leise vor sich hin fluchend begab er sich ins Bad, um dort mit ein wenig kaltem Wasser und etwas Reiben vielleicht doch noch zu retten, was unter Umständen eh nicht mehr zu retten war. Im Flur geriet er dabei leicht ins Taumeln. Eine gewisse Restbenommenheit stellte sich schlagartig ein, und ein pochender Schmerz ließ Lukas nach seinem Kopf greifen, an dem er zu seinem Entsetzen eine große klaffende Wunde an der Stirn ertastete. Nein, diesmal war es kein Ketchup auf seinem Hemd, diesmal war es Blut - sein Blut! Irgendwer mußte ihm gestern Nacht in seinem hilflosen Zustand auf den Kopf geschlagen haben. Oder war er vielleicht auch einfach gestürzt und irgendwo gegengeschlagen? Nun ja, Yelena würde es schon wissen! Ja, genau! Yelena. Wo war sie denn eigentlich? Seine Hand ertastete in diesem Moment quasi im Blindflug den Lichtschalter des Badezimmers, und schon eine Sekunde später wurde es ganz und gar hell um ihn her. Sogar so hell, daß er die Augen ersteinmal schließen mußte.

Lukas hielt seine Stirnwunde mit zugekniffenen Augen kurz unter den zuvor aufgedrehten Wasserhahn. Dann stellte er sich in voller Größe vor dem Spiegel auf und öffnete vorsichtig die Augen, um sich seine Verletzung einmal genauer zu betrachten. Aber statt an dem langen Riß in seiner Stirn blieb sein Blick an etwas ganz anderem haften, nämlich an dem, was da in kleinen Druckbuchstaben offensichtlich mit einem lila Glitzerlippenstift auf das Spiegelglas geschrieben stand. Der erstarrte Svensson las es, wieder und wieder - und auch beim zwanzigsten Mal konnte er es einfach nicht begreifen und schon gar nicht glauben: "Liebster Lukas! Ich kann mein Leben nicht mit Dir teilen! Das ist mir heute Nacht ganz deutlich klargeworden! Und darum verlasse ich Dich! Suche mich bitte nicht! Ich gehe von hier fort, weit fort! Nichts hält mich nun mehr hier! Ich liebe Dich einfach nicht genug, um Deine angetraute Ehefrau werden zu können! Vergiß mich! Lebe wohl, Deine Yelena!"

Svensson verstand die Welt nicht mehr. Er hatte doch immer gespürt, daß sie ihn liebte. Sein Gefühl konnte ihn einfach nicht so getäuscht haben. Und außerdem hatte sie doch noch nie so einen Lippenstift benutzt. Wo hatte sie den denn plötzlich her? Und warum schrieb sie plötzlich so ganz ohne auch nur einen einzigen Fehler? Nein, bestimmt war das alles nur ein dummer Streich - als krönender Abschluß des gestrigen Abends vielleicht?! Lukas mußte Gewißheit haben. Er lief zurück ins Schlafzimmer, öffnete alle Schränke und Schubladen. Alle ihre Kleider waren noch da, nur ein paar Schmuckstücke fehlten. Instinktiv griff sich Svensson an sein rechtes Handgelenk - ja, der Armreif von Jack war auch verschwunden! Aber das alles war ihm im Moment gar nicht so wichtig, für ihn zählte einzig und allein eins: Seine über alles geliebte Yelena - sie konnte, nein, sie durfte ganz einfach nicht weg sein! Nicht so und schon gar nicht heute! Zaghaft begann er ihren Namen zu flüstern, erst nur im Schlafzimmer, dann rief er ihn etwas lauter im Flur. Dann ganz laut im Treppenhaus, von wo aus er als Echo gleich mehrfach wiederhallte. Eine Minute später schrie er ihn durch die ganze Wohnung und brüllte ihn anschließend in völliger Verzweiflung aus dem geöffneten Fenster des Wohnzimmers hinaus - mitten hinein in die gerade erst langsam erwachende Londoner Innenstadt. Doch so sehr er sich auch die Kehle aus dem Hals schrie, es änderte alles nichts an jener unverrückbaren, niederschmetternden Tatsache ...

Yelena war und blieb verschwunden ...

EPISODE 1: NEUE FRAGEN

Die Schleier der Dunkelheit kehrten zurück und nahmen durch das offenstehende Fenster auch langsam - aber unaufhaltsam - Besitz von Lukas Svenssons Wohnung. Irgendwo im Halbdunkel des Schlafzimmers lag der Hausherr wie ein Häufchen Elend in Empryonalstellung zusammengekauert am Fußende jenes Doppelbetts, in dem er so viele schöne und zärtliche Stunden mit seiner über alles geliebten Yelena verbracht hatte. Doch nun war das Bett leer, Yelena war fort, und den ehemaligen Inspektor des Scotland Yard umfing auf einen Schlag eine spürbare Kälte. Draußen kam indes langsam ein leichter Wind auf, der sich innerhalb weniger Minuten in einen handfesten Sturm verwandelte. Irgendwann peitschte vom Londoner Abendhimmel Regen hernieder, und schließlich gesellten sich auch noch Blitz und Donner hinzu.

Das Donnergrollen holte Svensson aus seiner schläfrigen Erstarrtheit ins Leben zurück. Er brauchte erst einmal einen Moment, um zu realisieren, wo er überhaupt war. Und wie lange er nun eigentlich abwesend gewesen war, das konnte er auch schlecht einschätzen ... es waren gewiß Stunden, aber genauso gut hätten auch Tage oder Wochen vergangen sein können. Svensson rappelte sich mühsam hoch. Er schlurfte langsam in die Küche, wo er nach dem Lichtschalter tastete und sich dann immer noch wie in Trance aus dem Kühlschrank eine Packung Milch herausholte, mit deren weißflüssigem Inhalt er anschließend ein Glas füllte. Svensson leerte das Glas in einem Zuge und wischte sich dann wie in Zeitlupe mit dem Handrücken über seinen tropfenden Schnurrbart. Dabei fiel sein Blick auf den Milchkarton, an dessen Seite über dem Schwarzweiß-Bild eines kleinen Mädchens in großen roten Lettern der Schriftzug "Vermißt wird" zu lesen war. Wieder trofte es von Svenssons Gesicht, doch diesmal war es keine Milch, die seinem Bart entsprang - diesmal waren es Tränen, die schlagartig seine Augen fluteten und denen er nun nach dem Brechen aller inneren Staudämme einfach freien Lauf ließ.

Wieder verging so eine ganze Zeit der Regungslosigkeit, bevor Svensson schließlich der Küche den Rücken kehrte und sich ins Wohnzimmer begab. Auch hier mußte er erst einmal ein wenig Licht ins Dunkel bringen, bevor er schweren Schrittes die Schwelle überschreiten konnte. Er schaute sich entgeistert um. Da war das blaue Sofa, auf dem er sonst Seite an Seite mit Yelena die Abende vor dem Fernseher verbrachte. Oft hatten sie sich dabei im flimmerden Haldunkel ganz eng aneinander gekuschelt, vor allem dann, wenn er an der besonders spannenden Stelle eines Krimis zusammengezuckt war oder wenn ihm beim Happy End einer alten Liebesschnulze die Tränchen in die Augen geschossen waren. Yelena war dann stets sein Fels in der Brandung gewesen und hatte ihn mit all seinen Gefühlen bei sich aufgefangen. Ja, sie war sein Ruhepol und die Sonne, um die sein Leben auf fester Umlaufbahn kreiste ... bis heute. Nun war sein Leben mit einem Male völlig aus der Bahn geworfen worden. Seine Sonne war verloschen, und seine Ruhe war dahin.

Svensson wollte - nein, er mußte - sich irgendwie wieder fangen. Es war nötig, daß er endlich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Und was ihm dabei stets half, war Musik. Sie begleitete und untermalte sein Leben, genauso wie sie es auch in einem guten Film oder einer spannenden Serie zu tun pflegt. Und so faßte sich Lukas ein Herz und begab sich schnellen Schrittes zu seiner Stereoanlage. Er wollte sie gerade einschalten, als er daneben auf dem kleinen Beistelltisch eine leere CD-Hülle entdeckte, aus der ein zusammengefalteter Zettel herausragte. Svensson entfaltete rasch das Papier, und zum Vorschein kam ein Brief, der eindeutig die Handschrift Yelenas trug. Der Ex-Inspektor setzte sich auf das Sofa, nahm vom Couchtisch seine Lesebrille zur Hand, setzte sie auf und begann dann ganz aufgeregt zu lesen:

"Mein gutes Lukas! Wenn Du sein traurig, weil ich weg, Du hören auf Musik Titel Nummer 1 von CD in Anlage! Du geben ein Raum für Familie von Dirigent! Und was Du hören, sein anderer Ausdruck für Anfang von das, was treiben mich fort von Dir! Nicht böse sein, daß ich haben genommen besonderen Schmuckstück von Dein Freund Jack, aber das Dir nur noch einmal mehr sollen deutlich machen mein Standpunkt! Wenn Du nachdenken ganz genau über alles, was ich schreiben, Du werden verstehen, was ich sagen wollen damit! Deine Yelena"

Lukas war verwirrt. Was sollte diese merkwürdige, geheimnisvolle Botschaft bloß bedeuten? Er ließ den Brief auf den Couchtisch sinken, begab sich zurück zur Stereoanlage und spielte die eingelegte CD ab. Im Display erschien in blauer LED Schrift die Ziffernfolge 01, wobei aus dem Lautsprecher klassische Musik erklang. Svensson erkannte die Melodie sofort, nur wem sie musikalisch zuzuordnen war, das konnte er aus dem Gedächtnis heraus beim besten Willen nicht sagen. Aber die CD-Hülle würde ihm hier bestimmt sofort Auskunft geben können. Und so nahm er sie zur Hand und las auf ihrem auskunftsfreudigen Rücken: "Leonard Bernstein dirigiert Benjamin Brittens 'Four Sea Interludes' - Titel 1 - Dawn (Morgendämmerung)".

Er lauschte eine Weile dem beruhigenden Klang der Musik, aber aus Yelenas merkwürdigem Brief wurde er dabei dennoch kein wenig schlauer. Was sollte das bedeuten: Du geben ein Raum für Familie von Dirigent? Leonard Bernstein war doch schon tot. Was hatten Yelena und er denn mit seiner Familie zu schaffen? Und was hieß: Was Du hören, sein anderer Ausdruck für Anfang von das, was treiben mich fort von Dir? Alles was er hörte, war klassische Musik - eben "Die Morgendämmerung" von Britten. Und was bedeutete bitteschön: Schmuckstück von Dein Freund Jack, das Dir nur noch einmal mehr sollen deutlich machen mein Standpunkt? Moment, diesen Teil der Botschaft konnte er vielleicht doch entschlüsseln! Der Armreif von seinem Freund Jack aus Los Angeles enthielt doch diesen ominösen Peilsender. Und das mit dem "Standpunkt deutlich machen" war ja dann vielleicht eine versteckte Umschreibung dafür, daß Svensson sie mithilfe dieses Peilsenders ausfindig machen konnte. Jack hatte doch geschrieben, daß man den Armreif über Handy und Internet jederzeit orten könne. Aber wenn ihm Yelena in ihrem Brief den Tip gab, wie er sie finden konnte, dann bedeutete das ja auch, daß sie gar nicht freiwillig weggegangen war, sondern vielmehr zum Mitgehen gezwungen - wenn nicht gar entführt - wurde.

Svensson eilte in den Korridor und durchwühlte aufgeregt die Schublade des Flurschränkchens, bis er nach einigem Suchen endlich - unter einem Stapel Formulare - den dem Armband beigefügten Brief von seinem Freund Jack hervorholte. Mit ihm in der Hand machte er sich auf ins Schlafzimmer, um sich anzukleiden. Erstaunt stellte er beim Herabsehen an sich fest, daß er bereits nahezu vollständig bekleidet war. Sogar seine schwarzen Halbschuhe hatte er schon an. Nur seinen zerknautschten Trenchcoat fischte er noch im Vorbeigehen von der Flurgaderobe, bevor er die Wohnung geradezu fluchtartig verließ. Schon wenige Minuten später kämpfte er sich bei strömendem Regen im gespenstischen Schein grell aufzuckender Blitze durch die Straßen der Londoner City, in deren Herzen er nach etwa einer halben Stunde kräftezehrender Fahrt seine alte Arbeitsstelle erreichte.

In einen Regenumhang gehüllt kam ihm dort aus seinem Wärterhäuschen auch schon ganz aufgeregt Yussuf entgegen: "Verdammt, Alder, wo warst Du denn? Wir haben alle gewartet auf Euch an der Kirche. Und weit und breit kein Expektor und keine Misses Expektor. Und aufgemacht hat bei Euch zuhause auch kein Mensch. Habt ihr Zwei kalte Füße gekriegt, oder was war los, ey?" Der völlig durchnäßte Svensson rang mit seiner Puste und den wieder aufkommenden Tränen: "Yusuf, es ist etwas Schreckliches passiert! Yelena ist weg, wahrscheinlich wurde sie entführt. Ich hab jetzt keine Zeit für große Erklärungen. Ich muß sie suchen, verstehst Du?!" Yusuf nickte sprachlos. Dann öffnete er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, seinem Freund eilig die Schranke.

Im Hof schloß Svensson sein Fahrrad an, während ihm George von der Rezeption auf der Treppe bereits entgegeneilte. Er hielt schützend einen aufgespannten Schirm über dem triefenden Svensson, während er gleichzeitig aufgeregt auf ihn einredete: "Mein Gott, Lukas! Yussuf hat mich grad vom Tor aus angerufen. Ich begreif das alles nicht! Entführt, meinst Du? Aber wer tut denn sowas?" Er blickte dabei an seinem Freund herunter, und meinte dann, ohne eine Antwort auf seine Fragen abzuwarten: "Komm mit in die Umkleide hinter der Rezeption! Ich hab da ein paar trockene Sachen für Dich, zum Glück haben wir Zwei ja etwa die gleiche Konfektionsgröße. Und Deinen Mantel kannst Du da auch gleich zum Trocknen aufhängen". Lukas folgte George ins Rezeptionshinterzimmer und verließ es eine Minute später in einer schwarzen Anzughose und einem weißen Oberhemd in Richtung Treppe, die er dann sofort und ohne weitere Umschweife zum Keller hinabstieg.

Vorm Büro mit der Aufschrift "P06 - Personalangelegenheiten externe Dienstleister" stoppte sein Lauf. Er klopfte zweimal an die Tür und trat dann ein. Hinterm Schreibtisch begrüßte ihn sein Schützling Timmy: "Herr Inspektor! Ich meine, Herr Svensson! Was ist bloß geschehen? Yusuf rief mich grad vom Wärterhäuschen aus ganz aufgeregt an!" Svensson erzählte ihm daraufhin unter Tränen die ganze Geschichte von seiner verschwundenen Yelena und dem geheimnisvollen Brief, von der fremdartigen Lippenstift-Botschaft am Spiegel, von seinem Verdacht und von dem Geheimnis des Armreifs. Timmy nickte eifrig und ließ sich schließlich beide Briefe - den von Jack und den von Yelena - aushändigen. Dann hüpften seine Finger über die Tastatur, und innerhalb weniger Sekunden riß er die Hände in die Luft, während er stolz verkündete: "Ich hab sie! Ihre Yelena ist noch hier in London, irgendwo auf dem Flughafengelände in Heathrow. Kommen Sie, ich hab eigentlich eh schon Feierabend, ich fahr sie mit meinem Auto hin!" Damit sprang Tim voller Eifer hinter seinem Schreibtisch hervor, wo Svensson schon im nächsten Augenblick etwas skeptisch seinen jugendlichen Elan bremste: "Und wie sollen wir sie dann da finden? Was ist, wenn sie in der Zwischenzeit woanders hingebracht wird?" Timmy klopfte Svensson beruhigend auf die Schulter: "Aber ich hab doch noch meinen Laptop im Wagen. Damit funktioniert die Ortung des Armreifs übers Internet genauso spielend leicht wie mit dem Computer hier! Und wenn alle Stricke reißen, dann hab ich immer noch mein Handy dabei! Ich weiß, sie mögen diesen ganzen neumodischen Technikkram nicht sonderlich, aber manchmal ist er eben doch zu was gut!" Jetzt war auch der Ex-Inspektor überzeugt, und beide Männer verließen zügig und mit neu erwachter Hoffnung im Gepäck das Büro ...

EPISODE 2: ZUGANGSSPERREN

Im Flughafengebäude wimmelte es auch zu der vorgerückten Stunde nur so vor Menschen - Zivilisten und Uniformierte in farbenfroher Mischung. Das bunte Treiben war an sich aicherlich auf den ersten Blick ganz und gar nicht außergewöhnlich für den Großflughafen einer europäischen Metropole wie London. Und dennoch gab es für den aufmerksamen Beobachter beim zweiten, genaueren Hinsehen einige ungewöhnliche Dinge zu entdecken. Zum einen waren da unter den Uniformierten jede Menge Beamte mit dem Logo der neu gegründeten Spezialeinheit CI7 auf dem Ärmel ihrer Uniformjacken, die allesamt an den Zugängen zu den verschiedenen Terminals sowie an den Ein- und Ausgängen des Gebäudes postiert waren. Zum anderen zeigten seit einigen Sekunden die Anzeigetafeln im Flughafengebäude für sämtliche aufgelisteten Flüge den Schriftzug "Gestrichen" im Display.

Der gerade eintreffende Svensson war vor dem Haupteingang sofort aus Timmys Auto gesprungen und hatte nun einige Mühe, vorbei an den CI7 Leuten ins Innere des Flughafens zu gelangen. Erst als ihn einer der Beamten erkannte, ließ man ihn doch passieren, während Timmy derweil in seinem Auto mit laufendem Motor auf dem Parkplatz nahe dem Haupteingang wartete. Svensson kämpfte sich nur langsam durch die aufgescheucht herumlaufende Menschenmenge, bis er schließlich irgendwann unter all den Leuten auch seinen ehemaligen Kollegen Wannabe ausmachte. Er begab sich zu ihm und klopfte dem vielbeschäftigten Einsatzleiter schließlich ganz aufgeregt auf die Schulter: "Hey, Wannabe! Hören Sie, ich brauche Ihre Hilfe! Meine Yelena ist verschwunden. Sie befindet sich irgendwo hier auf dem Flughafengelände. Sie müssen mir helfen, sie zu suchen! Vermutlich wurde sie gewaltsam verschleppt!". Der angesprochene Superintendent Wannabe drehte sich gemächlich zu Svensson um und erwiderte ein wenig unwirrsch: "Meine Güte! Was machen Sie denn hier! Ich hab doch extra gesagt, daß man keine Zivilisten ins Gebäude lassen soll! Sagen Sie mal, Svensson, ticken Sie eigentlich noch ganz richtig! Wissen Sie überhaupt, was hier los ist! Ich hab hier eine handfeste Bombendrohung am Hals. Und da die von dieser neuen russischen Untergrundorganisation namens 'Nowoij Djehn' stammt, ist sie verdammt noch mal auch äußerst ernst zu nehmen! Und da kommen Sie hier an, tippen mir auf die Schulter und wollen, daß ich mal fix ein paar Männer abstelle, um ihre verschwundene Verlobte zu suchen. Wer sagt Ihnen denn, daß sie nicht überhaupt ganz freiwillig die Flucht ergriffen hat?! So, wie ich Sie kenne, würde mich das ganz und gar nicht wundern! Und Sie können über diesen Umstand auch ganz froh sein, ich wäre es zumindest desöfteren, wenn sich meine Alte mal so einfach mir nichts Dir nichts aus dem Staub machen würde. Ist doch um ein Vielfaches ruhiger, so ein Leben als Junggeselle! Nein, ich hab weder Lust noch Zeit für solchen Blödsinn! Außerdem kann sie ja eh nicht weg, wenn sie sich wirklich hier auf dem Flughafengelände befindet. Das Gebäude ist jetzt schließlich hermetisch abgeriegelt. Da kommt keine Maus rein oder raus, dafür verbürge ich mich persönlich! Also, hauen Sie jetzt endlich ab und lassen mich hier in Ruhe meine Arbeit machen!". Dann fegte er Svensson mit einer leichten Handbewegung einfach beiseite und wandte sich sofort wieder seinen Leuten und den anwesenden Vertretern von Presse und Fernsehen zu.

Svensson rannte noch einige Minuten völlig ziellos im Inneren des Flughafengebäudes hin und her und rief dabei verzweifelt Yelenas Namen. Selbstverständlich mußte ihm vom Verstand her klar sein, daß seine Chance, Yelena in diesem Chaos unter all den Menschen zu finden, der berühmten Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen glich. Aber in solch einer emotionalen Ausnahmesituation wie dieser setzte selbst bei ihm all die kühl berechnende Logik, die sonst sein Markenzeichen war, komplett aus. Erst als er bei seinem Zickzacklauf irgendwann vom Haupteingang her das Rufen Timmys vernahm, begann er wieder klare Gedanken zu fassen und eilte umgehend zu seinem Schützling hin. Was Timmy Svensson zu berichten hatte, war alles andere als eine Gute Nachricht - auch wenn Lukas die im Moment eigentlich dringend nötig gehabt hätte. Das von dem Armreif Yelenas ausgesandte Signal hatte nämlich innerhalb der letzten Minuten begonnen, sich in ziemlich schnellem Tempo vom Flughafen weg zu bewegen - in gerader Linie in Richtung Südosten. Ein Internetabgleich mit den letzten, noch vor der verhängten Flugsperre gestarteten Maschinen ließ dabei aus Timmys Sicht nur einen logischen Schluß zu. Yelena und der Peilsender befanden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Flieger der Scotish Travel - genauer gesagt Flug ST 241 - von London nach Paris.

Svensson kam es in diesem Moment so vor, als zöge ihm jemand den Boden unter den Füßen weg. Er durfte seine Yelena einfach nicht verlieren! Er mußte ihr nach - sofort! Wieder suchte er Wannabe im Getümmel. Er fand ihn schließlich an einem der Terminals, wo er ruhig einen Espresso schlürfte, während er immer wieder fingerschnippsend Aufgaben an seine Leute verteilte und gleichzeitig deren zackige Einsatzberichte entgegennahm. Als der Superintendent den Ex-Inspektor auf sich zustürmen sah, rollte er nur kurz mit dem Augen: "Was ist denn jetzt schon wieder, Svensson! Hat man denn niemals Ruhe vor Ihnen?! Haben Sie jetzt einen streunenden Hund gefunden oder fehlt Ihnen einer der Knöpfe an Ihrem Unterhemd?!". Der inzwischen völlig außer Puste geratene Svensson mußte sich vor Wut über soviel Arroganz erst einmal kurz in den Handrücken beißen, bevor er wild schnaubend zum verzweifelten verbalen Gegenangriff ansetzte: "Sie verdammter Paragraphenhengst! Sie haben mir gesagt, hier käme niemand rein noch raus! Und während Sie hier Ihr albernes Kaffeekränzchen veranstalten, ist meine Yelena ganz offensichtlich schon längst auf dem Weg nach Paris in der Gewalt von was weiß ich für welchen brutalen Mistkerlen. Ich will jetzt sofort eine Maschine mit einem Piloten, die mich und eines Ihrer fähigsten Teams hinter ihr her fliegen lassen! Haben Sie das verstanden, Sie Ignorant?!". Wannabe genehmigte sich noch einen ausgedehnten Schluck seines Heißgetränks, zog dann kurz eine seiner Augenbrauen hoch und meinte gelangweilt: "Schreien Sie hier mal lieber nicht so rum! Das ist nämlich gar nicht so gut für Ihr Herz! Und damit mal eines gleich klar ist: Die Befehle hier gebe ich! Solange ich keine Entwarnung gebe, startet hier die nächsten Stunden nicht mal eine einsame Fliege, geschweige denn irgendein Flugzeug! Und Sie machen sich jetzt endlich vom Acker, oder Sie lernen meine fähigsten Männer mal ganz hautnah kennen, während sie Sie hier raustragen und wegen Behinderung der Polizeiarbeit in eine schöne, kleine, dunkle Arrestzelle im Keller unserer Einsatzzentrale stecken! Ich hoffe mal, das haben Sie jetzt verstanden, Sie Wirrkopf!". Zur Untermauerung seiner Worte schnippste er im nächsten Moment zwei besonders finster dreinschauende Exemplare seiner muskelbepackten Spezialtruppe heran.

Svensson wurden bei diesem Anblick zwei Dinge schlagartig klar: Zum einen, daß er von einem selbstverliebten Wicht wie Wannabe keine Hilfe zu erwarten hatte, und zum anderen, daß er Yelena und sich selbst nur schadete, wenn er sich jetzt zu unbedachten Handlungen provozieren ließ. Denn die brächten ihn am Ende nur hinter Gitter, während für die Suche nach seiner zukünftigen Frau wertvolle Zeit sinnlos verstrich. So senkte er resignierend sein Haupt und lief aus dem Haupteingang heraus zurück zu Timmys geparktem Wagen. Dort nahm er ziemlich geknickt auf dem Beifahrersitz Platz, holte einmal tief Luft und bat seinen Schützling dann, ihn zurück zu Scotland Yard zu fahren, wo er sich in dieser Situation deutlich mehr Hilfe zu erhoffen wagte. Timmy wendete kurzerhand den Wagen und jagte dann durch die nächtlichen Straßen erneut der Londoner City entgegen. Dabei behielt er sein Handy in der Halterung neben dem Lenkrad ständig im Auge. Und ganz plötzlich registrierte er dort eine abrupte Richtungsänderung des Signals, welches sich nun statt nach Südosten deutlich in Richtung Osten zu bewegen begann. Aufgeregt informierte er seinen Fahrgast über diese Neuigkeit: "Der Flieger, Boß, der Flieger! Ich glaube, er weicht von seinem ursprünglichen Kurs ab und bewegt sich jetzt in Richtung Osteuropa!". Svensson schreckte aus seiner scheinbaren Bewegungslosigkeit auf und wurde sofort hellhörig. In seinem Kopf begann es zu rattern, und in Windeseile kombinierte sein Hirn und puzzelte aus allen verfügbaren Informationen ein gänzlich neues Bild: Wannabe hatte doch von der Bombendrohung einer russischen Terrorgruppe namens "Nowoij Djehn" - was auf russisch nichts anderes bedeutete als "Neuer Tag" - gesprochen. Was, wenn das nur ein Ablenkungsmanöver war und die Terroristen in dem Flugzeug saßen?! Dann wäre ihr Ziel ganz gewiß Rußland, was sich mit dem neuen Kurs der Maschine decken würde. Vermutlich hatten diese Verbrecher inzwischen das Flugzeug sowie seine Crew und die Passagiere in ihre Gewalt gebracht und zwangen die Piloten nun zu jener plötzlichen Richtungsänderung.

Während Svensson so nachdachte, da fiel ihm auch wieder ein Satz aus Yelenas geheimnisvoller Briefmitteilung ein: "Und was Du hören, sein anderer Ausdruck für Anfang von das, was treiben mich fort von Dir". Das Musikstück im CD Spieler hieß doch "Morgendämmerung". Natürlich konnte er hier auch ein wenig zu viel in ihren vermeintlichen Abschiedsbrief hinein interpretieren, aber war denn die Morgendämmerung nicht einfach ein Ausdruck für den Anfang eines neuen Tages - und damit wäre dann eben jener "Nowoij Djehn" das, was sie nach der Aussage ihrer Mitteilung von ihm fort trieb. Wenn dem wirklich so wäre, dann waren all die Geschehnisse der vergangenen Minuten und Stunden womöglich kein Zufall - dann hing all das hier zusammen und führte vermutlich auf die Spur von etwas ganz Großem, dessen Ausmaße selbst Svensson zur Zeit noch nicht einmal im Geringsten überschauen konnte. Lukas Svensson unterrichtete seinen Begleiter Timmy über seine die neusten Ergebnisse seiner Gedankengänge, wobei dieser ihn ein wenig skeptisch beäugte. Dennoch hörte er sich die Ausführungen des Ex-Inspektors bis zuende an, bevor er vorsichtig anmerkte: "Das wäre natürlich eine mögliche Erklärung, wenn auch eine etwas weit hergeholte, wenn Sie mich fragen, Sir! Ich trau ja diesen Iwans an sich eine Menge zu, aber das ...". Svensson fiel seinem Schützling aufgeregt ins Wort: "Wie hast Du diese Leute genannt?!". Erschrocken zuckte Timmy am Steuer des Autos zusammen. Er fürchtete, der Ex-Inspektor könnte ihm seine verbale Entgleisung übelnehmen, da er ja selbst schon mit einer ehemaligen Russin verheiratet gewesen war und noch dazu im Begriff, eine weitere Landsmännin von ihr zu ehelichen.

Timmy setzte bereits reumütig zu einer Entschuldigung an, als ihm Lukas Svensson erneut ins Wort fiel: "Iwans?! Mensch, Junge, Du bist einfach nicht mit Gold zu bezahlen! Am liebsten möchte man Dich küssen, aber ich fürchte, das könnte in Deinem jugendlichen Alter allzu leicht zu sexuellen Irritationen führen. Also lassen wir das besser! Wie dem auch sei: Bei all der Aufregung um das Verschwinden meiner Braut war in meiner logischen Beweiskette ein wichtiges Mosaiksteinchen völlig verlorengegangen. Da war doch dieser Russe gestern abend, der mich vom Junggesellenabschied nach Hause gebracht hat. Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Er fuhr mich in seinem Auto heim und fragte dann, ob er mich nicht noch nach oben zur Wohnung begleiten solle. Dort klingelte er dann für mich an der Wohnungstür, worauf Yelena uns öffnete. Und ab diesem Moment weiß ich nichts mehr. Ich hatte den Mann irgendwie ganz vergessen. Erst Deine Bemerkung hat die Erinnerung an ihn wieder zurückkehren lassen. Und weißt Du warum?! Weil der nämlich Iwan hieß! IJa genau! Iwan Ko ... Kowa ... Kowarno, ja das war's! Entweder hat dieser Typ selbst etwas mit dem Verschwinden Yelenas zu tun oder aber er kann zumindest Licht ins Dunkel bringen, indem er mir verrät, wie es am gestrigen Abend nach meinem Blackout in der Wohnung weiterging. So oder so, ich muß diesen Kowarno finden. Kannst Du vielleicht mal in Deinem ach so schlauen Elektrokasten nachschauen, ob Du in den Akten des Yard etwas über ihn findest?!".

Timmy nickte erleichtert, während er sein Auto just in diesem Moment auf dem Parkplatz des Yard zum Stehen brachte. Dann griff der junge Mann hinter sich nach dem Laptop auf dem Rücksitz. Er platzierte ihn vor sich auf dem Schoß, klappte ihn auf und ließ den Rechner hochfahren. Ein paar Tastenklicks später war Timmy in der Datenbank von Scotland Yard und hämmerte den Namen Iwan Kowarno in die Suchmaske ein. Der Server brauchte einen Augenblick, dann wurde das Ergebnis der Suche angezeigt. Doch statt einer Personenakte blinkte vor ihren erwartungsvollen Augen nur ein rotes Hinweiskästchen mit dem Vermerk "Streng geheim!" auf, unmittelbar gefolgt von der Aufforderung, eine gültige CI7 Benutzerkennung einzugeben, um an weitere Informationen über Kowarno zu gelangen. Timmy zuckte mit den Schultern: "Tja, sieht so aus, als könnten nur Mitarbeiter des CI7 auf die Akte von diesem Kowarno zugreifen! Das muß dann wohl ein ganz übler Bursche sein, wenn Sie mich fragen, Sir! Ich könnte versuchen, das Passwort zu hacken, aber das würde selbst bei einem Profi wie mir auf diesem Sicherheitslevel etwa 24 Stunden dauern". Svensson schüttelte ernüchtert den Kopf: "Das ist zuviel sinnlos vertrödelte Zeit! Wenn wirklich Terroristen im Spiel sind, dann ist meine Yelena vermutlich in Lebensgefahr! Wir brauchen eine andere Lösung. Kann unser Chef Freakadelly uns die Akte Kowarno nicht öffnen?". Nun war es Timmy, der ein wenig resignierend seinen Kopf hin und her bewegte: "Nein, nicht einmal der Chef hat Zugang zu den CI7 geschützten Daten. Nur die Leute vom CI7, und auch dort sicher nur die mit einer entsprechend hohen Sicherheitsfreigabe, denke ich mal! Unter Umständen sogar nur Wannabe höchstpersönlich! Und den brauchen wir ja wohl nicht nochmal um seine Mithilfe zu bitten, oder?!". Svensson kam bei diesen Überlegungen Timmys eine Idee: "Nein, er selber hilft uns sicher nicht! Aber eigentlich brauchen wir ja auch nicht ihn, sondern nur sein Passwort, oder?! Und vielleicht kommen wir ja in diesem Punkt auch ganz ohne seine direkte Hilfe weiter! ... Laß uns doch mal versuchen, ob Schwiegerpapa Freakadelly nicht irgendwie weiterhelfen kann, auch was zusätzliche Leute und Ausrüstung für den Einsatz zur Rettung Yelenas betrifft. Versuchen wir mal bei ihm unser Glück! Wie ich ihn kenne, sitzt er noch oben in seinem Büro".

Mit einem Satz entsprangen Lukas und Timmy dem geparkten Wagen, während Big Ben in der Ferne gerade zu seinem mitternächtlichen Glockenspiel ansetzte. Die beiden Männer eilten über die Treppe und durch das Foyer von New Scotland Yard zum Fahrstuhl, dessen Tür sich zeitgleich mit dem letzten Glockenschlag öffnete und der sie dann unter den sanften Klängen von Celine Dions "A New Day Has Come" direkt ins 20. Stockwerk beförderte ...

EPISODE 3: AUDIENZ BEI SIR HARRY

Die Tür des Lifts öffnete sich mit dem gewohnten Glöckchenklang, und schon standen Timmy und Lukas auf dem - nur von den Notausgangsschildern - schwach beleuchteten, langen Gang, der zur beruflichen Residenz ihres Chefs beziehungsweise Ex-Chefs führte. Ehrfürchtig sah sich Tim Hackerman in diesen heiligen Hallen um, denn hier war er zuvor noch nie gewesen. Seine Einstellung hatte damals das Personalbüro im Keller übernommen, und auch sonst war für ihm das Erdgeschoß schon das Höchste der Gefühle. Etwas eingeschüchtert von Größe und Glanz der Räumlichkeiten klopfte er daher dem ihm vorausgehenden Lukas vorsichtig auf die Schulter und flüsterte: "Sir?! Ich glaube, Sie gehen besser allein zum Big Boss. Ich warte hier auf Sie, wenn das recht ist". Ein wenig verdutzt blickte sich Lukas um, aber als er sah, wie sehr die Begegnung mit jenem vermeintlichen Zentrum der Macht seinen Schützling innerlich wie äußerlich erzittern ließ, zwinkerte er ihm nur zu und meinte: "Ist gut, mein Junge!". Und so postierte sich Timmy mit vor dem Bauch verschränkten Händen wie der Bodyguard in einem Überseestreifen mitten auf dem langen Korridor, während der Ex-Inspektor seinen Gang zu Freakadellys Büro allein fortsetzte.

Der Raum am Ende des Flures schien auf den ersten Blick dunkel zu sein. Erst wenn man das menschenleere Vorzimmer betrat, konnte man einen schmalen Lichtschein erspähen, der vom Spalt unter der Tür zum Chefbüro herrührte. Lukas Svensson war erleichtert. Er hatte mit seiner Ahnung scheinbar Recht behalten, Harold Freakadelly arbeitete noch. Mehr noch: Er vernahm auf seinem kurzen Weg durch das Vorzimmer sogar zwei Männerstimmen in dem Raum. Eine davon gehörte mit hundertprozentiger Sicherheit Freakadelly, aber auch die andere war dem Ex-Inspektor sehr vertraut, auch wenn sie ihm sofort einen leichten Schauer der Abscheu über den Rücken zu jagen schien. Kein Zweifel, solch ein Gefühl löste neben dem an anderer Stelle beschäftigten Wannabe nur einer bei ihm aus: Inspektor Derrik Crawler. Obwohl es sonst nicht Lukas' Art war, an fremden Türen zu lauschen, legte er in diesem ganz speziellen Fall umgehend ein Ohr an die eichenhölzerne Pforte zum Chefzimmer und öffnete den Mund, um so noch besser hören zu können, was da wohl Wichtiges um diese nachtschlafende Zeit so lautstark zwischen dem Boß und jenem kriechenden Würmlein besprochen wurde.

Es war Crawler, der den Dialog mit gewohnt süßlichem Tonfall eröffnete: "Aber Sir! Jetzt wo Mister Wannabe ein anderes Betätigungsfeld hat, wäre es doch für mich sicher auch an der Zeit, meinen Aufgabenbereich zu erweitern. Ich bin jung und ungebunden, habe - bei allem Respekt für Ihre Person - den nötigen Ehrgeiz und das Know-How für die verantwortungsvolle Tätigkeit eines Chefermittlers und kann den Dienst in dieser Position ohne längere Einarbeitungszeit sofort antreten. Alles Dinge, die eindeutig für mich sprechen, oder?!". Einen Moment war es still im Büro, dann setzte Freakadelly in leicht erhitztem Ton zur Gegenrede an: "Und was Sie ebenso sehr disqualifiziert in meinen Augen, Mister Crawler, das ist Ihre kleine Vorstellung beim Junggesellenabschied des Herrn Svensson gestern abend. Ihr 'Harry, fahr schon mal den Wagen vor' klingt noch jetzt wie Hohn in meinen Ohren, Derrik!". Crawler versuchte sich aus dieser nüchternen Argumentation süffisant herauszuwinden: "Aber Sir, das war ein bedauerlicher Ausrutscher meinerseits! Die ganzen Umstände, verstehen Sie?! Alle schienen plötzlich ihr Glück gefunden zu haben - Herr Svensson seine Braut und Mister Wannabe seine neue Stellung beim CI7. Nur Klein-Derrik ging wieder mal völlig leer aus, wie schon so oft im Leben. Nie gibt es auch für mich mal den großen Zipfel der Wurst. Als kleiner Junge haben mich meine Stiefeltern regelmäßig verdroschen, ebenso die größeren Jungs in der Schule. Keiner wollte mit mir spielen, ich war immer allein. Ja, klar, vielleicht bin ich in meinen Ansichten und meinem Verhalten ein wenig schwierig, aber ist das denn ein Wunder?! Ich hatte es eben nie leicht, mußte mich immer irgendwie durchboxen, wo andere einfach auf ihre wohlbetuchten Eltern verwiesen oder das Scheckbüchlein zückten, um aufzusteigen. Alles, was ich will, ist doch nur einmal eine Möglichkeit, mich zu beweisen. Ganz allein auf mich gestellt, nicht als die ewige Nummer Zwei im Schatten eines anderen, verstehen Sie?!". Wieder wurde es still im Büro. Freakadelly schien zu überlegen. Aber auch an Lukas waren die herzergreifenden Worte Crawlers nicht spurlos vorbeigegangen. Irgendwo hatte er ja Recht. Er war hier immer nur zweite Wahl gewesen, der kleine Kaffeeholer und Stichwortgeber für den großen Wannabe. Brauchte er vielleicht wirklich nur mal jemanden, der ihm die Chance gibt, sich zu beweisen? Würde das aus dem kleinen fiesen Mitläufer unter Umständen eine geachte Persönlichkeit werden lassen? Freakadelly schien sich unterdess eine Meinung gebildet zu haben: "Das klingt ja alles sehr rührend und auch irgendwo logisch! Dennoch tut es mir leid, Derrik, aber in meinen Augen sind Sie einfach noch nicht so weit, daß ich sie an die Spitze einer unserer Abteilungen stelle. Ich bedaure! Und nun habe ich noch ein wenig zu arbeiten, wenn Sie gestatten!".

Lukas Svensson löste sein Ohr von der Tür, schloß den Mund wieder und begab sich auf leisen Sohlen eiligen Schrittes zurück zur Vorzimmertür. Dort drehte er um und polterte dann geradezu übermäßig laut denselben Weg zurück. Er setzte gerade zum Klopfen am Eichenholze der Chefzimmertür an, als ihm selbige vor der Nase von einem überrascht dreinschauenden Crawler aufgerissen wurde, der sich einen Moment später mit dem Hemdsärmel über die glänzenden Augen wischte. Lukas Svensson tat ebenso überrascht: "Guten Morgen, Inspektor Crawler! Was ist denn mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?". Der Angesprochene wendete seinen Blick seitlich ab und flüsterte mit tränenerstickter Stimme: "Ach, lassen Sie nur! Sie wollen doch eh nicht wissen, wie es mir geht! Keinen Menschen interessiert das! Also sparen Sie sich nur Ihr Mitleid, Sir! Gute Nacht!". Mit diesen Worten schlängelte er sich rasch an seinem Ex-Kollegen vorbei und entschwand dann eiligen Schrittes durch das Vorzimmer hindurch auf den langen Gang des Flures. Lukas Svensson aber stand für einen Augenblick wie angewurzelt und erneut mit geöffnetem Mund da. Drei Dinge hatten diesen Zustand in ihm bewirkt. Zum einen hatte er den Fiesling Crawler, der doch sonst so kalt wie Hundeschnauze erschien, erstmals weinen sehen. Zum zweiten machte dieser Treppenterrier im Gehen trotz seines gestrigen Zechgelages im "My Redemption" schon wieder eine erstaunlich gute und geradlinige Figur. Und last but not least hatte ihn der Wurm zum ersten Mal im Leben Sir genannt. Svensson spürte von diesem unerwarteten Ritterschlag förmlich noch die schwere Last des Schwertes auf seiner linken Schulter. Naja, vielleicht schmerzte die ihm aber auch nur immer noch von dem, was gestern Nacht nach seinem plötzlichen Blackout in seiner Wohnung passiert war und letztlich mit dem Verschwinden Yelenas endete. Ja, genau! Die Suche nach Yelena und damit verbunden die Suche nach Wannabes Passwort waren ja seine eigentlichen Anliegen, die nun keine Verzögerung mehr duldeten.

Schnellen Fußes bewegte sich Sir Lukas über die knarrenden, alten Dielen des im Halbdunkel der Schreibtischleuchte recht gespenstisch anmutenden Chefbüros. Freakadelly hatte ihn erst jetzt bemerkt und eilte aufgeregt auf ihn zu, um ihm die Hand zu schütteln und ihn dabei mit seinen Fragen zu bombardieren: "Meine Güte, Lukas! Wo waren Sie denn heute Mittag? Alles hat auf Sie und ihre bezaubernde Gattin gewartet vor dem Standesamt von St.Pauls Cathedral. Haben Sie am Ende doch noch kalte Füße bekommen, oder gar ihre Frau?". Lukas schüttelte bedrückt sein Haupt: "Nein, kalte Füße nicht. Aber einen Schlag auf den Kopf gestern Nacht. Und dann war Yelena morgens verschwunden. Einfach weg, Harry! Jetzt sitzt sie in einem Flugzeug, das ursprünglich nach Paris startete, inzwischen aber in Richtung Osten unterwegs ist. Ich fürchte, man hat sie entführt. Und dank meinem Filmriß gestern Nacht gibt es nur eine Person, die Licht ins Dunkel bringen könnte, einen nicht geladenen Gast meiner Abschiedsfeier - Iwan Kowarno. Der brachte mich gestern nach Ihrem Fortgehen nach Hause. Er könnte wissen, was mit meiner Frau passiert ist. Oder er steckt selbst hinter dem Ganzen. An seine Akte komme ich allerdings nur mit einer Sicherheitsfreigabe des CI7, und ich hoffe nun, daß Du mir da irgendwie weiterhelfen kannst. Dein Schwiegersohn, den ich grad am Flughafen besucht habe, zeigt sich ja wie gewohnt wenig kooperationsbereit". Erst jetzt wurde Lukas der ungewollte kleine Ausrutscher in der Anrede seines Ex-Chefs bewußt, und er stammelte: "Entschuldigen Sie, Harry, daß ich in meiner ganzen Aufregung jetzt einfach so zum Du übergegangen bin!".

Harold Freakadelly klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter: "Belassen wir es doch einfach beim Du, Lukas!". Dann rieb sich der Yardchef sich nachdenklich mit der Hand übers bartstopplige Kinn und mulmelte bedrückt: "Was nun Deine Ausführungen angeht: Mein Gott, Lukas, das ist ja schrecklich. Yelena? Entführt? Was können wir da nur tun? Die Sicherheitsfreigabe des CI7 hab ich nicht, die hat tatsächlich nur mein Noch-Schwiegersohn". Entsetzt hielt er einen Moment inne und schlug sich mit der Hand vor den Mund: "Ich elendes Plappermaul! Das sollte doch keiner wissen. Du mußt mir versprechen, daß Du es keiner Menschenseele erzählst, Lukas! Eigentlich dürfte ja nicht mal ich es wissen. Ich weiß, sowas tut man nicht, aber ich hab halt gelauscht, als sich meine Tochter mit meiner Frau darüber unterhielt. Ja, es sieht so aus, als würden Charles und unsere Janet sich scheiden lassen. Sie hält ihm vor, daß er seine Simone mehr liebt als sie. Na Simone eben, die von mir geschenkte Yacht, die Charles nach seiner über alles geliebten Mutter benannt hat und mit der er deutlich mehr Zeit verbringt als mit seiner Frau. Für meine - an diesem Zustand sicher nicht ganz unschuldige - Janet ist das genauso schlimm und unverzeihlich wie ein Seitensprung. Vielleicht sogar noch schlimmer, denn mit dieser hölzernen Lady und ihrem makellosen Äußeren kann sie ihrer Meinung nach nicht konkurrieren. Aber entschuldige, ich schweife vom Thema ab. Deine Braut ist verschwunden, und ich nerv Dich hier mit meinem privaten Pillepalle. Also, was den Zugang über den CI7 betrifft, kann ich Dir leider nicht weiterhelfen. Denn Charles' Passwort kenne auch ich verständlicherweise nicht. Gibt es denn nicht sonst noch etwas, was ich für Dich tun kann?".

Lukas, der die ganze Zeit traurig den Kopf gesenkt gehalten hatte, nickte nun eifrig: "Also, zum einen wüßte ich gern mehr über eine gewisse Terrorgruppe, die Wannabe mir gegenüber erwähnt hat: Nowoij Djehn. Dann könntest Du Tim Hackerman aus der Personalabteilung beurlauben, damit er mit mir auf die Suche nach Yelena gehen kann, welche wir inzwischen auf dem Weg nach Rußland vermuten. Und ein dritter Mann aus den Reihen des Yard wäre auch gut, falls es mal brenzlig wird". Freakadelly überlegte einen Moment, dann erwiderte er: "Aber das sind ja gleich drei Wünsche auf einmal! Also, hübsch der Reihe nach ... Da die besagte Terrorvereinigung 'Nowoij Djehn' Sache des CI7 ist, weiß ich darüber auch bei weitem nicht alles. Ich kann Dir eigentlich nur soviel sagen, daß es sich um eine relativ neue, von Rußland agierende Truppe aus ehemaligen Söldnern und KGB-Leuten handelt, deren oberster Anführer uns derzeit noch völlig unbekannt ist. Sie hat sich neben terroristischen Anschlägen weltweit auch auf den Diebstahl und Verkauf wertvoller Kunstgegenstände spezialisiert. Mehr weiß ich darüber nicht. Was nun Deine personellen Anfragen angeht: Mister Hackerman stelle ich Dir gern zur Verfügung, inoffiziell versteht sich. Der Junge hat, soweit ich weiß, eh noch ein paar Tage Urlaub offen, die er dafür ohne weiteres nehmen kann. Was den von Dir gewünschten dritten Mann angeht, sehe ich leider schwarz. Der Einzige, den ich momentan entbehren könnte, wäre dieser Crawler, aber auf den kannst Du ja sicher mit Kußhand verzichten, oder?! Und dann gibt es da noch ein viel größeres Problem. Ich hab vor einigen Minuten nämlich von Charles per Email ein Memo erhalten, daß alle Flughäfen bis auf weiteres gesperrt bleiben. Diese Anweisung kann nicht mal ich umgehen, da der CI7 nicht mir sondern einzig und allein der Befehlsgewalt des Premierministers untersteht. Und ich glaube, noch nicht einmal das ist dem guten Charles recht. Am liebsten wäre er wahrscheinlich selbst der oberste Regierungschef im Königreich. Na egal, jedenfalls scheidet damit ein Flug Richtung Osten schon mal von vornherein aus. Einzige Ausweichmöglichkeit wären im Moment die Bahnhöfe, wobei eine Zugfahrt nach Rußland allerdings einige Tage in Anspruch nähme. Und selbst da gibt es immer noch ein riesiges Problem. Du und Deine Begleitung, Ihr müßtet ohne offizielle Rückendeckung vom Status her als Privatpersonen reisen. Für eine Einreise nach Rußland benötigt man da bekanntlich eine offizielle Einladung sowie ein gültiges Visum. Und auch das kann ich Dir leider nicht beschaffen, da komme ich nun mal nicht ran! So leid es mir tut, alles in allem halte ich das Ganze nach meinem Ermessen für eine unmögliche Mission. Du weißt doch, wie das mit solchen Missionen ist: Wenn Du oder jemand in Deiner Begleitung festgenommen oder schlimmeres werden, das Yard und ich müßten jede Kenntnis bestreiten! Wenn Du es allerdings dennoch irgendwie versuchen willst ...".

Mit diesen Worten ging Freakadelly zu seinem Schreibtisch, öffnete ihn und entnahm einem der Fächer ein kleines sibernes Elektrogerät in der Form eines Walkmans. Er übergab das Teil, welches sich laut Aufschrift "Digital Dictator" nannte, dem etwas ungläubig dreinblickenden Lukas und sprach: "Schau nicht so! Das ist ein digitales Diktiergerät, damit Du wichtige Gespräche und Gedanken ohne Verzögerung festhalten kannst. Glaub mir, selbst in meinem Alter ist so ein Ding Gold wert. Es besitzt noch dazu nur zwei extra große Tasten - eine zum Aufzeichnen und eine zum Abspielen der Aufnahme - und ist somit auch für die technisch ein wenig Unbedarften geeignet. Der Speicher ist groß genug, um etwa 24 Stunden aufzuzeichnen, das sollte genügen. Und wenn Du wieder da bist, dann hören wir uns Deine Erlebnisse als Hörspiel gemeinsam bei einem schönen Glas Whisky an. Nimm schon! Mir ist doch längst klar, daß Du es ja trotz aller widrigen Umstände doch wagen willst". Lukas nahm das Gerät an sich und schüttelte dabei energisch den Kopf: "Nein, Harry! Ich will nicht, ich muß! Eine Ahnung sagt mir, daß es ein schreckliches Ende nähme, wenn ich es nicht tun würde! Koste es also, was es wolle, ich werde meine Yelena suchen und finden. Und ich geb nicht eher Ruhe, bis sie wieder gesund und munter in meinen Armen liegt, das gelobe ich!". Dabei rieß der Ex-Inspektor seine rechte Hand mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger geradezu beschwörend nach oben. Harold Freakadelly nickte verstehend: "Dann wünsche ich Dir viel Glück, Lukas! Du wirst es brauchen können. Aber wenn es überhaupt einer schaffen kann, dann ganz sicher Du, mein Freund!". Svensson warf unterdess noch einmal einen kurzen prüfenden Blick auf das bereitgestellte Diktiergerät. Dann ließ er es rasch in der linken Tasche seines Trenchcoats verschwinden und meinte schmunzelnd: "Weißt Du, daß ich das noch erleben darf - einen Diktator, den ich im Handumdrehen in die Tasche stecken kann". Die Bemerkung entlockte nun auch Harold Freakadelly bei allem Ernst der Lage ein kleines verstohlenes Lächeln.

Beide Männer schlossen sich noch einmal fest in die Arme, dann machte Lukas auf dem Hacken kehrt und war bereits im Begriff zu gehen, als Freakadelly plötzlich rief: "Warte mal! Ich ruf rasch noch bei Tim Hackermans Vorgesetztem an, der gute alte Mister Cowley ist nämlich ein Skatkumpel von mir und wie ich bekennender Nachtschwärmer. Dann ist der Urlaub Deines Adjudanten schon mal offiziell, und es gibt morgen ... äh heute ... früh bei seinem Nichterscheinen keine Probleme!". Freakdelly nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, holte sein kleines schwarzes Telefonbuch aus der offenstehenden Schreibtischschublade hervor und drehte dabei gleichzeitig an einem kleinen, kaum sichtbaren Knopf in seinem rechten Ohr. Lukas staunte bei diesem ungewohnten Anblick nicht schlecht: "Du trägst ein Hörgerät, Harry?!". Freakadelly sah zu ihm herüber, während er die Nummer des Leiters der Personalabteilung wählte: "Tja, man wird eben älter, mein Guter. Ich bin ja schon froh, wenn mich meine Tochter noch nicht ins Heim stecken läßt. Weißt Du, ich glaube, ich werde auf diesem Posten hier nicht alt. Das wird mir alles auf die Dauer zu viel. Mein Vorgänger, der gute alte Eddi Wallace hat mich neulich angesprochen, ob ich nicht als Teilhaber in sein 'Gasthaus an der Themse' einsteigen will. Das Geschäft läuft ihm zufolge nämlich geradezu kriminell gut, vor allem seit seine drei alten Kriegskameraden Joachim - genannt der Fuchs - Berger, Heinz - besser bekannt als der Drache - und sein Vornamensvetter Edi A. Rent dort mit ihrer Gruppe 'The Kinskies' ordentlich für Stimmung sorgen. Vielleicht nehm ich das Angebot ja an, mal sehen. Aber bitte red noch nicht davon! Das von meinen Zukunftsplänen weiß nämlich noch keiner außer mir, und es wär schön, wenn das auch noch ein Weilchen so bleibt". Und mit einem kurzen prüfenden Blick auf den Telefonhörer in seiner Hand ergänzte er: "Warum knackt denn dieses blöde Teil schon seit ein paar Tagen so merkwürdig? Scheint so, als würde der alte Apparat langsam den Geist aufgeben. Ist wohl hier im Büro nicht nur was meinen Posten betrifft mal langsam Zeit für eine Neubesetzung!". Im gleichen Moment hatte Freakadelly den gewünschten Gesprächspartner in der Leitung und teilte ihm sein Anliegen mit. Einige Sekunden später legte er den Telefonhörer auf und riß freudestahlend den Daumen der linken Hand nach oben: "Alles geregelt, mein Freund! Auf los geht's los! Ich hoffe, wir sehen uns bald alles gesund und munter bei Deiner Hochzeit wieder!". Lukas nickte: "Das hoffe ich auch! Und danke für alles, Harry!". Freakadelly winkte nur sacht ab, dann ließ er den Ex-Inspektor seines Wegs ziehen. Auf dem Gang kassierte Svensson noch rasch den wartenden Timmy ein, der ihn mit Hilfe der Anpeilung Yelenas über sein Handy aus darüber in Kenntnis setzte, daß sich der vom Kurs abgewichene Flieger weiter schnurstracks in Richtung Rußland bewegte. Die beiden Männer ließen sich erneut "liften" von ganz oben bis ins Erdgeschoß, wo sich der Ex-Inspektor an der Rezeption von George noch rasch seinen längst wieder getrockneten Trenchcoat geben ließ. Und schon wenige Minuten später liefen sie im strömenden Regen die Stufen vom Haupteingang des Yard hinab zu Timmys Wagen.

Just in diesem Moment trat ihnen aus einer dunklen Ecke des Hofes Derrik Crawler in den Weg, nur mit seinem teuren Maßanzug bekleidet und naß wie ein begossener Pudel: "Sir, Mister Svensson! Mister Freakadelly hat mich gerade eben nach ihrem Aufbrechen aus seinem Büro angerufen und gefragt, ob ich Sie und Mister Hackerman nicht bei Ihrer Mission unterstützen möchte. Und wenn Sie erlauben, dann würde ich das gern tun. Auf so eine Chance warte ich nämlich schon eine Ewigkeit, wissen Sie! Bitte, lassen Sie mich mitfahren! Sie werden es nicht bereuen, Sir!". Timmy, der Crawler von Lukas' Erzählungen her nur allzu gut zu gut zu kennen glaubte, schubste den triefenden Anzugträger unsanft von seinem Auto weg: "Ausgerechnet Sie wollen uns helfen! Nein, lassen Sie mal gut sein, mein Herr! Auf Ihre Hilfe verzichten wir dankend!". Zu Timmys Erstaunen meldete sich an dieser Stelle Lukas auf ein, für ihn ganz überraschende Art und Weise zu Wort: "Mister Crawler, danke für Ihr Angebot! Mister Hackerman und ich können, denke ich, momentan jede Hilfe gebrauchen, die wir bekommen. Und darum gebe ich Ihnen trotz all unserer Differenzen in der Vergangenheit diese Chance. Jeder Mensch hat es verdient, daß man ihm die Möglichkeit gibt, sich zu beweisen und zu bewähren. Also, was unsere früheren Auseinandersetzungen betrifft: Schwamm drüber! Vielleicht sind ja gerade Sie als langjähriger Weggefährte Wannabes genau der Richtige, was die Lösung eines unserer dringensten Probleme betrifft! Und nun, steigen Sie erstmal ein!". An den verdattert schauenden Tim gerichtet aber fügte er hinzu: "Timmy, mein Freund! Jetzt erstmal rasch zu mir und Dir nach Hause, Sachen packen für die Reise. Und ich denke mal, für unseren neuen Weggefährten Mister Crawler finden wir bei Dir auch noch was Trockenes zum Anziehen. Ihr seid Euch ja zumindest rein äußerlich doch irgendwie ziemlich ähnlich" ...

EPISODE 4: ALLE WEGE FÜHREN NACH MOSKAU

Dicke Regentropfen prasselten unvermindert auf die Straßen und Plätze Londons hernieder. Grelle Blitze zuckten, gefolgt von ohrenbetäubendem Donner. Und ständig wiederkehrende, stürmische Windböen scheuchten das herabgefallene bunte Herbstlaub der Bäume auf dem spärlich beleuchteten Innenhof von Scotland Yard hin und her.

Svensson, Crawler und Hackerman nahmen eilig im Innern des Autos platz - Lukas und Timmy vorne, ihr neuer Begleiter auf dem Rücksitz. Von Crawlers klitschnassen Haaren tropfte dabei das Wasser im Sekundentakt auf Timmys scheinbar nagelneue lederne Sitzbezüge. Der junge Fahrzeughalter drehte sich zu dem ihm auf Anhieb immer unsympathischer werdenden Hintermann um und knurrte erbost: "Passen Sie gefälligst auf, die Bezüge waren teuer, Sie Schnösel! Auch wenn sowas für sie nur Peanuts sind, für mich stellen 60 Pfund ein kleines Vermögen dar!". Mister Crawler entschuldigte sich höflich und trocknete die nassen Haare notdürftig mit seinem fast ebenso feuchten Jacketärmel. Und zu Svensson gewandt sagte er: "Sir, Mister Freakadelly hat mir am Telefon auch gesagt, daß sie eventuell das Zugangspasswort von Mister Wannabe benötigen, um an eine bestimmte Personenakte zu gelangen. Ist das so?!". Lukas nickte erstaunt, während Crawler bereits in seinen Ausführungen fortfuhr: "Vielleicht kann ich behilflich sein?! Ich hab ja - wie Sie schon sagten - einige Jahre mit Mister Wannabe zusammengearbeitet. Da bekommt man vieles mit, auch vom Privatleben und ganz bestimmten Interessen. Nun, die meisten Menschen wählen doch ihre Paßwörter nach persönlichen Präferenzen, nicht wahr?! Also, wie ich eben so im Regen stand und wartete, da hab ich so hin und her überlegt. Und ich würd es an Ihrer Stelle mal mit dem Vornamen seiner Mutter probieren, an der er - glaub ich - sehr hing und nach der er doch auch seine Yacht benannt hat: SIMONE!".

Tim winkte ab, während er gleichzeitig den Motor startete: "Was weiß der schon?! Steht plötzlich da, macht einen auf nett und mischt sich in Sachen, die ihn einen Dreck angehen und von denen er eh null Ahnung hat". Der Ex-Inspektor neben ihm zeigte sich der Idee Crawlers gegenüber da bei weitem aufgeschlossener. Er klopfte Tim sanft auf die Schulter und meinte: "Na, nun sei mal nicht so, Timmy! Es schadet doch nichts, wenn wir Mister Crawlers Vorschlag mal ausprobieren, oder?!". Ein wenig genervt drehte Tim Hackerman den Zündschlüssel seines Wagens wieder zurück, so daß der Motor verstummte. Er warf einen grimmigen Blick nach hinten und raunte: "Meinen Laptop, wenn ich bitten darf! Der silberne Kasten, da neben Ihnen!". Damit deutete er auf das zusammengeklappte Notebook zur Linken Derriks. Crawler reichte es Timmy mit freundlicher Mine, der aber entriß es ihm förmlich und klappte es dann auf seinem Schoß ein wenig unwirrsch auf. Wieder begann Timmy nach dem Hochfahren des Rechners sein rasantes Tastenspiel und nach Eingabe des Paßwortvorschlags SIMONE gab der Server zu seinem Erstaunen plötzlich und unerwartet den nunmehr uneingeschränkten Blick auf die Akte Kowarno frei. Natürlich verlieh Timmy seiner innerlichen Überraschung nach außen hin keinrlei Ausdruck. Nein, diesen Triumph wollte er dem eingebildeten Pinsel hinter ihm auf keinen Fall gönnen. Stattdessen raunte er gelangweilt: "Naja, das blinde Huhn und das sprichwörtlich gefundene Korn, das kennt man ja! Früher oder später wären der Inspektor oder ich da auch allein drauf gekommen! Also, dann schaun wir mal, was wir da haben: Iwan Kowarno. Russischer Staatsangehöriger. Geboren am 11. September 1955 in Moskau, 1 Meter 92 groß. Haarfarbe: Schwarz. Augenfarbe: Blau. Familienstand: Geschieden. Beruf: ehemals Ex-KGB-Agent, derzeit vermutlicher Anführer der Terrorgruppe 'Nowoij Djehn'. Steht auf der Fahndungsliste von Interpol. Besondere Merkmale: Sportlicher Typ, Anschrift: Moskau, Newski Prospekt, Nummer 222. Und er war von 1974 bis 1997 verheiratet. Seine Ex-Frau heißt ... Moment, das kann nicht sein! Das ist doch wohl nicht möglich ...". Lukas war neugierig, was seinem Schützling so plötzlich die Sprache verschlug und den Mund offenstehen ließ. Und so ergriff er nun selbst jenen mysteriösen Elektronikkasten, um dessen "Kollegen" er sonst doch stets tunlichst einen großen Bogen zu machen pflegte. Seine Augen überflogen die Akte Kowarno, dann riß auch er mit einem Male Augen und Mund weit auf. Minutenlang herrschte bedrückte Stille im Auto. Auch Derrik Crawler sagte kein Wort. Es war schließlich Tim Hackerman, der als erster die Sprache wiederfand. Vorsichtig entwand er dem immer noch erstarrt dasitzenden Lukas den Laptop wieder, klappte ihn zusammen und reichte ihn über die Schulter - sogar ohne jeglichen abwertenden Kommentar - nach hinten an Crawler weiter. Und während er den Wagen abermals startete, sprach der Svensson-Schützling entschlossen: "Dafür gibt es ganz gewiß eine logische Erklärung. Und die finden wir wohl kaum, wenn wir weiter nur hier rumsitzen. Wir haben schließlich ein Ziel vor Augen und einen dazugehörigen, sehr engmaschigen Zeitplan. Weiter nachdenken können wir auch während der Fahrt. Los geht's! Zuerst mal zu Ihnen, Sir!". Nur Sekunden später verließ das Auto mit den drei Männern mit quietschenden Reifen den Hof des Yard, durch Yussufs geöffnete Schranke hindurch hinein ins nächtliche London.

Weitaus weniger rasant - wenn auch gleich mit deutlich höherem Tempo - reiste es sich unterdess etwa Tausend Kilometer weit entfernt über den Wolken, wo die Freiheit ja bekanntlich grenzenlos sein soll. Und das schien sie an Bord der Boeing 737 der Fluggesellschaft Scotish Travel mit der Flugnummer 241 auch zu sein. Zwar flackerte das Licht in dem langen, schmalen Gang des Fliegers ein wenig, doch ansonsten unterschied sich das Geschehen hier auf den ersten Blick ganz und gar nicht von dem normaler Linienflüge. Die 112 Passagiere saßen ruhig und wohlgeordnet in Reih und Glied angeschnallt auf ihren Plätzen, und das sogar, obwohl schon seit langem das rote Warnlicht auf dem "Fasten Your Seatbealts"-Schild überm Eingangsbereich erloschen war. Auf dem Gang lief in einer korrekt sitzenden Uniform eine hübsch anzusehende, junge Dame hin und her, der zum normalen Erscheinungsbild einer Stewardess eigentlich nur noch das kleine, klappernde Wägelchen mit all den Erfrischungsgetränken und diversen kleinen Snacks fehlte. Erst hier zeigte sich nun, wie sehr der erste Anschein doch manchmal trügt. Denn anstelle jenes Servierwagens hielt die uniformierte Frau in ihrer rechten Hand eine silbern glänzende Pistole vom Typ Makkarow und in der linken eine fest zusammengedrückte, vom Sicherungsstift befreite Handgranate. Mitten im Gang blieb die grimmig dreinschauende, kühle Blonde plötzlich stehen und brüllte mit gebrochen russischem Akzent: "Damen und Herren, ich Sie herzlich begrüßen an Bord von Maschine ST 241 auf unplanmäßiger Flug nach Moskau in Herz von Mütterchen Rußland! Ich Sie dürfen jetzt mit ein paar für Sie überlebenswichtigen Sicherheitshinweisen machen vertraut. Erstens: Sollten versuchen Sie, irgendwie mich oder meine beiden Begleiter zu greifen an, wir Sie entweder töten oder aber schönes Flugzeug machen Peng! Das wir nicht wollen, oder?!". Bekräftigend schüttelte sie hämisch grinsend ihr süßes Köpfchen hin und her, während sie in ihren Ausführungen unvermindert fortfuhr: "Zweitens: Wenn Sie wollen überleben dieses Flug, Sie sich verhalten ganz ruhig und bleiben schön sitzen auf breite Hinterteil und ohne Wenn und Aber alles tun, was Onkel Iwan, Onkel Boris und Tante Katjuscha - das ich sein - verlangen von Ihnen. Und drittens: Wer Held spielen oder Maul reißen zu weit auf, außer uns natürlich, der sein schon jetzt so tot wie Maus! Ich denke, haben Sie alles verstanden, auch wenn mein Englisch nicht so perfekt. Aber keine Sorge, werden ich besser mit jedes Flugzeugentführung!". Noch einmal grinste die Blondine angestrengt übers ganze ergrimmte Gesicht, dann machte sie kehrt und stolzierte wie ein Model auf dem Laufsteg zu ihrem Platz zurück, wo ihr Nebenmann Boris Rabiatowitsch schon beifallklatschend auf sie wartete: "Bravo, bravissimo, Katka! Was für ein Auftritt! Sollten wir fliegen mit Dir non stopp nach Hollywood Amerika! Neues Sternchen am Himmel sein geboren!".

Katjuscha aber winkte nur ab, während sie wieder Platz nahm und ihrem Vordermann auf die Schulter klopfte: "So, jetzt es sein Zeit für Dein Auftritt bei Flugzeugführer, liebstes Wainka, mein großes Meister!". Der Angetippte drehte sich um und lächelte sie an: "Du hast Recht, mein Sonnenscheinchen, Zeit für Onkel Iwan, unseren Piloten nach dem neuen Kurs auch das Ziel mitzuteilen. Und dann muß ich ja auch noch die Herrschaften im Königreiche der Briten über unsere Forderungen in Kenntnis setzen. Als geübte Geiselnehmer wissen wir ja schließlich, was sich gehört. Oder was meinst Du dazu, meine kleine lang gesuchte Ausreißerin?!". Damit beugte er sich aus dem Halbdunkel seines Sitzes zu seiner Sitznachbarin herüber, und man konnte nun deutlich erkennen, daß es sich bei der Person des Anführers um niemand anders handelte als um jenen Iwan Kowarno, der am Abend zuvor scheinbar ganz zufällig auf Lukas Svenssons Junggesellenabschiedsfeier aufgetaucht war, und den dieser mit Derrik Crawlers Hilfe erst vor wenigen Minuten als vermeintlichen Kopf der Terrorgruppe "Nowoij Djehn" identifiziert hatte. Die Frau neben ihm aber, die sich - ein wenig benebelt wirkend - langsam unter ihrem Sicherheitsgurt hin und her wand, war Yelena - jene verschwundene Yelena Zladkaja, die zu dieser nächtlichen Stunde eigentlich längst den Familiennamen Svensson hätte tragen sollen. Nur mühsam gelang es ihr, die Augen zu öffnen und mit ihren schwer wie blei wirkenden Lippen Worte aus ihrem Mund herauszupressen: "Iwan, sein Du das? Was Du tun mit mir? Wo wir sein? Wo sein mein Lukas, was Du haben gemacht mit mein Mann?". Iwan schüttelte milde lächelnd den Kopf: "Dein Mann? Er ist nicht Dein Mann. Und wenn es nach mir geht, dann wird er es auch niemals werden. Dein Mann bin immer noch ich. Oder hast Du schon vergessen, was Du mir damals vor dem Standesbeamten in Leningrad geschworen hast? Mann und Frau, solange wir leben!". Jetzt war es Yelena, die wie in Zeitlupe den Kopf schüttelte, während sie die Augen einen Spalt weit öffnete und flüsterte: "Nein! Ich nichts haben vergessen, gar nichts. Nicht brutales Art von Dir, ständiges Saufen und schmutzige Geschäfte in Auftrag von KGB. Aber Du haben vergessen anscheinend, daß Ehe von Dir und mir längst sein geschieden, noch bevor ich gelaufen weg von Dir, weit weg nach London! Warum Du konntest nicht mich lassen in Ruhe dort, gerade jetzt, wo endlich ich haben Glück gefunden in Leben".

Eine verstohlene Träne entrann Yelenas Auge und bahnte sich - der Schwerkraft folgend - ihren Weg über die Wange bis sie von dort herabtropfend auf ihre Seidenbluse fiel und in deren dünnem Stoff langsam versickerte. Kowarno neben ihr aber lachte nur voller Hohn: "Dein Glück! Diese dämliche, greise Witzblattfigur von einem ehemaligen Bullen?! Daß ich nicht kichere! Der sitzt jetzt sicher zuhause, kühlt seine kleinen Wehwehchen und klagt dem Onkel Psychiater sein Leid von der armen, durchgebrannten Braut. Oder denkst Du, diese Lusche sucht Dich?! Nicht nach meinem genialen Abschiedsbrief auf dem Spiegel. Und erst recht nicht nach Deiner kleinen Herzschmerznachricht am CD Spieler. Respekt, mein Schatz! Daß Du zu so einem rührseligen Quatsch überhaupt fähig bist, hätte ich gar nicht gedacht. Muß Dir wohl wirklich eine Menge bedeuten, Dein kleines Yardmännchen! Na, egal! Den siehst Du jedenfalls nicht wieder! Der braucht Dich doch auch gar nicht, aber ich, ich brauch Dich - Dich und Deine ganz speziellen Fähigkeiten!". Unsanft tippte ihm von hinten erneut seine Komplizin Katja auf die Schulter: "Hey, Du! Ich sein Dein Schatz, und andere keine!". Kowarno drehte sich um und revanchierte sich für diesen Einwurf bei ihr mit einer schallenden Ohrfeige und den Worten: "Halt gefälligst Dein vorlautes Maul, wenn sich zwei Erwachsene unterhalten, Fräulein!". Schluchzend ließ sich die Geschlagene in ihren Sitz zurückfallen, wo Sitznachbar Boris sie umgehend mit ein paar eigenwilligen Zudringlichkeiten zu trösten versuchte. Kowarno löste derweil seinen Gurt, erhob sich und gab seinem Kumpan einen Klaps auf die übermütigen Finger: "Pfoten weg, Freundchen, die Tussi gehört mir! Besorg lieber schon mal unser reich bestücktes Kunstledertäschchen aus dem Frachtraum, während Katjuschenka die ganzen zivilen Idioten hier in Schach hält. Und dann machst Du, was die Passagiere angeht, wie besprochen, alles klar für später. Verstanden?!". Boris zog sofort die Krallen ein und nickte mit gesenktem Blick, während er aufstand und sich langsam den Gang herunter bewegte. Iwan Kowarno aber zog aus dem Hosenbund nun ebenfalls einen Revolver hervor und begab sich umgehend in den vorderen Teil des Flugzeugs, vorbei an den gefesselten und geknebelten Stewardessen ins Cockpit der Maschine.

In der Kabine wimmerte der Copilot in seinem Sitz. Blut entströmte dabei langsam seiner offensichtlich stark schmerzenden Schulter. Kowarno schaute bei seinem Eintreffen kaltschnäuzig zu ihm herüber und fauchte ihn an: "Klapp die Kinnlade hoch und stell endlich das blöde Gejammer ein! Ich hab doch gesagt, alles tanzt nach unserer Pfeife. Und da kommst Du mir mit Deinem störrischen 'Das mit dem Kurswechsel geht nicht!'. In der Politik geht das andauernd. Und überhaupt: Geht nicht, gibts nicht, kapiert! Selber schuld, wenn Du für diese einfache Lektion erst ein kleines Loch in den aufmüpfigen Pelz gebrannt bekommen mußt". Der Angeschnauzte preßte - so gut es ging - die Zähne zusammen, hatte er doch keine Lust, noch einmal Bekanntschaft mit dem Schießeisen des leicht erregbaren Russen zu machen. Kowarno nickte zufrieden und wand sich nun dem Piloten zu: "Wie war Dein Name noch gleich, Steuermännchen?". Stur geradeausblickend erwiderte der Pilot mit bemüht fester Stimme: "Mein Name ist James Wright, und der schwerverwundete Mann zu meiner Rechten, dem Sie gerade nicht mal mit einem Hauch von Respekt begegnet sind, ist mein Bruder John". Kowarno grinste: "Aha, so ist das! Die Gebrüder Wright, ja! Und Beides echte Helden und Pioniere der Luftfahrt, wie! Du kleines Äffchen mit der Lizenz zum Wolkenkratzen glaubst wohl, nur weil Du an Bord jetzt der einzige Überflieger bist, kannst Du hier die große Lippe riskieren?! Aber weit gefehlt, Freundchen! Mein Kamerad Boris war nämlich früher mal erstklassiger Kampfpilot einer MIG bei der Roten Armee. Da staunst Du, wie?! Du siehst, wir sind auf alle eventuellen Problemchen mit Möchtegern-Superhelden wie Dir vorbereitet. Und jetzt, wenn ich bitten dürfte, James, steuerst Du jenen Moskauer Flughafen an, dessen Zielkoordinaten ich Dir hier notiert habe". Mit diesen Worten überreichte er dem Piloten einen kleinen zusammengeknüllten Notizzettel aus der Tasche seiner tarnfarbenen Uniformhose. Und an den Copiloten gewandt, ergänzte er: "Und Du nimmst mal Deine Finger von dem kleinen Kratzer an der Schulter und machst mir ganz fix eine Verbindung mit dem Tower in London - also dem am Flughafen, nicht dem mit den Kronjuwelen. Um den kümmer ich mich vielleicht später nochmal, ebenso wie um Deine kleine schnucklige Freundin, die Stewardess!". Kowarno grinste über sein kleines Wortspiel, während den beiden anderen Anwesenden so gar nicht nach dummen Scherzen zumute war. John Wright tat wie ihm geheißen und übergab nach der Kontaktaufnahme das Funkgerät an den bewaffneten Terrorführer.

Obwohl ihn am anderen Ende der Leitung niemand sehen konnte, baute sich Iwan Kowarno augenblicklich selbstverliebt in stolzer Siegerpose auf und grunzte ins Mikro des Funkapparats: "Also aufgemerkt, meine lieben britischen Mithorcher! Ich hab Euer kleines süßes Maschinchen samt seiner Crew und den Passagieren in meiner Gewalt. Wenn Euch am Tod Eurer knapp 120 Landsleute ebenso wenig gelegen ist wie an schlechter Publicity, dann sorgt Ihr umgehend dafür, daß wir ohne Schwierigkeiten in Moskau landen können. Außerdem hätte ich für die diversen Unannehmlichkeiten bei dem nicht ganz planmäßig verlaufenen Flug gern eine kleine Aufwandsentschädigung von - sagen wir - einer Million. Englischer Pfund versteht sich, keine Rubel! Und zu guter letzt wäre es noch schön, wenn Ihr uns zu unserer kleinen Ankunftsfeier in Moskau ein paar zusätzliche Gäste einfliegen lassen könntet, und zwar alle 12 Inhaftierten aus dem handverlesenen Kreise unseres kleinen Heimatschützenvereins namens Nowoij Djehn. So, meine Herren und Damen von den zuständigen Antiterrorbehörden, das wärs! Es ist momentan 00.55 Uhr GMT. Ihr habt von jetzt an exakt 185 Minuten Zeit, meine Forderungen zu erfüllen, oder die erste Geisel stirbt, und dann im Johann Straußschen Dreivierteltakt alle 45 Minuten eine weitere. Habe die Ehre, die Herrschaften! Over and Out!".

Damit warf Kowarno den Funksprecher achtlos beiseite und schlenderte gemütlich vor sich her grinsend zurück zu seinen Mitverschwörern und zu Yelena, der die müden Augen längst wieder zugefallen waren. Iwan Kowarno betrachte die schlafende Schönheit ausgiebig von der Seite, während er sich wieder neben sie setzte und raunte: "Immer noch ganz süß, meine kleine Ex! Besonders wenn sie schläft, sogar dann, wenn man mit ein wenig Chemie nachhelfen muß". Und damit zückte er aus der Brusttasche seines olivgrünen Oberhemds eine Ampulle mit der Aufschrift "Airethin" und eine Plastikspritze samt Kanüle. Er zog die Spitze auf, und injizierte der schlafenden Yelena - ohne mit der Wimper zu zucken - fachmännisch eine größere Dosis der bläulichen Flüssigkeit. Es dauerte nur Sekunden, und die sanft Schlummernde verfiel in ein lautstarkes Schnarchen. Kowarno aber lehnte sich seelenruhig in seinen Sitz zurück und genoß bei leiser klassischer Walzermusik aus den bereitliegenden Kopfhörern den Rest des Fluges, während sein Lakai Boris im Gang auf und ab stampfend die zitternden Passagiere überwachte - in einer Hand Katjuschas Waffe und in der anderen jene rote kunstlederne Reisetasche, deren schwerwiegender Inhalt beim Laufen verdächtig klimperte, so als befände sich in ihr eine Unmenge metallener Gegenstände ...

EPISODE 5: BEDENKZEIT FÜR DURCHSTARTER

Die Regenschauer in der britischen Hauptstadt ließen langsam an Intensität nach. Der vor kurzem noch so stürmische Wind verlor immer mehr an Kraft, und nur ein Hauch von Kerosin durchstömte die vom mehrstündigen Gewitter gereinigte Nachtluft auf dem Flughafengelände. Auch der Abstand zwischen Blitz und Donner vergrößerte sich von Mal zu Mal spürbar, was ganz klar auf einen allmählichen Rückzug des Unwetters hindeutete.

Im Gegensatz dazu befand sich CI7-Einsatzleiter Wannabe auf dem Vormarsch. Schnellen, zackigen Schrittes bewegte er sich am Rande des Londoner Zentralflughafens Heathrow auf einen startbereiten Düsenjäger vom Typ Eurofighter Typhoon zu. Wenn der Superintendent eines auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann den Versuch so eines Möchtegernterroristen, ihn selbst an Arroganz und Ignoranz noch zu übertrumpfen. Deshalb verschwendete er nach dem Mithören von Kowarnos Forderungen auch keine einzige Sekunde an den Gedanken, sich um die Beschaffung der völlig unrealistischen Lösegeldsumme oder gar um die Freilassung der bereits ins Netz gegangenen Terrorbrüder dieses größenwahnsinnigen Spinners zu bemühen. Stattdessen hatte er sofort telefonisch die russischen Behörden kontaktiert und ihnen seine Mitarbeit angeboten. Die russische Administration, der Kowarno und seine Gruppe schon lange ein Dorn im Auge waren, hatte umgehend eingewilligt und Charles Wannabe sogar großzügig die Einsatzleitung vor Ort angeboten. Wannabe nahm das Angebot dankend an, auch wenn er längst wußte, was wirklich hinter der scheinbar so noblen Geste steckte. Die russische Regierung hatte einfach Bedenken, daß die Ewiggestrigen, die in ihrem Volke immer noch eine bedeutende Menge darstellten, ihnen für eine Aktion gegen Kowarnos Leute bei der anstehenden Wahl einen Denkzettel verpassen könnten. Außerdem befürchtete man sicher auch Unruhen oder Umsturzversuche, sollte man den zu Zeiten der Sowjetunion mehrfach ausgezeichneten KGB-Offizier Kowarno verwunden oder gar töten. Aber wenn ein Brite den Einsatz leitete, konnte man von russischer Seite getrost alle möglichen Fehlschläge und die Verantwortung dafür auf den Westen abwälzen, während man trotzdem gleichzeitig allein die Lorbeeren beim Erfolg der Mission einsacken konnte. Tja, so lief der Hase eben auf dem glatten diplomatischen Parkett. Das hatte sogar Mister Wannabe inzwischen verstanden.

Ein junger Mann in Uniform erwartete den eintreffenden Antiterrorchef der Yard-Spezialeinheit bereits und reichte ihm zur Begrüßung einen Anti-g-Anzug, den Wannabe in aller Schnelle überzog. Sein Gegenüber nutzte die Zeit für eine kurze Vorstellung: "Corporal Goldie Broiler, Sir, der Pilot dieses pfeilschnellen zweisitzigen Babys. Was Ihr Mitfliegen betrifft, da hab ich allerdings so meine Bedenken. Wissen Sie, mein Schmuckstück ist im Innern gerade erst ausgiebig gereinigt worden. Und was wir zwei Beiden hier vorhaben, ist ein Flug bei rasanten Mach 2, also zirka mit 2150 Stundenkilometern. Das ist schon ein klitzeklein wenig mehr, als Ihr nobler Privatflitzer auf der Autobahn so bringt. Tja, und wer wie Sie so ein schnelles Tempo nicht gewohnt ist, dem könnte da rasch das eben erst eingenommene Fünf-Sterne-Dinner gleich wieder aus dem Gesicht fallen - bei allem Resekt, Sir!". Wannabe, der den Ankleidevorgang inzwischen erfolgreich abgeschlossen hatte, musterte den Air Force Angehörigen von oben bis unten. Was erlaubte sich dieser Frischling eigentlich? Offensichtlich kannte er Wannabe und den ihm sonst vorauseilenden, allseits furchteinflößenden Ruf noch nicht. Aber das ließ sich leicht ändern. Wannabe packte den Mann am Kragen, holte ihn auf Flüsterabstand zu sich heran und brüllte los: "Sagen Sie mal, Sie halbes Hähnchen, Ihre Mami hat Sie wohl früher zu oft zu heiß gebadet! Zum einen hab ich hier das Kommando, und Sie stehen gefälligst stramm, wenn ich rede! Alles, was Sie zu sagen haben, ist: 'Ja, Sir!' und 'Danke, Sir!'. Und zum anderen hab ich in meiner aktiven Zeit als Wing Commander der Royal Air Force schon eine Harrier II geflogen, da haben Sie noch in die Windeln gemacht, Sie Grünschnabel! Und wenn Sie jetzt nicht sofort diese verdammte Maschine starten und uns mit doppelter Schallgeschwindigkeit nach Moskau katapultieren, dann sorg ich umgehend dafür, daß Sie nur noch ein einziges Mal fliegen - nämlich in hohem Bogen aus ihrem Dienstverhältnis. Hab ich mich klar genug ausgedrückt? Oder gibt es immer noch irgendwelche Bedenken Ihrerseits, Corporal?".

Der zusammengezuckte Düsenjägerpilot knallte augenblicklich die Hacken zusammen, riß seine Hand bis hoch an den Mützenrand und stammelte eingeschüchtert: "Ja, Sir! Ich meine: Nein, Sir! Alles klar, Sir! Darf ich Ihnen beim Einsteigen behilflich sein!". Und während der bibbernde Corporal ungeschickt versuchte, Wannabe an seinem Hinterteil in die Flugkabine des Eurofighters zu drücken, grinste der übers ganze Gesicht und flüsterte selbstzufrieden: "Na bitte, geht doch! Daß man aber auch bei diesen Kindsköpfen immer erst laut und ausfallend werden muß!". Wannabes Gesäß landete in diesem Moment federweich auf dem Sitz des Copiloten, so daß nun auch Pilot Broiler im Cockpit Platz nehmen konnte. Er checkte vor dem Start noch einmal eilends alle Geräte, dann schloß er die Cockpithaube und startete mittels Steuerknüppel und Schubhebel die Maschine. Innerhalb kürzester Zeit schossen er und sein Fluggast mit atemraubenden Tempo durch die Lüfte, der russischen Hauptstadt entgegen.

Im Zentrum Londons hielt zeitgleich Tim Hackermans nicht ganz so schneller Volkswagen vor dem Hauseingang Lukas Svenssons. Der Ex-Inspektor schaute traurig durch die regentropfenübersäte Autoglasscheibe nach oben, wo ihn im vierten Obergeschoß drei unbeleuchtete Fenster einmal mehr schmerzlich an die Verlassenheit seiner Wohnung erinnerten. In seinem Kopf kreiste dabei nur ein Gedanke: Seine Yelena war einmal Iwan Kowarnos Frau gewesen, daran bestand nach Einsicht der Kowarno-Akte kein Zweifel. Selbst wenn darin ihr Name an zwei klitzekleinen Stellen falsch geschrieben worden war, an den Zufall einer annährenden Namensgleichheit konnte nach der Lage der Dinge niemand ernsthaft glauben. Nein, so unbegreiflich der Sachverhalt für Lukas Svensson auch war, seine Yelena war einmal die Ehefrau eines hochrangigen sowjetischen KGB Agenten und jetzt weltweit gesuchten Topterroristen gewesen. Ratsuchend wandte er sich an Timmy: "Warum hat Sie mir nur nie davon erzählt, Tim? Ich versteh das nicht! Nicht mit einem einzigen Wort hat sie je diesen Mann erwähnt! Wieso?". Unschlüssig zuckte Tim mit den Schultern: "Vielleicht, weil sie die Erinnerung an ihn verdrängt hatte. Wahrscheinlich war er damals sogar der Grund für ihre Ausreise nach London. In ihrer Personalakte bei uns im Yard wird Kowarnos Name ja auch mit keiner Silbe erwähnt. Wer weiß, womöglich war er dem Alkohol verfallen, hat sie geschlagen oder noch Schlimmeres. Sowas ist gerade in Rußland kein Einzelfall, hab ich gelesen". Lukas schüttelte den Kopf: "Junge, wo liest Du nur diese ganzen Horrorgeschichten. Du solltest Dir mal eine vernünftige Zeitung besorgen, nicht immer nur diese Revolverblätter". Timmy winkte müde ab: "Aber Sir, Zeitung?! Wer liest denn heutzutage noch Zeitung, wo man doch alle Neuigkeiten im Netz findet?!". Der Ex-Inspektor aber entgegnete gelassen: "Schön und gut, aber dann gibt es in Deinem merkwürdigen Netz genauso viel an den Haaren herbeigezogene Stories wie in all den schwarz auf weiß gedruckten Käseblättchen. Was allerdings die Sache mit der hohen Rate an häuslicher Gewalt in Rußland, gerade brutale Übergriffe von Ehemännern an ihren Frauen betreffend, könnte schon was dran sein. Mir ist so, als wäre mir da gerade erst gestern ein ähnlicher Fall begegnet. Ich kann mich nur nicht mehr genau erinnern, wo. Aber was solls?! Das ist ja im Moment auch ganz unwichtig. Die Suche nach Yelena hat jetzt oberste Priorität. Also lauf ich rasch hoch und pack ein paar Sachen zusammen. Und Du und Mister Crawler, Ihr vertragt Euch inzwischen, ok?! Blutspritzer machen sich nämlich auch nicht gut auf Deinen frisch bezogenen Autositzen". Mit leicht knurrendem Unterton erwiderte Timmy: "Ok, Sir, ich bemüh mich!". Und von der Rückbank her ergänzte Derrik Crawler lächelnd: "An mir solls nicht liegen, Mister Svensson, Sir!". Lukas schüttelte unmerklich den Kopf über das ungleiche Pärchen seiner selbstgewälten Reisebegleiter, dann entstieg er dem Wagen und eilte schnellen Schrittes die Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Zwanzig Minuten später war er frischgeduscht und rasiert mit gepacktem Koffer zurück, und die Drei brachen nun zum nächsten, ein wenig außerhalb von London gelegenen Ziel ihrer nächtlichen Fahrt auf - Timmys Behausung.

Eine dreiviertel Stunde später hatten Svensson und sein Team auch dieses Etappenziel erreicht. Und während der durchnäßte Derrik Crawler in der kleinen Einraumwohnung nach einer kurzen heißen Dusche im Badezimmer noch schnell sein Haar trockenfönte, packte Timmy im Wohnzimmer eilig seinen Rucksack zusammen. Er wollte das leicht überfüllte Reisegepäckstück gerade unter vollem Körpereinsatz verschließen, als die Stimme Crawlers aus dem Bad an sein Ohr drang: "Vielen Dank für die Anziehsachen, Mister Hackerman, Sir! Wir haben tatsächlich dieselbe Kleidergröße, wie es unser scharfsinniger Mister Svensson schon ganz richtig erkannt hat". Lukas wunderte sich immer noch über Crawlers neu erwachte Bewunderung für seine Person, trotzdem kam er nicht umhin, sich ein wenig geschmeichelt zu fühlen. Und schmunzelnd antwortete er: "Na, dann paßt es ja, Inspektor Crawler!". Timmy baute sich derweil mit vor dem Bauch verschränkten Armen vor dem Ex-Inspektor auf und machte ein grimmiges Gesicht. Leise raunte er: "Paßt?! Wissen Sie, Sir, was hier nicht paßt? Was mir so ganz und gar nicht paßt? Daß dieser eingebildete Schnösel da in meinem Bad steht und sich meine Klamotten über den schmierigen Leib wirft. Die Sachen muß ich später bestimmt von einem Kammerjäger behandeln lassen, bevor ich sie wieder tragen kann. Wie können gerade Sie diesem elenden Wurm - wie Sie ihn selbst hundertmal bezeichnet haben - auf einmal einfach so vertrauen, Mister Svensson?!". Lukas schaute seinem erzürnten Schützling tief in die Augen: "Ach, Timmy! Gerade Du solltest das eigentlich am besten verstehen. Hatte man Dich nach Deinem Gefängnisaufenthalt nicht auch als ewigen Kriminellen abgestempelt. Aber ich hab Dir eine zweite Chance gegeben, die in meinen Augen jeder Mensch verdient hat!". Bedrückt senkte der eben noch so angriffslustige Tim Hackerman sein Haupt. Und kleinlaut flüsterte er: "Sie haben Recht, Sir! Ohne Sie und den von Ihnen vermittelten Job wäre ich vermutlich nach dem Knast gleich wieder auf die schiefe Bahn geraten. Und wer weiß, in was für grauenvolle Machenschaften ich inzwischen schon verstrickt wäre. Also gut, geben wir dem Schnösel eine Bewährungschance!". Timmy reichte Svensson die Hand, die dieser sogleich ausgiebig zu schütteln begann: "Ganz recht, Kleiner. Und gnade ihm Gott, wenn er auch die wieder vermasselt!". Just in diesem Augenblick kam Crawler in einem selbstgestricktem grauen Wollkragenpullover und abgewetzter Bluejeans aus dem Bad gestiefelt und fragte verblüfft: "Verabschieden Sie sich beide voneinander? Ich dachte, Mister Hackerman fährt mit uns, Sir!". Lukas Svensson nickte eifrig: "Das tut er auch! Wir brauchen für unsere geplante Reise nur noch rasch ein paar gültige Visa. Und ich hab auch schon eine Idee, wo ich die herbekomme. Doch dazu später. Fürs erste fährt uns Timmy mal zurück nach London, wo wir an der Victoria Station Mister Crawler absetzen, der dort schon mal unsere Fahrkarten für den Frühzug Richtung Moskau ordert. Also los, meine Herren!" ...

EPISODE 6: WEIBLICHE DIPLOMATIE

Im Rückspiegel von Tims Wagen verschwand in zügigem Tempo das Bahnhofshofgebäude der Londoner Victoria Station und mit ihm auch der winkende Derrik Crawler, den das Svensson Team wie zuvor besprochen dort zum Fahrticketkauf abgesetzt hatte. Timmy versuchte am Steuer krampfhaft, sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren, doch durch seine Gedanken spukte immer wieder die merkwürdige Wandlung Derrik Crawlers. Nicht nur, daß er dem sonst stets verachteten Svensson plötzlich völlig selbstlos half. Nein, eben gerade hatte er sich sogar Tims Handy ausgeliehen, um seine Freundin zu benachrichtigen, damit sie sich keine Sorgen machte. Und dabei wußte Tim bis dato noch nicht einmal, daß dieser Wurm überhaupt eine Freundin hatte. Er hatte immer angenommen, Crawlers einzige Freundin sei so ein aufgeblasenes Püppchen, außen Gummihülle und innen wie er - nur heiße Luft. Vielleicht stimmte das mit der Gummihülle ja sogar, so ein Geheimnis, wie dieser arrogante Knochen bis dato um seine bessere Hälfte gemacht hatte - und sie war eine von diesen Ruf-Mich-An-Ladies, die nachts mit strenger Miene durchs Werbefernsehen der Privatsender geisterten. Nun, wie dem auch sei, wenn es jedenfalls eine richtige Frau gab, die es mit diesem Schnösel aushielt, dann hatte sein Freund Lukas Svensson ja vielleicht Recht mit seiner These, daß in fast jedem noch so unliebsamen Zeitgenossen irgendwo ein liebenswerter Kern steckt.

Timmy trat das Gaspedal noch einmal ordentlich durch und steuerte auf der regennassen Straße das nächste Ziel der nächtlichen Reiseroute an. Und das, obwohl er mit der Adresse, welche ihm der Ex-Inspektor eben erst genannt hatte, so gar nichts anfangen konnte. Kensington Palace Gardens, Nummer 16?! Was bitteschön hatte denn diese Anschrift mit ihrem Vorhaben zu tun? Er wollte schon bei Svensson nachfragen, doch der schien momentan irgendwie beschäftigt. Es sah so aus, als dächte er nach, und Timmy als sein Freund wußte, daß man ihn dabei möglichst nicht stören sollte. Lukas schaute gedankenversunken aus dem Fenster auf die - in rasantem Tempo vorbeiziehende - langsam erwachende Londoner City. Obwohl: Konnte man da eigentlich überhaupt von einem Erwachen sprechen. War London nicht inzwischen längst eine dieser Metropolen wie New York, über die Sinatra ja sang, daß sie niemals schläft. Nein, wenn man sich genau umsah, entdeckte man rasch, daß sie nicht schlief, sondern überall mit ihren vielen bunten Schaufensteraugen blinzelte. Die ersten Weihnachtsdekos funkelten in den Auslagen diverser Geschäfte - kein Wunder, war es ja auch schon fast September. Ende Dezember hatten sich die Leute dann längst an der Weihnachtsbesinnlichkeit mehr als sattgesehen, so daß an den Feiertagen selbst gar keine rechte Feststimmung mehr aufkommen wollte. Ja, so war das, hier in London und der restlichen zivilisierten Welt - seit langem schon und alle Jahre wieder. Schon merkwürdig: Jetzt, wo er so über das Fest der Liebe nachdachte, kam es ihm vor, als sei es erst wenige Stunden her, daß er das letzte Mal ausgelassen Weihnachten gefeiert hatte, obwohl die letzte Weihnacht dem Kalender nach doch schon neun ganze Monate zurücklag.

Auch der Heiligabend 2008 kehrte noch einmal in Lukas' Gedächtnis zurück. Er hatte ihn im Scheine eines bunt geschmückten Lichterbaumes mit seiner Yelena bei selbstgemachtem Kakao mit einer Prise Zimt und dem traditionellen Weihnachtsstollen von Onkel Fritz aus dem fernen Deutschland verbracht. Punkt 18 Uhr hatten sie sich beim letzten Glockenschlag Big Bens zu den Klängen von "Stille Nacht" gegenseitig beschert. Lukas hatte einen langen selbstgestrickten Wollschal in blau, weiß und rot bekommen. Und Yelena fand in ihrem Päckchen zu ihrer Überraschung nur eine alte, gebrauchte Videokassette, auf derem abgenutztem Cover neben dem Filmtitel "Ist das Leben nicht schön?" noch mit blauem Filzstift der Vermerk "Liebste Yeli! Bitte sofort und bis zuende ansehen!!!" angebracht war. Man konnte ihr ihre Enttäuschung gut ansehen, auch wenn sie sichtlich bemüht war, diese zu verbergen, während sie jener handgeschriebenen Anweisung folgte. Die kommenden zwei Stunden hatten die beiden Liebenden stumm auf die Mattscheibe gestarrt, wo James Stewart als George Bailey der Frage nachging, was gewesen wäre, wenn er nie das Licht der Welt erblickt hätte. Nur hin und wieder hatten sich Lukas und Yelena dabei gegenseitig Taschentücher aus einer auf dem Tisch vor ihnen bereitstehenden Pappbox gereicht, um die Spuren zu beseitigen von dem einen oder anderen vergossenen Tränchen der Rührung. Als schließlich auf dem Bildschirm der Schriftzug "The End" aufflimmerte, wollte Yelena schon aufstehen und den Rekorder ausschalten, aber Lukas hielt sie kopfschüttelnd am Arm zurück. Yelena setzte sich wieder zu ihrem Lukas, dessen Gesicht schon wenige Sekunden später auch auf dem Bildschirm erschien. Der Lukas im Fernseher trug einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Schlips und sprach mit glänzenden Augen und feierlicher Stimme: "Das Ende? Nein, liebste Yelena, das ist nicht das Ende! Das ist erst der Anfang für uns Zwei. Es ist jetzt genau drei Jahre, vier Monate und vier Tage her, daß wir zum ersten Mal eine gemeinsame Nacht verbrachten. Und seit mehr als zwei Jahren leben wir nun schon fest zusammen in unserer Wohnung, die Du mir längst zu einem Zuhause hast werden lassen. Ein Heim, in dessen Schoß ich Abend für Abend gern zurückkehre. In meinem Universum dreht sich alles um Dich. Du bist meine Sonne, mein Stern und mein Leben. Ich liebe Dich, Yelena! Und alles, was da sonst noch zu sagen wäre, überlasse ich dem jungen Mann zu Deinen Füßen! Bitteschön, Lukas!". Das Videobild wackelte ein wenig, dann hörte man im Hintergrund zwei leise Männerstimmen, von denen die eine, welche zweifellos Lukas gehörte, flüsterte: "Na klar hab ich die Videoaufnahme am Rekorder ausgestellt, Timmy! Ich bin zwar ganz sicher nicht die hellste Leuchte am Mediamarkt, aber ich bin doch nicht blöd!". Im Bildausschnitt der aufnehmenden Videokamera erschien für einen Augenblick das Gesicht von Lukas' Schützling Tim Hackerman, der schmunzelnd den Kopf schüttelte, wobei er leise ins Mikrofon hauchte: "Nein, Sir, das wollte ich damit auch gar nicht gesagt haben, Ihre Fähigkeiten liegen halt nur auf ganz anderen Gebieten". Dann bewegte sich sein Zeigefinger seitlich an der Kameralinse vorbei, wo noch ein kurzes Klickgeräusch das Drücken eines Knopfes verriet, bevor auf dem Bildschirm augenblicklich anhaltendes graues Schneegestöber einkehrte. Yelena schmunzelte. Der Lukas auf dem Sofa neben ihr hatte von dem kleinen Fauxpas seines videotechnischen Alter Ego gar nichts mitbekommen, da er mit dem ganzen Oberkörper über die Sofalehne gebeugt verzweifelt irgendetwas zu suchen schien. Mit einem befreienden "Ah" auf den Lippen meldete sich seine obere Körperhälfte schließlich wieder aus der selbstgewählten Versenkung zurück. Der Inspektor kniete vor seiner Yelena nieder und hielt dabei in seinen zitternden Händen eine einzelne rote Rose. Und mit eben so zittriger Stimme fragte er nun seine Angebetete: "Liebste Yelena! Willst Du seine, also Lukas', ich meine meine Frau werden?". Statt einer Antwort warf sich Yelena ihrem Lukas einfach um den Hals und rief überglücklich: "Ja, ja, ja! Ein dreifach Ja, will ich! Und wie ich wollen das! Oh, Lukas, Liebster! Moij Zladik, mein Süßer! Yelena wollen Deine Zladkaja Svenssonskaja werden! Ich Dich lieben sooo sehr!". Und ihre Arme malten dabei ein riesengroßes Herz in die Luft. Ja, so war das damals gewesen, vor knapp zehn Monaten. Und jetzt, jetzt war sie weg - verschwunden, vermutlich entführt und verschleppt, und das von ihrem Ex-Mann, von dem sie Lukas noch nie etwas erzählt hatte. Und er, der zukünftige Mann an ihrer Seite, mußte sie erst suchen, finden und unter Umständen sogar befreien, wenn sie überhaupt jemals seine Braut werden sollte.

In diesem Augenblick riß ihn ein aufgeregtes Rütteln an seiner Schulter aus seinen Gedanken. Es war Timmy, der es nun - am Fahrziel angelangt - doch für angebracht hielt, seinen Fahrgast aus dessen Erinnerungen rasch in die Realität zurückzuholen. Lukas blickte aus dem Fenster auf hohes gußeisernes Tor, hinter dessen breiten Gitterstäben sich ein riesiges, schloßähnliches Gebäude erhob. Jenes große weiße Haus, wurde an den beiden dem Tor zugewandten Seiten von - zwei am Boden eingelassenen - farbigen Scheinwerfern beleuchtet, die das majestätische Gebäude zu dieser nächtlichen Stunde in einem merkwürdigen Zwielicht erstrahlen ließen. Svensson bat seinen Schützling, im Wagen auf ihn zu warten, während er selbst mit gezücktem Personalausweis dem Auto entstieg und auf das gußeiserne Tor zuging, hinter welchem ein Soldat mit vorgehaltenem Maschinengewehr patroillierte. Der Posten, welcher schon das Eintreffen des Volkswagens mit kritischem Blick beäugt hatte, erblickte den Mann im Trenchcoat und fragte ihn mit leichtem russischen Akzent nach dem Anliegen seines nächtlichen Besuchs. Der Angesprochene aber erwiderte: "Mein Name ist Svensson, Lukas Svensson. Und ich möchte gern die Botschaftsangestellte Nina Svensson sprechen". Das prüfende Auge des bewaffneten Uniformierten kontrollierte das ihm dabei von der Hand des Ex-Inspektors entgegengehaltene Paßdokument eingehend, dann nahm der Mann sein Funkgerät zur Hand und leitete in russischer Sprache die Anfrage weiter. In ebenso lupenreinem Russisch kam auch prompt die Antwort zurück, worauf der Posten den Kopf schüttelte und recht nüchtern erwiderte: "Nina Svensson, haben wir hier nicht". Auch Lukas schüttelte nun den Kopf und raunte: "Was soll denn der Blödsinn? Ok, dann versuchen Sie es doch bitte noch einmal mit dem Namen Nina Simowa". Dem Posten paßte dieses kleine Namensspiel offensichtlich ganz und gar nicht, dennoch prustete er grimmig auch diesen Namen in sein Funkgerät. Diesmal fiel die Beantwortung der Anfrage deutlich positiver aus. Der Uniformierte nickte und sprach: "Bitte warten Sie, die gewünschte Person wird informiert und kommt dann hier zu Ihnen!".

Es dauerte ein paar Minuten, bis jene gewünschte Person schlaftrunken mit einem übergeworfenen Morgenmantel und Pantoffeln an den Füßen von einem kleinen Nebengebäude her auf das Tor zuschlurfte. Sie blinzelte bei ihrem Eintreffen dem Ex-Inspektor entgegen, dann murmelte sie: "Du? Was um alles in der Welt treibt Dich denn um diese nachtschlafende Zeit hierher? Es ist doch nichts mit Lisa, oder?!". Lukas schüttelte den Kopf: "Nein, mit unserer Lisa ist nichts. Aber vielleicht können wir mein Anliegen ja auch in Ihrer Wohnung bei einem schönen warmen Gläschen Schwarztee mit Milch besprechen, so wie früher, Fräulein Simowa". Die leichtbekleidete Frau trat ein wenig näher an die Gitterstäbe heran und flüsterte: "Psst, nicht so laut! Das mit dem Namen hat nichts mit Dir zu tun. Es macht sich eben für eine Botschaftsangestellte der Russischen Föderation einfach besser, wenn sie auch einen russisch klingenden Namen trägt. Und damit ich hier vor dem Posten nicht noch mehr in Erklärungsnotstand gerate, laß uns Deinen Vorschlag aufgreifen und drin weiterreden, alter Erpresser". Damit trat sie wieder ein wenig vom Tor zurück und redete auf den uniformierten Wachmann ein. Dieser nickte mehrfach und öffnete dann das Tor einen Spalt weit, so daß Lukas Svensson eintreten konnte. Nachdem er dem Posten seinen Ausweis als Pfand ausgehändigt hatte, bewegte er sich mit der Pantoffelheldin Nina Simowa an seiner Seite zügig in Richtung ihres Wohnhauses, in welchem die Beiden Sekunden später aus Timmys Blick entschwanden.

Lukas nahm ohne Umschweife auf dem roten Sofa im Wohnzimmer der luxuriösen Behausung seiner etwas unfreiwilligen Gastgeberin Platz: "Schön hast Du es hier, ist schon was anderes als unsere kleine gemeinsame Zweieinhalbzimmerwohnung damals, als wir Zwei noch Misses und Mister Svensson waren. Aber ich will nicht lang drumherum reden. Was mich zu Dir führt, ist eine ernste Angelegenheit ...". Nina, die bis dato mitten im Zimmer stand, machte sich auf den Weg in die Küche, während sie sprach: "Ich hab das Gefühl, Du nutzt es ziemlich schamlos aus, daß unser Umgang miteinander seit unserer - von meiner Seite her etwas unfreiwilligen - Begegnung beim Konzertauftritt unserer Tochter vor zwei Monaten wieder ein wenig normaler geworden ist, oder?!". Lukas verdrehte den Kopf und rief ihr im Gehen nach: "Nun, ja! Lisa hatte eben das Gefühl, daß 16 Jahre des Schweigens genug seien für ihre Eltern. Und ich finde, damit hatte sie absolut recht, oder?!". Svenssons Exfrau, die inzwischen in der Küche verschwunden war, lugte noch einmal um die Ecke: "Bevor Du jetzt weiterredest, hab ich da mal zur Abwechslung noch eine Frage! Möchtest Du Deinen Tee wie früher mit ...". Lukas, der die Bemerkung über das schamlose Ausnutzen wohlwollend überhörte, nickte: "Ja, mit zwei Stückchen Zucker und einem großen Schuß Milch. Das Ganze bitte gerührt und nicht geschüttelt, wenn's geht". Nina schmunzelte: "Immer noch derselbe alte Kindskopf. Manche Dinge ändern sich eben nie! Also gut, wie Sie wünschen, Mister Bond!". Svensson lehnte sich im weichen Leder des Sofas zurück und hielt ihr lächelnd den drohenden Zeigefinger entgegen: "Also, das mit dem Kindskopf laß ich mir ja gefallen, aber das alt verbiete ich mir, wenn's recht ist. Ich bin ein Mann in den besten Jahren, den Anfangsjahren des Rentenalters nämlich". Nina kam inzwischen aus der Küche mit einem Tablett und zwei Tassen dampfend heißem Tee zurück, welche sie auf dem kleinen Glastisch vor dem Sofa abstellte. Dann nahm sie auf einem der danebenstehenden Ledersessel Platz und fragte: "So, Spaß beiseite, Du Senior, Du! Was ist nun der Zweck Deines nächtlichen Überfalls?". Zu ihrer Überraschung schwieg ihr sonst so redseliger Exmann und starrte entgeistert auf die flimmernden Bilder, die dem vorm Glastisch in einer Schrankwand stehenden Fernsehgerät entströmten. Langsam deutete der eben noch drohende Zeigefinger seiner linken Hand auf das Fernsehbild, während Lukas aufgeregt stotterte: "Das ... das ... ist ... ist er ... der Grund! Mach bitte mal den Ton lauter, ja?!". Nina tat entgeistert wie ihr geheißen, und schon Sekunden später drang eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher des TV Gerätes: "Wie soeben bekannt wurde, haben Mitglieder der terroristischen Vereinigung 'Nowoij Djehn' ein Flugzeug der Gesellschaft Scotish Travel mit 120 Passagieren in ihre Gewalt gebracht. Wie die mehrköpfige Gruppe trotz der strengen Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen überhaupt in den Flieger gelangen konnte, ist noch völlig unklar. Bekannt ist hingegen, daß sie an Bord unter Anwendung von Schußwaffen die Crew überwältigte und die Besatzung wie auch die Passagiere als Geiseln nahm. Der ursprüngliche Kurs in Richtung Paris wurde von den Entführern geändert, so daß sich die Maschine momentan nach Osten bewegt. Wie uns ein Sprecher der britischen Antiterroreinheit CI7 soeben mitteilte, hat der Anführer der Terroristen bereits Kontakt aufgenommen und fordert neben einer Million Pfund Lösegeld auch die sofortige Freilassung sowie das Ausfliegen sämtlicher bereits inhaftierter Mitstreiter nach Rußland. Wir halten Sie über die weitere Entwicklung des Geiseldramas auf dem Laufenden und unterbrechen, sobald sich Neuigkeiten ergeben, unser laufendes Programm. Tom Headline für Newsflash TV".

Nina schaltete den Fernsehton auf stumm. Lukas aber senkte den Blick und ließ dabei auch seinen bleischwer werdenden Körper immer tiefer ins Leder des Sofas sinken, während er schluchzte: "Mein Gott, Nina! Sie ist an Bord dieser Maschine. Yelena! Wahrscheinlich gekidnappt von diesem Terrorpack. Und niemand kann mir helfen, sie da sicher wieder herauszubringen. Hast Du die Forderungen gehört?! Das Königreich und die gesamte frei Welt würden für immer das Gesicht verlieren, wenn sie sich darauf einließen. Nein, die werden Wannabe und Co nach Moskau entsenden und die machen dann über kurz oder lang kurzen Prozeß mit den Entführern. Und selbst wenn nicht, dann werden die Terroristen nach und nach alle Geiseln töten. So oder so ist meine zukünftige Frau dann schon so gut wie tot. Aber das kann und werde ich nicht zulassen, verstehst Du?!". Lukas Fäuste ballten sich, während seine wutentbrannten Augen starr geradeaus schauten. Sein Körper aber bäumte sich dabei kämpferisch aus der Versenkung des weichen Sofaleders auf. Nina erschrak bei dem Anblick ihres Ex-Manns, den sie noch nie im Leben so zornig und entschlossen gesehen hatte. Tief luftholend erwiderte sie schließlich: "Ja, das verstehe ich schon, Lukas. Was ich nicht verstehe, ist: Wie soll ich Dir in dieser Situation helfen?". Lukas Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig wieder, und flehend ergriff er Ninas Hand: "Ich weiß, es ist viel verlangt, aber es ist meine einzige Hoffnung. Nina, Du als Leiterin der Abteilung Paßwesen und Visaerteilung hier in der Londoner Botschaft Deines Heimatlandes mußt mir die nötigen Papiere besorgen, damit ich und meine zwei Begleiter nach Rußland einreisen können. Hier auf dem Zettel stehen alle erforderlichen Daten von uns Dreien und das sind unsere Reisepässe". Damit griff er in seine Manteltasche und überreichte mit zittriger Hand seiner Ex-Frau die genannten Papiere.

Nina blickte stumm auf die Pässe und den Zettel in ihrer Hand, dann schüttelte sie den Kopf: "Lukas, was Du da von mir verlangst, das ist illegal. Eine schwere Straftat ist das. Das kann ich nicht, so leid es mit tut!". Lukas aber blickte ihr, während er weiter fest an ihr zartes Händchen umklammerte, tief in die Augen: "Nina, Du mußt es tun! Erinnerst Du Dich noch, wie ich Dir beigestanden hab, als es damals um Deine Ausweisung nach Rußland ging. Damals stand alles für Dich auf Messers Schneide. Ohne mich wärst Du heute längst wieder zurück in den unendlichen Weiten Deines Heimatreichs. Und nur der Himmel weiß, wie grausam das Leben dort dann vielleicht mit Dir umspringen würde. Ich hab Dir damals ohne Wenn und Aber geholfen und nie eine Gegenleistung von Dir eingefordert. Aber heute, hier und jetzt tue ich es! Ich fordere Dich auf, mir zu helfen. Bei allem, was mir lieb und teuer ist: Hilf mir! Ich bitte Dich!". Wieder sank Lukas vor einer Frau auf die Knie, doch diesmal hielt er keine rote Rose in der Hand. Es war auch kein Heiratsantrag, wegen dem er die vor ihm Sitzende hier bekniete. Und dennoch hoffte und bangte er hier eben so zitternd auf ein einziges Ja-Wort der Angeflehten. Doch das befreiende Ja blieb aus. Was von Ninas Seite kam, war vielmehr ein stummes Nicken. Es war ihre diplomatische Art, Ja zu sagen, ohne später dafür belangt werden zu können. Dann erhob sie sich von ihrem Sessel und zog auch ihren Ex-Mann aus seiner unterwürfigen Haltung heraus zu sich nach oben. Dabei flüsterte sie: "Komm, ich zeig Dir jetzt noch rasch mein Arbeitszimmer, bevor Du wieder gehst!".

Sie zog das immer noch schluchzende Häufchen Elend mit sich durch den langen Korridor in einen der Nebenräume. Dort knipste sie auf dem Schreibtisch das Licht an, ließ ihren PC hochfahren und hämmerte dann nach und nach all die Daten von dem ihr zuvor überreichten Notizzettel in die Tastatur. Dreimal drückte sie während dieses Prozesses auch die Druckertaste, worauf sich das dadurch angewählte Gerät jeweils leise surrend in Bewegung setzte und eine Art bunte Visadokumentenfolie mit den entsprechenden Angaben bedruckte und somit vervollständigte. Nina entnahm dem Drucker die fertigen Folien, zog sie vorsichtig vom papiernen Untergrund ab und klebte sie in die Reisepässe von Lukas & Co ein, wobei sie - ohne den Blick zu erheben - murmelte: "Das hier wären nun die nach Deinen Angaben angefertigten Visadokumente, die ich erstmal in Eure Reisepässe einkleben müßte, gesetzt dem Fall, es würde bei dem Ganzen hier alles mit rechten Dingen zugehen". Dann öffnete eine der Schubladen, aus der sie umgehend einen Stempel hervorholte. Und abermals sprach sie leise: "So, un das hier ist unser Visastempel, weißt Du?! Angenommen, ich würde Dir helfen, was ich - wie gesagt - nicht tun kann, dann würde ich die drei Pässe mit den frisch eingeklebten Visa nehmen und sie so abstempeln!". Mit diesen Worten öffnete sie nacheinander nochmals jedes der drei überreichten Reisedokumente und drückte ihnen auf der soeben beklebten Seite ihren Stempel auf. Mit einem Kugelschreiber kritzelte sie zusätzlich ihre Unterschrift und das aktuelle Datum in die entstehenden stempelfarbenen Kästchen. Dann öffnete sie ein anderes Schubfach und zog zwei Formulare in jeweils dreifacher Ausführung heraus. Über dem einen stand in russischer und englischer Sprache Touristenbescheinigung, über dem anderen Einreisebescheinigung. Wieder flüsterte Nina: "Diese beiden notwendigen Einladungsdokumente würde ich Dir ausfüllen, wenn ich Dir denn helfen könnte. Und Du müßtest Sie dann zusammen mit den Visa bei Aufforderung vorzeigen". Dabei nahm sie den ihr von Lukas zuvor übergebenen Notizzettel zur Hand und übertrug gewissenhaft alle Daten auf die von einem russischen Fünfsternehotel für den internen Botschaftsgebrauch blanko ausgestellten Dokumente. Nach getaner Arbeit schloß sie die beiden Schubladen wieder, löschte das Licht und übergab ihrem staunenden Ex-Mann die gesamten Papiere seufzend mit den Worten: "Zu schade, daß mir die Hände gebunden sind und ich Dir deshalb nicht helfen kann".

Lukas benötigte ein paar Sekunden, um das eben Erlebte zu verdauen. Dann aber schüttelte er Nina gerührt die Hand und sprach: "Trotzdem danke! Und grüßen Sie unseren kleinen Engel von mir, Fräulein Simowa". Dann machte er auf dem Hacken kehrt und lief aus der Haustür heraus in Richtung des Eingangstores. Nina, die ihm dabei folgte, aber raunte leise: "Ja, Du verrückter Kerl, das mach ich! Dir und Deinen Begleitern viel Glück auf Eurer Reise! Paß auf Dich auf, ja?! Und was den Namen angeht, so heißt es ab heute auch wieder offiziell: Misses Nina Svensson, geborene Simowa". Auf ihre Bitte hin gab der Wachposten dem Ex-Inspektor seinen Paß zurück und ließ ihn passieren. Svensson aber nahm umgehend wieder den Platz des Beifahrers im Auto von Tim Hackerman ein. Und zu seinem Schützling gewandt, sprach er erleichtert: "In der Botschaft konnte mir erwartungsgemäß niemand helfen. Und nun aber ab zur Victoria-Station, wo Mister Crawler mit drei gelösten Fahrkarten sicher schon sehnsüchtigst auf uns wartet". Timmy verstand bei diesen Worten Svenssons nur Bahnhof. Und zu eben diesem lenkte er nun seinen Volkswagen ...

EPISODE 7: STÜRMISCHE BEGRÜSSUNG

Eine Viertelstunde später landete ungefähr 2500 Kilometer weit entfernt am Flughafen Scheremetjewo der Düsenjäger, an dessen Bord sich CI7 Superintendent Wannabe befand. Zu seinem Erstaunen war der von Kowarno entführte Linienflieger weder hier noch auf einem der anderen vier bekannten Großflughäfen der russsichen Hauptstadt gelandet. Statt dessen brachte ihn ein Helikopter umgehend zu einem auswärts in einem dichten Wäldchen gelegenen stillgelegten Militärflugplatz der Roten Armee, wo die Boeing 737 letzten Erkenntnissen zufolge heruntergegangen war. Auch jetzt verschwendete Wannabe keine unnötige Zeit, blieben ihm doch nur noch etwa 20 Minuten bis zum Ablauf von Kowarnos Ultimatum. Die kurze Einsatzbesprechung mit den vor Ort befindlichen Leuten der kampferprobten Spezialeinheit ALFA des Inlandgeheimdienstes FSB verlief zügig und reibungslos, schließlich waren die Männer bestens für solche Einsätze geschult die Verantwortlichkeiten ja schon im Vorhinein ausführlich geklärt worden. Und so pirschte sich bereits eine Viertelstunde später Wannabe mit einem russischen Leutnant namens Sergej Medwjedi aus einem toten Winkel heraus an den am Ende einer grasbewucherten Landebahn abgestellten Flieger heran. Vorsichtig verschafften sich die Zwei bei prasselndem Regen im Halbdunkel über eine Ladeluke am hinteren Rumpf Einlaß zum Frachtraum. Hier erblickte Wannabe neben den üblichen Gepäckstücken auch einige hohe, schmale Holzkisten, wie man sie zum Transport von Gemälden verwendete. Scheinbar waren alle von ihnen unversehrt, wie der CI7-Chef mit kurzem prüfenden Blick auf die einzelnen Kisten feststellte. "Gott sei Dank!", murmelte Wannabe am Ende seiner kurzen Sichtung erleichtert, wofür er von seinem russischen Begleiter nur einen unverständigen Blick erntete.

Die beiden Männer studierten daraufhin noch einmal kurz den mitgeführten Bauplan der Boeing 737, dann öffneten sie eine kleine Luke am vorderen Teil des Frachtraums. Diese gewährte ihnen Zugang zu einem Kabelschacht, welcher laut Skizze direkt unter dem Passagierraum entlang führen mußte. Leise krabbelten die beiden Männer durch den engen Schacht hindurch. Wannabe warf dabei noch rasch einen Blick auf seine beleuchtete Armbanduhr. In einer Minute endete die von Kowarno gesetzte Frist, womit gleichzeitig von draußen die zuvor vereinbarte Stürmung der Maschine begann. Die Sache duldete keinen Aufschub mehr. Wannabe hob vorsichtig jene Stahlplatte an, die von der anderen Seite her als Bodenplatte im Gang der Economy Class fungierte. Sekunden später waren aus dem Flugzeuginneren in kurzen Abständen mehrfach laute Schußgeräusche zu venehmen, dann herrschte Totenstille. Aus dem Schutz des umgebenden Wäldchens heraus aber stürmten im selben Augenblick ein Dutzend ALFA-Leute unter Führung ihres Kommandeurs den Flieger. Und was sie in dessen Innern vorfanden, ließ selbst den so hartgesottenen Elitesoldaten die Münder weit offenstehen ...

EPISODE 8: AUFBRUCH INS UNGEWISSE

Harold Freakadelly streckte sich gähnend im Chefsessel seines Büros. Der Organiser auf seinem Schreibtisch zeigte 4 Uhr 30 Uhr. In Moskau, wo sich die Ereignisse momentan förmlich überschlugen, war man der Zeit um ganze zwei Stunden voraus. Der Nachrichtensender NEWS-TV 1421, mit dem sich der Yardchef seit Svenssons Weggang auf dem Laufenden zu halten versuchte, meldete gerade, daß vor einer halben Stunde auf dem Flugfeld des ehemaligen Militärflughafens, wo die Linienmaschine gelandet war, Schüsse zu vernehmen gewesen seien. Näheres wüßte man allerdings noch nicht. Freakadelly erhob sich von seinem Platz und öffnete das Fenster seines Büros, um die sich anschleichende Müdigkeit mit etwas frischer Luft zu bekämpfen. Von hier aus dem 20. Stock von New Scotland Yard hatte man einfach zu jeder Tageszeit einen atemberaubenden Blick auf die City. Früher beneidete er seinen Vorgänger Wallace immer um diese Aussicht, aber jetzt, da er selbst tagtäglich in ihren Genuß zu kommen vermochte, blieb ihm fürs Auskosten meist viel zu wenig Zeit. Ja, mehr Zeit für Genußmomente wie diesen, das war es, was er sich zuallererst von seinem Ausscheiden beim Yard erhoffte. Als Miteigentümer jenes renomierten Gasthauses an der Themse würde er sich jeden Abend gemeinsam mit seiner Frau bei einem Gläschen Rotwein an den Sonnenuntergängen über dem Fluß sattsehen. Das hatte er sich fest vorgenommen.

Gern hätte sich der gute Harry seine Zukunft noch weiter in den prächtigsten Farben ausgemalt, doch das Klingeln des Telefons riß ihn jäh aus seinen Gedanken und zwang ihn zur Rückkehr an seinen aktenüberfluteten Schreibtisch. Freakadelly nahm den Hörer ab und meldete sich vorschriftsmäßig, als ihn am anderen Ende ein wenig unwirrsch und wie von ferne eine aufgeregte männliche Stimme unterbrach: "Ja, ist gut, ich weiß wer Sie sind, Sir! Hören Sie zu, Harold, wie Sie ja sicher schon in den Nachrichten verfolgen konnten, ist es hier in der Nähe Moskaus beim Versuch der Geiselbefreiung ziemlich heiß hergegangen. Den Männern, die gerade von der Erstürmung des Fliegers zurückkehren, stehen noch jetzt die Tränen in den Augen. Aber keine Sorge, es hat keine Toten gegeben, auch keinerlei Schußwechsel. Die ohrenbetäubende Knallerei, die zu hören war, stammte von ein paar zeitgezündeten Chinaböllern, die die Entführer im Flugzeuginnern zu unserer Begrüßung hinterlegt hatten. Ich als Ihr Schwiegersohn hab - wie all die anderen - bei dem kleinen Feuerwerk nur etwas viel Rauch eingeatmet, sonst fehlt mir nichts. Das können Sie Janet ruhig sagen, obwohl ich nicht weiß, ob sie das momentan überhaupt noch interessiert. Aber es gibt Wichtigeres! Wie gesagt, alle 120 Geiseln sind wohlauf, wenn auch teilweise noch ein wenig benommen. Man hat sie allesamt mit - in einer roten Tragetasche mitgebrachten - Handschellen an die Sitze gefesselt und ihnen dann das starke Betäubungsmittel Airethin injiziert, welches den Betroffenen selbst in geringer Dosis innerhalb weniger Sekunden in eine Art Tiefschlaf versetzt. In höherer Dosis kann es zu schweren Folgeschäden bis hin zur Atemlähmung und auch zum Tode führen. Was ich damit sagen will: Mindestens einer der drei beziehungsweise vier Terroristen verfügt vermutlich über ein recht gutes medizinisches Wissen. Dafür spricht auch, daß sie sich in London als medizinisches Personal zur Überführung einer schwerkranken Patientin getarnt mittels gefälschter Papiere Zutritt zum Flieger verschafft haben. Was Papiere angeht, kann man sich hier in Rußland mit den entsprechenden monitären Reserven tatsächlich alles beschaffen. Wenn ich wollte, dann könnte ich sogar schon als geschiedener und damit freier Mann nach England zurückkehren".

Freakadelly überhörte den letzten Satz einfach und unterbrach seinen Gesprächspartner stattdessen mit einer Zwischenfrage: "Charles, Sie sprachen da eben von drei beziehungsweise vier Terroristen! Ist denn die Zahl der am Überfall Beteiligten noch nicht klar?!". Am anderen Ende der Leitung wurde es für ein paar Sekunden still, nur ein erneutes leises Knacken war zu hören. Dann aber meldete sich die Stimme Wannabes ein wenig kleinlauter klingend zurück: "Ja, da gibt es ein kleines Problem. Die Zeugenaussagen zu der vierten Person, die sich bei den Geiselnehmern befand, widerspricht sich nämlich. Ein Teil der Befragten sagt aus, daß die bewußte Frau ebenfalls von den Entführern ruhiggestellt worden sei. Andere wiederum wollen gehört haben, daß sie während des Fluges mit dem Anführer der Terroristen in recht vertrautem Tonfall geflüstert habe. Ich hab da natürlich mit Hilfe der russischen Kollegen ein wenig nachgehakt, und bin zu meinem Leidwesen über einen ziemlichen Schnitzer in den Akten gestoßen. Sie wissen doch, Sir, daß der Aufbau des CI7 und die damit verbundene Übertragung der schriftlichen Akten in den zentralen Computer recht überstürzt betrieben wurde. Um die Aufbereitung der Aktenflut im Archiv des Yard zu bewältigen, hat unser zuständiger Minister zusätzliche Geldmittel zur Verfügung gestellt, mit deren Hilfe wir Streifenbeamte zum Aktenabtippen abstellten. Die Beamten waren mit der gestellten Aufgabe wohl hier und da ein wenig überfordert. Besonders bei der Umschrift russischer Namen von der kyrillischen Schrift in die englische Schreibweise wurde auch aufgrund des enormen Zeitdrucks nicht immer die gewünschte Sorgfalt an den Tag gelegt. Kurzum, man hat in der Akte des inzwischen von mehreren Zeugen als Ex-KGB-Topagent Iwan Kowarno identifizierten, international gesuchten Anführers der Geiselgangster den Namen seiner Exfrau an zwei Stellen falsch übertragen".

Erneut fiel Freakadelly dem in seinen Augen zu sehr abschweifenden Wannabe ins Wort: "Und was hat dieser Umstand nun mit der Entführung an sich und vor allem mit dem Status der ominösen vierten Person zu tun?". Der CI7 Chef räusperte sich kurz, dann fuhr er in seinen Ausführungen fort: "Nun, in der Kowarnoakte beim CI7 ist der Name seiner Exfrau, in der eben auch alle Zeugen einstimmig die vierte Person bei den Geiselnehmern wiedererkannten, als Jelena Zlatkaja angegeben, während sie selbst bei uns in England als Yelena Zladkaja geführt wird und die ist bekanntermaßen ...". Freakadelly vollendete leicht schockiert die Ausführungen seines Schwiegersohns: "Oh mein Gott, die Braut unseres ehemaligen Inspektors Lukas Svensson". Und während es Harold Freakadelly nach dieser Erkenntnis erst einmal komplett die Sprache verschlug, ergänzte Wannabe: "Durch die beiden kleinen Schreibfehler ist die Übereinstimmung beider Personen nie aufgefallen, zumal Frau Zladkaja seit ihrer Übersiedlung ins Königreich ihren prominenten Exmann auch nie erwähnt hat. Das wiederum wirft nun die Frage nach dem Warum und dem Status von Frau Zladkaja auf. War sie ebenfalls ein Opfer der Entführung oder fungierte sie jahrelang als Schläfer, bis sie von Kowarno aktiviert und in die Entführung mit einbezogen wurde. Auf alle Fälle ist sie zusammen mit den anderen drei Entführern spurlos verschwunden. Offensichtlich haben sie sich vor unserem Eintreffen vor Ort bereits durch den Frachtraum abgesetzt und sind durch ein unterirdisches Tunnelsystem, das noch aus den Zeiten der Nutzung durch die Sowjettruppen stammt, entwichen. Und das, wie ich so eben noch erfuhr, auch leider Gottes nicht mit leeren Händen ...".

Frekadelly horchte auf und rief dann entsetzt in den Hörer: "Charles, Sie meinen doch nicht etwa ...". Jetzt unterbrach ihn zur Abwechslung mal Wannabe in der Ausformulierung seiner Gedanken: "Doch, genau das meine ich! Der sogenannte 'Letzte Schrei' ist verschwunden, seiner schützenden Frachtkiste sauber entnommen, so daß es beim flüchtigen Hinschauen gar nicht auffällt". Mehr zu sich selbst als an seinen Gesprächspartner gerichtet, konstatierte Freakadelly am anderen Ende entgeistert: "Das ist ja eine Katastrophe von internationalem Ausmaße. 'Der blaue Schrei' von Edward Munch aus dem Jahre 1914, bis vor ein paar Monaten völlig unbekannt und dann zufällig im alten Keller einer Hosenfabrik in Manchester unter einem Stapel verwaschener ausgemusterter Bluejeans aufgetaucht. Geschätzter Wert: 20 Millionen Pfund Sterling. Unter unserer Federführung im Auftrag des Kultusminsiters auf dem Weg in den Pariser Louvre. Und jetzt ist er weg, einfach weg!". Hier meldete sich noch einmal Wannabe zu Wort: "Und das obwohl nur eine Handvoll Leute überhaupt von der geheimen Überführung Kenntnis besaßen. Neben Ihnen, Sir, und mir waren doch nur noch der britische und der französische Kultusminister eingeweiht. Jetzt freilich hat letzterer kalte Füße bekommen und umgehend seinen russischen Amtskollegen informiert, mit dem er bei einem kleinen Umtrunk vor einigen Monaten anläßlich eines Freundschaftsbesuchs Brüderschaft gesoffen hatte. Tja, Wodka löst bekanntlich die Zunge, besonders wenn er - wie hier üblich - in Strömen fließt. Und siehe da, kaum war die schöne Geheimhaltung futsch, schon entzog man mir die Leitung des Einsatzes wieder. Schließlich seien ja alle britischen Staatsbürger befreit und wohlauf, und der Rest sei nun Aufgabe der hiesigen Behörden. Klar, die Lorbeeren für den Einsatz kassieren die ALFA-Männchen vor Ort und den eventuellen Ruhm nebst Finderlohn beim Wiederbeschaffen des millionenschweren Gemäldes gleich obendrauf. Meine Aufenthaltsgenehmigung unterdess wurde auf 24 Stunden begrenzt, was mir nach Meinung der Russen genug Zeit gibt, meinen Abschlußbericht zu schreiben und die Einsatztruppen vor Ort ausreichend mit allen notwendigen Informationen zu briefen. Ein Hoch auf die internationale Diplomatie! Hätte ich diesen verdammten Job doch nie angenommen. Seit zwei Tagen werden meine Befugnisse andauernd eingeschränkt, und der Premier haut mir bereits im Vorfeld zu diesem ersten großen Einsatz meiner jungen Karriere kräftig auf die Finger. Am schlimmsten aber waren die feierliche Gala zur Amtseinführung beim Premierminister und die vorangegangene Vorstellung beim diplomatischen Corps am Freitag. Ich dachte ja immer, je höher man klettert, desto mehr ist man ganz allein der, der den Ton angibt. Stattdessen muß ich mich bei den ganzen Frackträgern um Erhalt des lieben Friedens willen mit meiner leicht extrovertierten Art ganz mächtig zurückhalten. Wissen Sie, Sir, als ich da auf der Gala am Freitagabend mit den ganzen aufgeblasenen Finanzheinis und den geistig unterbelichteten Promispinnern ständig nur Süßholz raspeln durfte, ertappte ich mich einmal sogar dabei, daß ich mich schon selbst wie dieser ewig gut gelaunte, senile Charmebolzen Svensson anhörte. Diese erschütternde Erkenntnis hat mir sogleich einen eiskalten Schauer des Entsetzens über den Rücken gejagt. Ach was nützt all das Jammern, Augen zu und durch! Morgen abend bin ich jedenfalls wieder daheim. Und ich freu mich schon darauf, bei einer guten Flasche englischen Bieres in aller Ruhe den Sonnenuntergang auf meiner 'SIMONE' zu genießen. Aber davon bitte kein Sterbenswörtchen zu Ihrer Tochter, Sir! Sonst ist es Essig mit dem Genuß und vor allem mit der Ruhe. Ich meld mich wieder". Sprach er und legte auf.

Freakadelly aber grübelte über all die beunruhigenden Neuigkeiten nach. Ein Meisterwerk war verschwunden, mit ihm die Spur der gesuchten Terroristen und ebenso die Spur Yelenas, deren Rolle bei dem Ganzen noch völlig unklar schien. Sollte sie wirklich über all die Jahre eine schlafende Laus im Pelz des Yard gewesen sein. Vor allem in Bezug auf das, was dieser Umstand für seinen armen unglücklichen Freund Lukas bedeuten würde, wagte er sich das erst gar nicht vorzustellen. Seine Gedanken flogen zu Svensson, der noch vor wenigen Stunden eben hier im Büro hilfesuchend vor ihm stand. Was mochte er wohl jetzt gerade tun?

Lukas Svensson ahnte nichts von all den neuen Entwicklungen und den Fragen, welche diese aufwarfen. Er traf zusammen mit seinem Schützling Timmy gerade am Bahnhof ein, wo Derrik Crawler die Zwei freudestrahlend empfing. In der rechten Hand hielt der junge Inspektor dabei einen ganzen Stapel Reisetickets, mit denen er aufgeregt umherwedelte: "Mister Svensson! Mister Hackerman! Sie ahnen ja gar nicht, was für ein Glück wir haben. Normalerweise muß man bei einer Zugfahrt nach Moskau mindestens zweimal umsteigen und hat dabei noch jede Menge nervenzehrender Aufenthaltszeit auf den verschiedenen Umstiegsbahnhöfen. Aber derzeit läuft gerade das sogenannte 'Go West'-Projekt einer privaten russisch-britischen Eisenbahngesellschaft namens 'Eastern Union', deren mit Liegewagen ausgestatteter Schnellzug uns innerhalb von nur 37 Stunden direkt von hier nach Moskau bringt. Möglich wird diese vergleichsweise kurze Reisezeit vor allem dadurch, daß die Bahn nur an zwei Orten Halt macht - zum einen im belgischen Brüssel und zum anderen an der polnisch-russischen Grenze". Lukas Svensson klopfte Crawler sichtlich beeindruckt auf die Schulter: "Gut gemacht, Mister Crawler! Damit sparen wir uns nicht nur einiges an Aufregung und Streß, sondern auch noch jede Menge kostbare Zeit. Na dann, laßt uns aufbrechen, Männer!". Crawler übernahm mit seinem Wissen um den richtigen Bahnsteig kurzerhand die Führung der Reisegruppe, und gemeinsam bestiegen sie eine Viertelstunde später voller Tatendrang den Schnellzug nach Moskau. Beim Einsteigen gab Derrik Crawler dann auch Timmy dessen Handy zurück. Und auf die Frage des Svensson-Schützlings, ob der Anruf bei seiner Freundin geklappt habe, nickte der Angesprochene offensichtlich ein wenig beschämt nur stumm mit dem Kopf. Im Innern des Zuges verstauten die Drei erst einmal ihr Gepäck im reservierten Liegewagenabteil, welches sie sich mit einem schlicht gekleideten Herrn in Begleitung seiner augenscheinlich hochschwangeren Frau teilten. Sie nahmen allesamt auf ihren Sitzen Platz und beäugten sich dabei stumm gegenseitig. Und es war - wie zu erwarten - einmal mehr Lukas, der mit seiner aufgeschlossenen Art das gegenseitige Kennenlernen in Gang brachte, in dem er sich mit freundlichem Lächeln den unbekannten Paar zuwandte: "Also dann, wenn Sie erlauben, daß ich mich bekanntmache: Mein Name ist Svensson, Lukas Svensson. Und das zu meiner Rechten und Linken sind meine beiden Reisebegleiter Tim Hackerman und Derrik Crawler. Lächeln Sie ruhig mal ein wenig, Mister Crawler! Sie werden sehen, es steht Ihnen. Und mit wem haben wir die Ehre, wenn ich fragen darf?!". Just in diesem Augenblick setzte sich unter gewaltigem Ruckeln der Zug unter ihnen in Bewegung, wobei alle fünf Insassen gehörig durchgeschüttelt wurden. Die Vorstellungsrunde fand durch diesen Gewaltakt eine kurze Unterbrechung, während die Lokomotive in schneller werdendem Tempo den Bahnhof hinter sich ließ und all die Menschen in den ihr angekoppelten Wagen mitnahm auf die Reise in die Ferne und damit in eine mehr oder minder abenteuerliche Zukunft ...

EPISODE 9: ZÜGIGES VORANKOMMEN

Auf dem ihm vorbestimmten Schienenweg kämpfte sich das tonnenschwere stählerne Monstrum mit den beiden gespenstisch funkelnden Scheinwerferaugen ächzend, quietschend und klappernd durch die nächtliche Landschaft. Mit zunehmendem Tempo wurden dabei seine Bewegungen ruhiger und gleichmäßiger, so daß man auch in Svenssons Abteil die zuvor unterbrochene Unterhaltung nun wieder aufnehmen konnte. Die schwangere junge Frau reichte Lukas Svensson ein wenig schüchtern die Hand und sprach: "Mein Name ist Lunjewa, Olga Lunjewa. Und das ist mein Mann Sergej". Dabei schaute sie mit funkelnden Augen in das Gesicht des schnauzbärtigen Mannes, welcher bei all dem Ruckeln des Zuges liebevoll schützend den rechten Arm um ihre Schulter gelegt hatte. Nun löste er für einen Moment jene zärtliche Umarmung und reichte dem Ex-Inspektor und seinen Männern ebenfalls die Hand: "Lunew, angenehm! Aber sie können ruhig Sergej zu mir sagen. Wir werden ja die nächsten 37 Stunden eh gemeinsam auf engstem Raum verbringen". Derrik Crawler erhob sich von seinem Sitz und vollführte vor dem Pärchen eine tiefe Verbeugung, wobei er raunte: "Ich heiße Crawler, Inspektor Crawler!". Tim trat ihm dabei ein wenig unsanft gegen das Schienbein, und Lukas Svensson meinte lächelnd: "Aber, aber! Mit so einer bierernsten Vorstellung erschrecken sie uns ja die junge Frau! Sie haben den Herrn doch gehört, also Schluß jetzt mit den Förmlichkeiten. Für die nächsten anderthalb Tage sind wir Fünf eine verschworene Gemeinschaft, eine kleine, große Familie sozusagen. Das sind Olga und Sergej, ich bin der Lukas, Du der Derrik und das neben mir ist Timmy". Tim Hackerman nickte eifrig zustimmend. Nur Derrik schaute noch ein wenig unschlüssig drein und setzte sich zaghaft wieder.

Die fünf Reisegefährten nutzten in der Folge die gemeinsame Zeit, sich näher miteinander bekannt zu machen. Dabei erfuhren die drei Engländer, daß Olga und Sergej bei Olgas Schwester Helena zu Besuch gewesen und nun vor ihrer endgültigen Heimkehr noch nach Moskau zu Sergejs Bruder Pjotr unterwegs waren. Im Gepäck hatten sie jede Menge Geschenke von der britischen Insel: drei Garnituren warme Baumwollbettwäsche, zwei große Kochtöpfe und eine bunte gut gefütterte Babytragetasche. Die Beiden hatten außerdem noch mehrere Plastikdosen mit selbstgemachten Pelmeni von ihrer Schwester als Reiseproviant dabei. Lukas Svensson kannte dieses russische Nationalgericht sowohl aus seiner Zeit mit Nina als auch aus den Jahren mit Yelena nur all zu gut, und er liebte diese in Brühe gekochten und mit Hackfleisch gefüllten Teigtaschen, die man vorzugsweise mit Schmand verfeinerte. Tim als Junggeselle ließ sich die Zutaten und die Zubreitung von Olga und Sergej genaustens erklären und schrieb dabei auf seinem Laptop all die kleinen Tips und Tricks, die Olga ganz nebenbei fallen ließ, genaustens mit. Mittags gab es dann selbstverständlich für alle gleich eine Probe jener Köstlichkeit, und auch die beiden in puncto russischer Küche völlig unbedarften Reisebegleiter Svenssons waren hellauf begeistert. Nach Abschluß des opulenten Mahls zwinkerte Sergej seiner Gattin kurz zu, was diese aus langjähriger Erfahrung sofort zu deuten verstand. Aus der Tiefe ihres Reisegepäcks beförderte sie eine große glasklare Flasche mit ebenso klarem Inhalt und blauem Etikett sowie drei kleine Schnapsgläschen zutage. Sergej aber meinte gleichzeitig seinen Reisebegleitern gegenüber mit erwartungsvollem Lächeln und einladender Geste: "Sto Gramm, meine Freunde! Heißes Wässerchen, sa sdarowje!". Hier sah sich Lukas, der das Ganze sofort begriffen hatte, gegenüber den beiden verdutzt schauenden Jungs zum Übersetzen jener typisch russischen Geflogenheit genötigt: "Das heiße Wässerchen heißt auf gut russisch Wodka, sto Gramm sind hundert Gramm - die übliche Einzelportion dieses Getränks. Und sa sdarowje ...". Sergej hielt den Dreien die inzwischen gefüllten Gläser unter die Nasen, während er Lukas letzten Satz gleich selbst beendete: "Das heißt: Auf die Gesundheit! Oder Cheers, wie ihr Engländer sagt!".

Derrik Crawler verzog bei diesen Worten eigentümlich das Gesicht, während sich seine Hand Sergejs hochprozentigem Angebot ablehnend entgegenstreckte. Fragend schaute ihn der Russe an, und Timmy versuchte auf seine Art, das Verhalten seines Sitznachbarn zu erklären: "Tja, Mamis Liebling hat vor kurzem ein wenig zu tief ins Gläschen geschaut - oder sagen wir mal: In mehrere Gläschen. Da war der letzte Vierzigpprozentige dann wohl schlecht, und Klein-Derrik wurde ganz böse übel. Und zu guter Letzt, als ihm das Gesöff dann richtig zu Kopf gestiegen war, da hat er auch noch seinen obersten Chef ...". Diesmal trat Derrik Tim unsanft gegen die Wade und murrte: "Das gehört nicht hierher, Sir, Timmy!". Sergejs Gesicht war bei dem Schlagabtausch der beiden Jungen anzusehen, daß ihm die Erklärung nicht ganz ausreichte. Er fühlte sich scheinbar durch Derriks strikte Ablehnung in seiner Gastfreundschaft verletzt. Olga versuchte, die angespannte Situation zu entschärfen, indem sie einwarf: "Vielleicht möchte Derrik ja lieber Tee. Nebenan bei uns im Frauenabteil hat ein Mütterchen seinen Samowar dabei. Damit kann ich eins-zwei-fix heißes Wasser und einen hervorragenden russischen Tschai zaubern, wenn Sie möchten!". Derrik nickte eifrig, aber Sergejs Miene blieb noch immer versteinert. Jetzt versuchte sich der Ex-Inspektor selbst an der Entkrampfung der Lage, indem er das begonnene Wortspiel um die internationalen Trinksprüche noch einmal aufgriff: "Übrigens lautet der übliche Trinkspruch in meinem Geburtsland: Zum Wohl!". Damit stand er auf und knallte militärisch zackig die Hacken zusammen. Was Sergej betraf, war damit das Eis gebrochen, denn er prustete umgehend lachend heraus: "Jawoll, mein Herr! Zum Wohle!". Doch jetzt war es seine Gattin, die einen Augenblick wie angewurzelt mit offenem Mund dastand und schließlich sogar weinend auf den Flur hinauslief. Lukas schaute ihr fassungslos nach. Hatte er etwas Falsches gesagt oder getan? Er war sich doch gar keiner Schuld bewußt. Sergej aber, dessen Lachen mit einem Male verstummt war, senkte den Kopf und flüsterte: "Entschuldigung! Du kannst nichts dafür, nicht mal ich hab im Eifer des Gefechts dran gedacht. Aber Du mußt wissen, Lukas, die Faschisten haben seinerzeit ihre Urgroßeltern und zwei von deren Kindern nach Auschwitz gebracht und sie dort ermordet. Sie redet nicht viel darüber, aber sie reagiert dadurch ungeheuer emotional auf alles, was auch nur im Ansatz deutsch ist". Nun senkte auch Lukas sein Haupt. Ja, das war die schwärzeste Zeit in der Geschichte des deutschen Volkes, die leider auch ihn immer wieder einmal einholte.

Es war etwa eine Stunde vergangen. Im Abteil herrschte die ganze Zeit über eine eigenartig betretene Stimmung. Sergej hatte inzwischen den zuvor angekündigten Tschai für sich und seine Freunde bereiten lassen, und man verbrachte die Zeit weitestgehend schweigend mit Abwarten und Teetrinken. Olga aber hatte sich seit ihrer Flucht aus dem Abteil noch nicht wieder blicken lassen. Sergej erhob sich und wollte sich gerade entschuldigen, um nach seiner Frau zu sehen, als ihn Lukas zurückhielt: "Laß nur, Sergej! Ich glaube, ich sollte mit ihr reden!". Damit begab er sich schweren Schrittes auf den Gang. Lange mußte er nicht suchen. Olga stand an eines der Fenster gelehnt, ihr Gesicht schützend in den Händen verborgen. Nur hin und wieder gab sie ein Schluchzen von sich, dem dann unmittelbar eine zwischen den Fingern hindurchrinnende Träne folgte. Lukas blieb mit gebührendem Abstand vor ihr stehen und hielt ihr dabei ein Tempotaschentuch entgegen. Es dauerte ein Weilchen, bis sie kurz eine Hand vom Gesicht löste und das Papiertuch stumm entgegennahm. Dann schnäuzte sie sich dreimal. Lukas aber beugte sich ein paar Zentimeter zu ihr vor und flüsterte: "Es tut mir leid, Frau Lunjewa! Ich hatte ja keine Ahnung vom schrecklichen Schicksal ihrer Großmutter. Sonst hätte ich auf meinen geschmacklosen Einwurf verzichtet. Es war keineswegs meine Absicht, Sie zu verletzen! Nichts läge mir ferner. Manchmal trifft man eben aus reiner Unkenntnis beim anderen einen wunden Punkt. Wissen Sie, seit ich ein Kind bin, lebe ich nun mit diesen pechschwarzen und blutroten Flecken auf der auch sonst sicher nicht ganz weißen Weste meines ehemaligen Heimatlandes. Ich war gerade erst ein Jahr, als man Hitler und seiner Schreckensherrschaft gottseidank ein Ende setzte. Und dennoch hab ich das Erbe dieser Zeit ungefragt übergeholfen bekommen. Der Schatten des Hakenkreuzes hinterließ bei mir allein durch den Ort meiner Geburt einen häßlichen dunklen Fleck, den ich wohl lebenslang behalten werde. Das bekam ich schon als junger Knabe deutlich zu spüren. Als ich nach dem tödlichen Unfall meiner Eltern ein Jahr später auch noch meinen Onkel verlor, mußte ich ins Waisenhaus. Jenes Erziehungsheim nahe London mit dem traumhaft klingenden Namen 'Sunshine' war alles andere für mich als eitel Sonnenschein. Die anderen Kinder bekamen schnell heraus, wo ich geboren war, verdroschen mich und hänselten mich dabei als 'Kraut', das Schimpfwort der Briten für die bösen Deutschen. So wurde ich rasch zum Außenseiter. Aber gerade die Kenntnis um diesen düsteren Teil der Vergangenheit meiner Landsleute und die damit verbundenen bitteren Erfahrungen haben mich in meinem Leben stets dazu angespornt, Menschen offen und liebevoll zu begegnen. Nie sehe ich in jemandem vorrangig eine Hautfarbe oder Nationalität, sondern immer nur das einzigartige Gottesgeschöpf, welches ein Recht auf Leben, Liebe und Glück hat. Die Lehre aus dem völkermordenden Rassenwahn eines menschenverachtenden Psychopathen hat mich selbst zum Menschenfreund und zum multikulturellen Internationalisten werden lassen. Meine erste Frau ist - wie auch meine zukünftige - selbst gebürtige Russin. Auch sie haben Angehörige im zweiten Weltkrieg verloren und hatten daher innerlich erst - wenn auch nur unbewußt - ein wenig mit meiner deutschen Abstammung zu kämpfen. Doch sie verstanden rasch, daß nicht jeder Deutsche gleich ein Unmensch ist. Auch unter deutschem Himmel gibt es Gute wie Böse, über denen Gott die Sonne scheinen und es regnen läßt, so wie es die Bibel verheißt!".

Olga wischte sich die Tränen aus ihrem Gesicht. Ein klitzekleines Lächeln überflog ihr Antlitz, in das die beim Weinen verlaufene Wimperntusche lange schwarze Rinnsale gezogen hatte, dann hauchte sie: "Danke für das Taschentuch! Und für Deine Worte, Lukas! Wir sind doch noch beim Du, oder?!". Lukas nickte stumm, und Olga fuhr fort: "Du hast natürlich völlig Recht! Ich kannte die Deutschen bis heute eben nur aus den furchtbaren Erlebnissen meiner geliebten Babuschka, die als Einzige Auschwitz überlebte. Und dabei habe ich über das Schrecklichste, was mir meine Großmutter damals berichtete, noch gar nie gesprochen. Ich konnte es einfach keinem erzählen, nicht einmal meinem geliebten Sergej. Und doch ist es genau jene Schilderung, die so sehr auf meiner Seele lastet. Weißt Du, ein gewisser Doktor Mengele hat sich direkt nach der Ankunft meiner Familie im Lager noch an der Verladerampe des Zuges meiner Oma und ihrer beiden Zwillingsschwestern Lena und Olenka angenommen. Er versprach meinen Urgroßeltern, er werde sich um die Drei kümmern - sie aber sollten inzwischen nur ruhig erst einmal mit den anderen Erwachsenen duschen gehen. Von jener Giftdusche kehrten meine Uroma und mein Uropa natürlich nie wieder zurück. Der Himmel nahm sich später ihrer Seelen an, wie er es auch mit den verrußten Überresten ihrer - zuvor in den auf Hochtouren arbeitenden Öfen des Krematoriums verbrannten - Leiber getan hatte. Um die Zwillingsschwestern aber kümmerte sich Mengele wie versprochen - nur eben auf seine ganz spezielle, perverse Art und Weise. Er tauchte sie tagelang immer wieder abwechselnd in Eiswasser, dann in kochend heiße Salzlauge, bis sich ihre Haut wie Pelle abziehen ließ und das rohe Fleisch zum Vorschein brachte. Er spritzte ihnen geringe Dosen verschiedenster Gifte, ritzte ihnen Wunden in die unschuldigen kleinen Körper und verunreinigte die Einschnitte dann mit allerlei Dreck, so daß die Mädchen tagelang fieberten und schwer krank wurden. All das dokumentierte er akribisch. Und als er sie lang genug für seine widerlichen Experimente mißbraucht hatte, tötete er sie eiskalt mit einer Phenolinjektion, wonach er sie durch den Verbrennungsofen ihren Eltern nachschicken ließ. Anfang Januar 1945 geschah das alles, und auch meine Oma wäre wohl dem selben Schicksal zum Opfer gefallen, hätte sie nicht eine aushilfsweise eingeteilte deutsche Krankenschwester aus reinem Erbarmen in ihrer Unterkunft versteckt, wo sie dann bei der Befreiung des Lagers am 27. Januar 1945 von unseren Rotarmisten entdeckt wurde ...". Minutenlang standen sich Olga und Lukas, die nach dieser beide mit den Tränen zu kämpfen hatten, schweigend gegenüber. Dann aber schloß Olga ihre Schilderungen mit dem Satz: "Du hast Recht Lukas, es gibt auch die anderen Deutschen, die Retterin meiner Oma war eine von ihnen. Das begreife ich erst jetzt, wo ich mir die schwere Last einmal von der Seele reden durfte. Danke fürs Zuhören!". Lukas aber reichte Olga noch ein zweites Taschentuch. Und nach dem Trocknen ihrer verweinten Gesichter kehrten Beide wieder ins Abteil zu den anderen zurück.

Hier empfing sie inzwischen eine wieder deutlich gelöstere Stimmung. Sergej hatte seine Mundharmonika aus dem Gepäck hervorgeholt und ließ seine Lippen und die vom Wodka gelöste Zunge eifrig über das Instrument gleiten. Tim und Derrik aber hatten sich eingehakt und sangen aus voller Kehle: "Durch die Wiesen zog hurtig Katjuscha, zu des Flußes steiler Uferwand". Lukas und Olga setzten sich zu ihren jeweiligen Männern und hakten sich vorsichtig mit ein. Schnell vergaßen die Zwei durch jene ansteckende Heiterkeit ihr ernstes Gespräch und scherzten und lachten mit den drei Anderen. Irgendwann war das Lied verklungen und ein neues mußte her. Bei allem Nachgrübeln über ein geeignetes Sangesobjekt riß schließlich Derrik die Hand in die Höhe und trällerte sofort los: "Ka-ka-lin-ka, Kalinka, Kalinka, maja!". Olga und Sergej stimmten sofort ein, Timmy aber blickte stumm zu Lukas herüber, der mit einem Male den Kopf betreten gesenkt hatte und schließlich das Abteil erneut verließ. Derrik, dem das Fortlaufen des Ex-Inspektors scheinbar neben Tim als Einzigem aufgefallen war, stubste seinen Sitznachbarn an und raunte: "Was hat Sir Lukas denn?". Timmy schüttelte traurig den Kopf: "Hättest Du vneulich abend Deinen noblen Schädel nicht die ganze Zeit in die Kloschüssel gesteckt, dann wäre Dir Einfallspinsel sicher auch nicht entgangen, daß 'Kalinka' das Lied ist, welches der DJ den ganzen Abend des Junggesellenabschieds über gespielt hat und das ihn nur wieder an das Verschwinden seiner Braut erinnert hat!". Derrik zuckte unschuldig mit den Schultern: "Konnt ich ja nicht ahnen! Entschuldige! Ich geh ihm gleich nach!". Tim aber hielt ihn am Ärmel zurück: "Laß das lieber! Wie ich Dich kenne, fragst Du ihn gleich noch, wie man sich als verlassener Bräutigam so fühlt, oder irgendwas ähnlich Dummes. Gib ihm lieber die Zeit, die er jetzt für sich braucht! Er kommt schon von allein wieder! Und keine Sorge, wie man richtig mit Menschen und ihren Gefühlen umgeht, lernst Du ja vielleicht auch noch, wenn Du Dir nur genug Zeit läßt!". Derrik aber senkte bedrückt den Kopf, während Olga und ihr Mann aus voller Kehle weitersangen.

Es war wieder einige Zeit vergangen. Der kleine Zeiger auf Lukas Svenssons Taschenuhr bewegte sich langsam auf die Zwölf zu. Im Abteil bei den Anderen wurde es langsam ruhiger. Man schien sich bettfertig zu machen. Dafür hörte Lukas umso deutlicher die Nachrichten, die aus einem Kofferradio in einem anderen Abteil an sein Ohr drangen: "Auf einem etwas abseits gelegenen ehemaligen Militärflughafen nahe Moskau kam es in den frühen Morgenstunden des heutigen Tages zu einer unblutigen Befreiungsaktion für die Geiseln der entführten britischen Linienmaschine ST241. Die 120 Passagiere blieben dabei unverletzt, von den drei Entführern sowie der Frau in ihrer Begleitung fehlt weiter jede Spur, ebenso wie von dem mit ihnen verschwundenen Munch-Gemälde 'Der blaue Schrei', welches die Maschine anscheinend ursprünglich von London in den Pariser Louvre überführen sollte ...".

Lukas, der dem Nachrichtensprecher aufmerksam gelauscht hatte, stand nun mit traurigen Augen nachdenklich auf dem Gang. Schließlich öffnete er eines der Zugfenster und steckte den Kopf weit hinaus. Sein Blick schweifte dabei zu beiden Seiten in die menschenleere Weite, die - so weit das Auge reichte - momentan einzig und allein aus Wald und Wiese bestand. Die kalte Nachtluft traf beim Hinauslehnen auf seine - mit den Jahren größer gewordene - Denkerstirn. Es war nicht leicht, einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn einem doch innerlich immer mehr zum Heulen zumute war. Angesichts der schier aussichtslosen Lage war es wohl auch kein Wunder, wenn selbst ein unverbesserlicher Optimist wie er nun zum Verzweifeln und Resignieren neigte. Um dieses wertvolle Gemälde ging es den Entführern also anscheinend. Yelena aber war zusammen mit ihnen und dem Bild verschwunden, und es gab nach derzeitigen Erkenntnissen keinerlei Spur von ihr. Jetzt, wo ihr Leben in jeder Sekunde gefährdet war und die Chance ihrer Rettung statistisch gesehen mit jeder Minute stetig abnahm, war er in diesem langsam vor sich her kriechenden Eisenbahnwaggon quasi ein Gefangener der Zeit. Verurteilt zu mindestens noch weiteren 18 Stunden nervenaufreibenden Nichtstunkönnens. Und dennoch bäumte sich in ihm etwas auf, eine geradezu übermenschliche Kraft, die trotz allem nicht bereit war, einfach aufzugeben. Es war die Hoffnung auf ein gutes Ende, die ihn weiter vorantrieb - mutigen, festen Schrittes durch all die nagenden Zweifel und düstersten Befürchtungen hindurch. Ja, er glich dabei einem Schriftsteller, der noch eine lange wortreiche Strecke bis zur letzten ungeschriebenen Seite seines dramatischen Romans zurückzulegen hat, und der auf dem beschwerlichen Wege dorthin doch stets ein Happy End im geistigen Auge behält.

Freakadelly unterdess machte in seinem Londoner Büro momentan das Verschwinden Yelenas weitaus weniger Kopfzerbrechen als vielmehr jenes entwendete Meisterwerk, von dessen geplantem Transport nach Frankreich allein eine Handvoll Leute wußten. Daß die Entführer es dennoch so schnell und zielsicher an sich bringen konnten, ließ nur einen Schluß zu: Es mußte bei Charles Wannabe oder im Umfeld der beiden eingeweihten Kultusminister ein Leck geben - irgendeine undichte Stelle, die mit den Terroristen in direkter Verbindung stand.

Auch im Zug nach Moskau machte man sich derzeit große Sorgen wegen einer undichten Stelle. Ganz aufgeregt kam nämlich kurz vor Mitternacht plötzlich Tim Hackerman auf den Korridor geeilt und meldete Svensson, daß es im Zugabteil scheinbar ein Loch im Dach geben müsse, durch das Regenwasser käme. Lukas zeigte sich äußerst erstaunt, denn bei seinem Rundblick hatte er draußen weit und breit keinen einzigen Regentropfen bemerkt. Timmy aber ließ ihm keine Zeit, weiter nachzudenken. Er packte den Arm des Ex-Inspektors und zog ihn mit sich zurück ins Abteil. Dort angekommen bemerkte Svensson sofort Olga Lunjewa, die schwer atmend mit hochrotem Gesicht auf der inzwischen ausgeklappten Schlafpritsche ihres Mannes kauerte. Dem Ex-Inspektor genügte ein einziger Blick auf die auf dem Teppichboden vor ihr immer größer werdende Pfütze zwischen ihren Beinen, um zu erkennen, was hier wirklich vor sich ging. Das war kein Regenwasser, Olgas Fruchtblase war geplatzt. Und diesem unerwarteten Vorboten würde mit ziemlicher Sicherheit innerhalb den nächsten Stunden ein hoffentlich freudiges Ereignis folgen: die zügige, wenn auch ein wenig verfrühte Ankunft eines neuen Erdenbürgers ...

EPISODE 10: GEBURTSTAG

Noch einmal eilte Svensson zum Fenster im Flur zurück und warf sein Haupt dem Fahrtwind entgegen. Und noch immer erblickte er - wie schon zuvor - ringsum nur Wald und Felder. Und wenn ihm dieser Anblick auch noch vor wenigen Minuten recht poetisch anmutete, so machte er ihm nun ein wenig Sorgen. Kein Krankenhaus weit und breit, nicht einmal eine lausige kleine Arztpraxis mit irgend so einem Landdoktor. Nein, in dieser schweren Stunde gab es für Olga und ihren Nachwuchs nur eine Hoffnung, und die hieß Lukas Svensson. Schnellen Fußes bewegte er sich - wenn auch auf zittrigen Beinen - zurück ins Abteil, die Geburt seiner kleinen Lisa ins Gedächtnis zurückrufend, um sich mit klarem, kühlen Kopf in der unter seinen Mitreisenden gerade entstehenden Panik nun umgehend ganz als Herr der Lage zu zeigen. Sergej, den angehenden Herrn Papa, der - soeben von einem Toilettengang zurückgekehrend - bereits jetzt blasser wirkte als die Mutter selbst, beorderte Lukas ersteinmal zum Stützen und Händchenhalten direkt hinter seine Frau. Timmy schickte er mit dem zweiten, unbenutzten Kochtopf aus dem Reisegepäck der Lunjews ins Nebenabteil. Dort sollten die untergebrachten Damen dann auf ihrem Samowar Wasser abkochen. Derrik aber bekam die Anweisung, die geschenkte Baumwollbettwäsche aus Sergejs Reisetasche zu entnehmen, aufzureißen und unter Olgas Leib auf der Schafpritsche zu verteilen. Mehr klinische Sterilität war unter diesen widrigen Umständen einfach nicht drin.

Svensson holte noch einmal tief Luft und fragte Olga dann erst einmal, in welchem Abstand die Wehen inzwischen kämen. Sie meinte daraufhin, in der letzten halben Stunde hätten sie diese schmerzvollen Schübe insgesamt dreimal heimgesucht, aber immer nur etwa eine Minute angedauert. Alles deutete somit - wie zu erwarten - auf die Eröffnungsphase der Geburt hin. Inzwischen war auch Timmy vom Wasserholen zurück. Svensson krempelte die Ärmel seines Oberhemds hoch und tauchte seine Hände kurz in den dampfendheißen Inhalt des Kochtopfes. Dann streifte er unter dem ängstlichen Blick Sergejs Olgas Kleid nach oben und zog ihr vorsichtig den völlig durchnäßten Baumwollschlüpfer aus. Er schaute Sergej dabei tief in die Augen und sprach mit ruhiger, fester Stimme zu seiner Frau und ihm: "Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue!". Insgeheim bangte er darum, daß er mit diesen Worten Recht behielte und sendete gleichzeitig ein stummes Stoßgebet gen Himmel.

In der Folge erhöhte sich die Intensität und Dauer der ankommenden Wehen ebenso, wie sich ihr Abstand langsam auf etwa alle 3 bis 4 Minuten einstellte. Dann wurden die Schmerzen größer und das Zucken in Olgas Unterleib verstärkte sich. Lukas und der noch immer recht blasse Sergej redeten im Wechsel beruhigend auf die Gebärende ein, während sich vor Lukas Augen ihr Muttermund infolge der Wehen immer weiter öffnete. Es kam dem Ex-Inspektor wie eine Ewigkeit vor, bis aus dem weit geöffneten Becken der Mutter der Ansatz des Kindskopfes herauszuschauen begann. Svensson versuchte dabei zu erkennen, in welche Richtung der drängelnde Nachwuchs wohl schauen möge, denn er wußte von den intensiven theoretischen Geburtsvorbereitungen mit seiner Exfrau Nina her, daß dies für den reibungslosen Verlauf der Geburt ziemlich entscheidend sein würde. Dabei glaubte er zu erkennen, daß sich das Köpfchen in Verlauf der beiden folgenden Wehenschübe langsam von einem seitlich zu den Hüften der Frau Mama zu einem Richtung Steiß der Mutter gewandten Blick drehte. Erleichterung hielt dabei Einzug in Svenssons Gesicht: Bis jetzt verlief also alles geradezu lehrbuchhaft.

Zum wirklich entspannten Durchatmen und Jubeln blieben allerdings weder der angehenden Mutter noch Lukas Svensson wirklich viel Zeit. Im Gegenteil: Die Wehen kamen jetzt etwa alle zwei Minuten, der geöffnete Muttermund hatte einen Durchmesser von zirka 10 Zentimetern. Unter dem steigenden Druck des Kopfes ihres Nachwuchses in ihrem Becken fühlte sich nun auch Olgas Körper instinktiv zu einem stärkeren Pressen genötigt. Dem galt es allerdings bewußt entgegenzuwirken, damit der Kopf des Kindes und auch Olgas Unterleib bei der Geburt keinen Schaden nähmen. Lukas tauchte seine Hände also erneut das von Timmy alle 10 Minuten erneuerte, abgekochte Wasser des Kochtopfs und drückte dann vorsichtig von unten gegen den Kindskopf. Er spürte, wie das kleine glitschige Köpfchen in seinen Händen bei dem gezügelten Vorstoß ins Freie langsam von einer gebeugten Haltung in eine Überstreckung überging. Das Ganze, dessen Dauer allen Beteiligten erneut wie eine Ewigkeit anmutete, gipfelte schließlich in der vollständigen Geburt des Kopfes, dem dann eine deutliche Wehenpause folgte. Olga war ganz erschöpft und versuchte angestrengt, ihren Kopf vom Schoße ihres Mannes zu heben, um so zu erkennen, was da am anderen Ende ihres Körpers eigentlich aus ihr herausragte. Lukas aber beruhigte sie und meinte, sie solle die kurze Atempause gut nutzen, es läge ja doch noch ein ganzes Stück Anstrengung vor ihr.

Der Ex-Inspektor sollte Recht behalten. Zeitgleich mit Timmys nächster Heißwasserlieferung kehrten auch die Wehen zurück, wobei der Kindskopf in ihrem Verlauf erneut eine Drehung vollführte - diesmal in Richtung der rechten Hüfte der Mutter. Der Geburt der Schultern stand damit nichts mehr im Wege, und so preßten die kommenden zwei Wehenschübe den Leib des Neugeborenen den Händen Svenssons auch weiter und weiter entgegen. Bei der dritten Wehe aber faßte sich Lukas ein Herz und packte das Kind vorsichtig bei den Schultern, um so dessen ganzen Körper dem erschöpften Leib der Mutter zu entziehen. Mit glasigen Augen hielt er das von einer dicken Schicht aus Schleim und Blut umgebene zitternde Würmchen in seinen ebenso zitternden Armen. Dann rief er Timmy zu sich heran und bat ihn, dem Neuankömmling quasi als Willkommensgruß einen ordentlichen Klaps auf den Po zu geben. Timmy war ein wenig verdutzt, dennoch folgte er sprachlos der Bitte Svenssons. Unter seinem sanften Schlag öffnete das Kind sogleich seine Lippen und meldete sich mit einem ohrenbetäubenden Schrei als neuer Erdenbürger zu Wort.

Es vergingen ein paar Augenblicke, die man ringsum einfach überglücklich dem zu Herzen gehenden Gebrüll des Neugeborenen lauschte, dann begann Lukas mit einem trockenen Zipfel der sonst so schleimdurchtränkten Bettwäsche, das Kind vorsichtig zu säubern. Derrik riß derweil auf Lukas Geheiß schon ein weiteres Bettwäschepaket auf und faltete den darin enthaltenen Bettbezug ordentlich zweimal zusammen. In die entstandene warme Hülle wurde das Neugeborene nun eingelegt, während der Ex-Inspektor den Inspektor zu seinem Koffer zitierte, um aus der Seitentasche ein Nageletui und die Brieftasche Svenssons zu entnehmen. Und als Derrik endlich beides in Händen haltend mit fragendem Blick vor Lukas stand, meinte dieser augenzwinkernd recht doppeldeutig: "Zeit zum Abnabeln, Derrik!". Derrik Crawler hatte offensichtlich keine Ahnung, was Lukas von ihm wollte, und so mußte der nun doch ein wenig mehr ins Detail gehen: "Nimm die Nagelschere aus dem Etui und tauch sie vor Dir ins heiße Wasser! Dann wirf mal einen Blick in das Kleingeldfach meiner Geldbörse. Da muß so eine kleine Plastikklemme sein, auf der handgeschrieben Lisa steht. Die nimmst Du raus und öffnest sie schonmal!". Derrik schaute ein wenig entgeistert, tat aber, wie ihm geheißen. Lukas hielt ihm im Gegenzug die Nabelschnur entgegen, die Mutter und Kind immer noch miteinander verband: "So, Derrik, jetzt tauchst Du die Klemme ins heiße Wasser, legst sie hier oben an und drückst sie zu! Und dann durchschneidest Du darüber die Nabelschnur!". Derrik folgte ein wenig zögernd auch dieser Anweisung Svenssons. Und ein kleines stolzes Lächeln zog in sein Gesicht ein, als nach geglückter Nabelschnurdurchtrennung das Neugeborene endlich den wartenden Händen seiner Mutter übergeben werden konnte.

Eine halbe Stunde und einige Nachwehen später kam dann auch die Nachgeburt. Lukas hatte schon damals bei der Geburt seiner Lisa nicht verstanden, wie man einem blutig eingelegten, unansehnlichen Gewebehaufen den wohlklingenden Beinamen Mutterkuchen verpassen konnte. Und so kümmerte er sich darum, daß Timmy den unschönen Anblick mitsamt dem unter Mutter und Kind vorsichtig weggerollten, blut- und schleimdurchtränkten Bettbezug rasch im Abfallbehälter des nahegelegenen Eisenbahnabteil-WC's entsorgte.

Langsam erhob sich Svensson von der Pritsche. Die Beine waren ihm eingeschlafen, und der Rücken schmerzte vom langen unbequemen Sitzen. Aber all das war momentan ganz nebensächlich. Die unendliche Freude über seine aktive Teilnahme an der Zur-Welt-Bringung eines neuen Menschenlebens überwog. Er schritt bedächtig zu seinem Koffer und fischte seine Seifendose heraus. Dann begab er sich mit dem darin enthaltenen wohlriechenden Seifenstück zurück zum wassergefüllten Kochtopf und wusch sich ausgiebig Hände und Unterarme. Sein Blick aber ruhte dabei nahezu ununterbrochen auf Mutter und Kind, die durch seine Mithilfe glücklich vereint auf der Pritsche lagen. Olga hob den Blick von ihrem Lager und lächelte Lukas an. Dabei hauchte sie erschöpft: "Ich weiß gar nicht, wie ich Dir jemals danken soll, Lukas! Ohne Deine Hilfe und die Deiner beiden Jungs hätte ich nicht gewußt, wie ich das alles durchstehen sollte! Es tut mir leid, daß ich Dich allein aufgrund des Ortes Deiner Geburt vorhin einfach mit jener Bestie im Lager über einen Kamm scheren wollte. Niemand kann sich schließlich den Ort seiner Geburt aussuchen, Du nicht, ich nicht und - wie Du siehst - mein Kind auch nicht. Alles kommt, wie es kommen soll! Also: Danke, Lukas! Tausend Dank für alles!". Lukas schüttelte sichtlich gerührt den Kopf: "Da gibt es nichts zu danken, Olga! Ich hab einfach nur getan, was mir mein Herz und mein Verstand in dieser Situation befahlen. Betrachten wir den unkomplizierten Verlauf und das daraus resultierende neue menschliche Leben einfach als Geschenke Gottes! Und sorgen wir Zwei gemeinsam mit der gesamten Menschheit dafür, daß uns und unseren Kindern jene grauenvollen Erfahrungen Deiner Vorfahren erspart bleiben". Nocheinmal blickte er der schwach nickenden Olga tief in die Augen. Dann aber schaute er in das Gesicht des Neugeborenen, und für eine Sekunde glaubte er, darin das Antlitz eines jungen Mädchens wiederzuerkennen. Es war ihm - kindlich naiv lächelnd - einmal auf einem Foto begegnet, welches auf der ersten Seite eines Tagebuchs eingeklebt war. Als Svensson dem Mädchen allerdings von Angesicht zu Angesicht begegnet war, da hatte die rauhe Wirklichkeit des Lebens jenes unbeschwerte Lächeln längst hinweggefegt. Lukas' Gedanken kehrten zurück in die Gegenwart, und es bewegte ihn dabei nur ein einziger Wunsch: Möge Olgas Kind sein Lächeln nie verlieren! Niemals!

Sergej, dessen Gesicht inzwischen wieder deutlich an Farbe gewonnen hatte, riß Lukas aus seinen Gedanken heraus: "Danke, Freund Lukas! Für alles, was Du getan hast für uns Drei! Aber sag mal, was ist es denn nun eigentlich - ein Mädchen oder ein Junge?!". Lukas lächelte verschmitzt: "Also für einen Stammhalter fehlt Deinem Nachwuchs eine winzige Kleinigkeit, fürchte ich mal!". Sergej strahlte: "Eine kleine Djewuschka, ein Mädchen! Das habe ich mir doch immer gewünscht! Aber Olenka, meine kleine Ljubiminka, wie soll unser Schätzchen denn nun heißen? Wir haben uns doch immer nur Jungensnamen überlegt!". Olga schaute ratsuchend zu Lukas herüber: "Du hast unsere Kleine zur Welt gebracht, vielleicht könntest Du ihr einen Namen geben?!". Erneut war der Ex-Inspektor sichtlich gerührt. Und er brauchte auch gar nicht lang zu überlegen: "Ich würde sie gern Francesca nennen, wenn Euch das recht ist?! Ich kenne da nämlich jemanden, der durch widrige Umstände weit fort von hier auf sehr beengtem Raum lebt und den diese Namensgebung sicher unheimlich freuen würde!". Olga schaute ihren Sergej fragend an, der aber nickte sofort ganz begeistert: "Francesca! Was für ein wundervoller Name!". Lukas trat noch einmal einen Schritt an die glücklichen Eltern und ihren Nachwuchs heran: "Ja, ein bezaubernder Name für ein noch viel bezaubernderes Geschöpf!". Mit diesen Worten fuhr er behutsam über die winzigkleinen Finger des Mädchens und schüttelte dann Mutter und Vater Lunjew umso kräftiger die Hand. Sergej aber meinte mit stolzgeschwellter Brust: "Das freudige Ereignis muß begossen werden, meine Freunde!". Lukas nickte Tim und Derrik, die tief beeindruckt vom soeben Erlebten wie angewurzelt dastanden, zu: "Ja, kommt nur, Ihr beiden frischgebackenen Geburtshelfer. Seine Feuertaufe hat unser Team bestens bestanden, da haben wir uns einen hochprozentigen Schluck wohlverdient. Außerdem möchten Vater, Mutter und Kind sicher jetzt auch mal ein wenig allein sein!". Lukas Svensson zwinkerte Olga und Sergej zu, schnappte sich die halbvolle Wodkaflasche und die drei Schnapsgläser vom Fensterbrett und entschwand mit seinen beiden Jungs auf den Korridor des Zuges.

Dort angekommen aber drückte er Derrik und Timmy je ein Glas in die Hand und schenkte erst ihnen und dann auch sich einen ordentlichen Schluck ein. Gemeinsam ließen sie die Gläser aneinander klirren und leerten sie dann in einem Zuge. Dabei hatte Derrik seine noch kurz zuvor demonstrierte Abneigung gegen Hochprozentiges scheinbar völlig vergessen. Erst als er das leere Glas in Händen hielt, wurde ihm bewußt, daß sich gerade eine nicht unbeträchtliche Menge Alkohol den Weg durch seinen Körper bahnte. Seine Augen begannen, sich augenblicklich zu röten, und seine Nasenflügel zuckten plötzlich wie wild. Schließlich entfuhr ihm ein lauter Nieser, dann ein zweiter und ein dritter. Zwischen den Niesattacken aber keuchte er, sichtlich nach Atem ringend: "Entschuldigt bitte, aber ich hab da so eine leichte Alkohol-Allergie! Hat mal jemand ein paar ...". Ein weiterer Nieser unterbrach seine begonnene Frage, die Timmy für ihn zuendeführte: "Taschentücher? Meinst Du vielleicht sowas hier?!". Damit zog er eine Packung Papiertaschentücher aus seiner Jeanshose und reichte sie dem nickenden Derrik. "Danke, Sir!", erwiderte dieser kurzatmig, während er gleichzeitig lautstark in eines der Taschentücher prustete. Timmy aber schüttelte den Kopf: "Jetzt laß endlich den Blödsinn mit diesem Sir, Du alter Affe! Hast Du's schon wieder vergessen! Er Lukas, ich Timmy und Du ...". Schnäuzend ergänzte nun Derrik: "Ja, und ich Chita, oder wie?!". Tim Hackerman nickte anerkennend: "Mensch, der Schnösel hat ja ansatzweise sogar sowas wie Humor! Wer hätte das gedacht?!". Und während Timmy Derrik sichtlich beeindruckt auf die Schulter schlug, hielt Lukas Svensson das erschöpfte, stetig kahler werdende Haupt einmal mehr aus dem geöffneten Zugfenster. Sein geistiges Auge verarbeitete dabei langsam all die verschiedenen Bilder der gerade hinter sich gebrachten Geburt. Alles war gut gegangen, völlig unkompliziert und mit einem glücklichen Ende für die Beteiligten. Ein paar Sorgenfältchen ließen dennoch im gleichen Augenblick seine Stirn runzeln. Wenn doch nur die Suche nach Yelena ebenso problemlos verlaufen würde! Und einmal mehr bahnte sich ein stummes Stoßgebet den Weg gen Himmel, während der Zug die polnisch-russische Grenze erreichte ...

EPISODE 11: GRAUSIGER EMPFANG

Mit quietschenden Rädern fuhr der Schellzug der "Eastern Union" im Bahnhof ein. Es dauerte einige Momente, bis der stählerne Koloß dabei zum Stehen kam, und noch ein paar weitere Sekunden, bis ihm die ersten seiner Fahrgäste entstiegen. Über die auf dem Bahnsteig angebrachten Lautsprecher tönte eine verzerrte weibliche Stimme, die ihre Ansage erst in für den Laien unverständlichem Russisch, dann aber auch in gebrochenem Englisch machte: "Werte Fahrgäste! Willkommen in Moskau Bjelarusskie Woksal! Der auf Gleis 24 eingefahrene Schnelle Zug aus London endet hier! Bitte steigen Sie zügig aus und vermeiden Sie im Interesse aller Reisenden allzu lange Aufenthalte auf dem Bahnsteig! Vielen Dank und einen angenehmen Aufenthalt in der Hauptstadt der Russischen Föderation!". Ein lautes Knacken beendete die Ansage just in dem Moment, in dem auch Lukas Svensson, Tim Hackerman und Derrik Crawler mit ihrem Reisegepäck den Zug verließen.

Lukas Svensson stellte seinen Koffer für einen Augenblick auf dem Bahnsteig ab und holte, wie er es stets am Zielort einer langen Reise zu tun pflegte, erst einmal kräftig Luft. Dabei schloß er die Augen, um die so aufgesogenen Gerüche auf sich wirken zu lassen und zu analysieren. Was ihm da in die Nase stieg, war eine Mischung aus verschiedenen Parfümnoten, dem Duft von frisch gebackenem Brot, Gewürzen und selbstgemachter Wurst, aber auch das unverwechselbare Flair von Benzin, Maschinenöl und Dieselabgasen. Der Ex-Inspektor hatte seine Geruchsanalyse beendet und öffnete die Augen wieder. Um ihn herum herrschte buntes Treiben. Reisende und die auf sie Wartenden fielen sich überall glücklich in die Arme und begrüßten sich dabei wortreich. Dieser Anblick ließ ein wenig Wehmut bei Lukas aufkommen. Nur allzu gern wäre auch er hier an Ort und Stelle seiner Yelena um den Hals gefallen, hätte sie fest an sich gedrückt und ihr wundervolles Gesicht über und über mit Küssen bedeckt, aber sie war nicht da. Stattdessen stellte sich gerade in den letzten Stunden bei Svensson immer wieder das ungute Gefühl ein, er könne zu spät kommen - zu spät um sie noch lachend und lebend ... Nein, er verdrängte diesen dunklen Gedanken aus seinem Kopf, noch bevor er ihn überhaupt zuende denken konnte. Stattdessen ergriff er blitzschnell seinen vor ihm stehenden Koffer und hielt in alle Richtungen Ausschau ...

Dabei kramte er aus der Brusttasche seines Oberhemdes ein altes vergilbtes Foto hervor - einen Schwarzweiß-Schnappschuß, der Olga und Sergej Ljunew mit einem spitzbärtigen Mann zusammen zeigte. Der Spitzbart trug dabei eine Art Schirmmütze auf dem Kopf. Olga hatte ihm das Foto gegeben, kurz bevor sie gemeinsam mit Sergej und ihrer kleinen Francesca am russischen Grenzbahnhof den Zug verlassen hatte. Und Sergej hatte den drei Engländern beim tränenreichen Abschied versprochen, seinen Bruder Pjotr - eben jenen Mann auf dem Foto - anzurufen, sobald die junge Familie im nächstgelegenen Krankenhaus eintraf, wo Francesca und ihre Mutter nach der unverhofften Niederkunft erst einmal eingehend untersucht werden sollten. Pjotr Uljanow, den aufgrund seines Aussehens alle nur Lenin II zu nennen pflegten, würde sie dann am Moskauer Bahnhof abholen - so hatte es Sergej Svensson und seinen Begleitern zugesagt. Und da Sergejs Brüderchen zu allem Überfluß auch noch ein gewiefter Gebrauchtwagenhändler war, bekämen die Drei von ihm als kleines Dankeschön für ihre Heldentat bei der Geburt Francescas ein Auto zur Verfügung gestellt für ihre Suche nach Yelena.

Endlich erspähte Lukas im langsam abnehmenden Menschengewühl einen Mann, der dem auf dem Foto glich, und der - ebenfalls aufgeregt um sich schauend - eine Art Pappschild in der Hand hielt. Auf dem Schild aber stand in großen filzstiftgeschriebenen Druckbuchstaben: "CBEHCCOHb". Und da Lukas des Kyrillischen Alphabets mächtig war, dechiffrierte er daraus umgehend seinen schwedisch anmutenden Nachnamen. Dabei riß er freudestrahlend die freie linke Hand in die Luft, um so den etwas abseits stehenden Pjotr auf sich aufmerksam zu machen. Der nahm schließlich das Handzeichen wahr und lief dem Ex-Inspektor entgegen. Pjotr Uljanow reichte Svensson die Hand zum Gruß und sprach: "Herr Svensson?! Schön, Sie kennenzulernen! Dann müssen das da wohl Herr Hakkermann und Herr Krauler sein?!". Damit deutete er auf den inzwischen auf seiner Reisetasche hockenden Timmy, der geistesabwesend wild in die Tasten seines Laptops hämmerte, und auf einen etwas miesepetrig dreinschauenden Derrik, dem offensichtlich die falsche Aussprache seines Nachnamens gegen den Strich ging. Es dauerte einen Moment, bis der junge Inspektor seinen Verdruß überwunden hatte, dann aber holte er tief Luft und streckte dem Bruder Sergejs auch seine Hand entgegen: "Nennen Sie mich doch einfach Derrik! Das ist easier!". Pjotr, der Derriks Hand ausgiebig schüttelte, schaute bei Crawlers letztem Satz ein wenig verdutzt, während er gleichzeitig mit dem Zeigefinger auf Tim Hackerman deutete: "Isi-Er? Wer ist denn Isi? Er? Mein Bruder hatte doch gesagt, der andere junge Mann hieße Tim?!". Eben jener Tim beendete mit einem lauten Freudenschrei die leicht verwirrende Begrüßungsrunde: "Heureka! Ich habs! Lukas, Derrik - ich bin drin! Es hat mich ein paar Umwege über einen lokalen Hacker und den Server eines Moskauer Nachrichtensenders gekostet, ich mußte ein paar selbsterstellte Subroutinen laufen lassen und einen relativ harmlosen Trojaner in Umlauf bringen, aber ich hab sämtliche Firewalls umschifft und nun Zugriff auf das russische Web!". Jetzt verstand nicht nur Pjotr nur noch Bahnhof, auch Lukas Svensson hatte keine Ahnung, wovon sein kleines Computergenie da redete. Wer servierte in welchem Lokal was beim Nachrichtensender? Was um alles in der Welt war eine Suppenroutine? Und was hatten ein sagenumwobener Holzgaul in einer russischen Suppe und ein Schiff, welches feurigen Wänden auswich, nur um so letztendlich ins Netz der Russen zu gelangen, mit alldem zu tun? Derrik Crawler bemerkte das Unverständnis, welches Tims Fachchinesisch bei den beiden älteren Semstern hervorrief und versuchte sich an einer altersgerechten Übersetzung: "Was mein Freund, Sir Tim, sagen möchte, ist: Er hat es auf etwas unkonventionelle Art geschafft, ins russische Internet zu kommen, wo er jetzt über die Ortung des Senders im Armreif wieder die Spur von Sir Lukas' verschwundener Verlobten aufnehmen kann!". Lukas und Pjotr nickten zufrieden und dankbar für diese Aufklärung. Tim aber sah fragend zu Derrik herauf und zuckte nur leicht mit den Schultern: "Sag ich doch! Und ich hab dank einem Abgleich mit Google Maps auch schon genau den Standort des Armreifs bestimmen können. Das Schmuckstück befindet sich etwa 65 Kilometer westlich von hier und verändert seine Position momentan anscheinend auch nicht". Lukas Svensson klatschte aufgeregt in die Hände: "Also gut, was stehen wir dann noch hier rum?! Ab in unseren fahrbaren Untersatz und dann nichts wie auf nach Westen!".

Der Aufforderung Svenssons folgeleistend klappte Computerfreak Timmy seinen Laptop zusammen. Dann nahmen die drei Männer ihr Reisegepäck und folgten Pjotr durch die Bahnhofsvorhalle ins Freie. Auf dem Parkplatz präsentierte ihnen der Spitzbärtige stolz ihr sichtlich abgenutztes Reisemobil - einen weißen Trabant 601S mit orangefarbenem Dach. Tim kratzte sich unschlüssig am Kopf, während er um das Unikum aus früherer ostdeutscher Massenproduktion herumlief: "Was ist das denn? Das ist doch kein Auto, allenfalls ein bunt angemalter Pappkarton!". Durch die eingestaubte Scheibe warf er dabei einen entsetzten Blick ins Wageninnere auf das recht übersichtlich gehaltene Amaturenbrett und die zugehörigen Hebel und Schalter: "Und die ganzen Schaltelemente sind ja geradezu vorsintflutlich! Das Ding kann vielleicht der gute alte Noah durch die Gegend schiffern, aber ich nicht!". Betrübt schaute er dabei zu Svensson und Pjotr herüber und zog die Schultern nach oben. "Tja, meine Herren, dann ist jetzt wohl die Sternstunde des Herrn Krauler angebrochen, denke ich mal", tönte es plötzlich in ihrem Rücken. Derrik rieb sich verzückt die Hände, während er gleichzeitig ein paar Schritte auf die zweifarbige Rennpappe zuging: "Was Ihr nämlich - wie noch so vieles von mir - nicht wißt, ist, daß ich einen Faible für osteuropäische Kultur in allgemeinen und Autos im besonderen habe. Die meiste Zeit meines Urlaubs verbringe ich in Polen und den westlichen Republiken der ehemaligen Sowjetunion mit Gleichgesinnten bei Motorcrossrennen in gemeinsam zusammengezimmerten Automobilen. Ich hab dabei schon in so manchem Trabi gesessen, und beherrsche all seine antiken Steuerelemente wie aus dem FF!". Der Rest der Männerrunde zeigte sich von dieser unerwarteten Offenbarung Crawlers sichtlich überrumpelt. Nur Ptjor Uljanow nickte anerkennend mit dem Kopf und überließ dem jungen Wilden die Schlüssel zu der gebrauchten Pappschachtel auf Rädern. Derrik nahm grinsend auf dem Fahrersitz Platz und öffnete für seine Mitstreiter durch Entriegelung des zugehörigen Stiftes die Beifahrertür. Die Lehne des Beifahrersitzes klappte er mit einem geübten Handgriff nach vorn, so daß Lukas und Tim auf der Rückbank Platz nehmen konnten. Dann startete er fachmännisch den Motor und legte geräuschvoll den Gang ein. Und während er in rasant zügiger werdendem Tempo den Bahnhofsvorplatz und den ihnen nachwinkenden Pjotr hinter sich ließ, sprach er mit augenzwinkerndem Blick in den Rückspiegel: "So, und nun dirigier mich mal schön durch die Wallachei, Timothy, damit wir die zukünftige Misses Svensson rasch den Armen ihrer Kidnapper entreißen können!". Timmy, der über Derriks plötzliche Wandlung zum osteuropäischen Rennfahrer immer noch so verblüfft war, daß er sogar vergaß, ihn wegen der Verschandelung seines extra kurzgehaltenen Vornamens anzublaffen, öffnete den Laptop auf seinem Schoß wieder und gab seinem Steuermann mittels Karte und Armreifpeilung präzise Anweisungen über jeden notwendigen Wechsel der Fahrroute. Da diese dabei so klar und exakt wie von einem professionellen Navigationsgerät kamen, konnte Derrik zwischenzeitlich nicht umhin, seinen neuen Gefährten immer wieder scherzhaft als "Tim-Tim" zu bezeichnen, was dieser aber im Feuereifer seiner Aufgabe absichtlich einfach zu überhören schien. Dafür waren Lukas und er auch einfach viel zu sehr damit beschäftigt, ganz nebenbei noch das extreme Durchgeschütteltwerden auszugleichen, welches die Kombination aus ungenügender Stoßdämpfung und holpriger Wegstrecke im Wageninnern bei ihnen auslösten.

Nach einer guten Stunde Fahrt quer durch Moskau und Umgebung langten die Drei endlich am vermeintlichen Ziel ihrer Suche an. Es handelte sich auch hier deutlich erkennbar um ein in einem kleinen Wäldchen gelegenes ehemaliges Militärgelände. Die drei Trabiinsassen entstiegen eilends ihrem engen Gefährt, und während sich Svensson aufgrund eines schmerzenden Rückens erst einmal reckte und streckte, verglich Tim noch einmal genau ihren Standpunkt mit dem des Peilsendersignals. Dann wies er über den Maschendrahtzaun hinweg in Richtung Norden und sprach: "Etwa 100 bis 200 Meter von hier müßte sich das Armband befinden. Genauer kann ich das zur Zeit nicht ermitteln, da ich hier leider keine Internetverbindung mehr habe!". Wildentschlossen machte Svensson den Anfang und kletterte über den anderthalb Meter hohen Maschendrahtzaun. Dabei gab er für sein Alter bemerkenswerterweise eine ausgesprochen gute Figur ab, auch als er von oben direkt ins Geländeinnere herabsprang. Seine Begleiter folgten ihm auf gleiche Weise nach. Erst Derrik, der drinnen angekommen den Laptop übernahm, dann auch dessen Beitzer Timmy, der sich beim etwas unbedarften Absprung zu allem Überfluß noch einen Dreiangel ins Hosenbein riß. Zum Fluchen blieb ihm allerdings keine Zeit, stattdessen pirschten sich die drei Männer im Schutze des dicht bewachsenen Nadelwäldchens und der einsätzenden Dämmerung auf leisen Sohlen von Baum zu Baum, bis sie schließlich vor dem vermoosten Eingang eines alten Armeebunkers landeten. Tim nahm eine in seiner Hosentasche mitgeführte Taschenlampe zur Hand und leuchtete mit ihr den Eingangsbereich jenes Bunkers ab. Das große Eisentor schien auf den ersten Blick lange nicht mehr benutzt worden zu sein, alles war staubig und verrostet. Erst wenn man genauer hinsah, entdeckte man, daß das Vorhängeschloß am Tor offenstand und aus seinem Schlüsselloch frisches Öl tropfte. Lukas Svensson entriegelte das Tor und zog es vorsichtig auf - bemüht, dabei nur keinen Lärm zu verursachen. Als er und seine Begleiter dann ins Innere des Bunkers traten, vernahmen sie mit einem Male ein leises, klägliches Wimmern, das mit jedem weiteren Schritt in den Bunker hinein lauter wurde und schließlich zu einem deutlich vernehmbaren Weinen anschwoll. Eine tränenerstickte Stimme schallte den Dreien schließlich beim genaueren Hinhorchen entgegen, und was sie und das von ihr in Gang gesetzte gruselige Echo zwischen den Bunkerwänden dabei ängstlich ausrief, ging Lukas augenblicklich durch Mark und Bein und schnürte ihm merklich die Kehle zu: "Lukas, mein Liebes, Gutes! Mein Gott, Bosche moij, ich Dich werden noch einmal wiedersehen in dieses Leben?!". Lukas löste sich aus seiner Erstarrung. Das war Yelena, seine Yelena, die danach ihm rief. Er mußte zu ihr, mußte sie retten - sie, die nur noch wenige Schritte entfernt sein konnte. Wild entschlossen entriß er Timmy die Taschenlampe und stürmte im Halbdunkel vor, immer tiefer und tiefer ins Bunkerinnere. Dabei eroberte er Raum um Raum des durch zahlreiche Steinwände in unzählige Kammern unterteilten schaurigen Gebäudes, in dem das Wasser gespenstisch widerhallend von den Wänden zu Boden tropfte. Er wurde schneller ... er rannte, er suchte, rannte weiter ... Er geriet außer Atem, denn er lief um sein und um Yelenas Leben ... Dann peitschte ein Schluß durch das Dunkel, hallte wieder und wieder und wieder ... bevor es mit einem Male totenstill wurde in dem riesigen Gebaüde. Lukas Svensson erstarrte erneut, dann riß er Augen und Mund weit auf und brüllte verzweifelt in die Dunkelheit des Raumes hinein: "Yeleeena! Yeleeeeena!" ... Doch so oft er seinen Schrei auch wiederholte, nur sein eigenes Echo antwortete ihm ...

Er blieb wie angewurzelt stehen, die Beine verweigerten ihm den Dienst. Er merkte, wie sie langsam weich wurden, wie der Boden unter seinen Füßen zu wanken begann. Schließlich sank er auf die Knie, wobei die Taschenlampe aus seinen Händen glitt und geräuschvoll zu Boden fiel. In ihrem spärlichen Schein aber zeichnete sich unmittelbar vor ihm die Silhouette einer mit dem Gesicht zum Boden liegenden Frau ab, aus deren durchlöchertem Hinterkopf Blut auf den schmutzigen Betonboden sickerte. An ihrem rechten Handgelenk jedoch trug sie - deutlich erkennbar - einen silbernen Armreif ...

Für Lukas Svensson war dieser schreckliche Anblick einfach zuviel. Vor seinen wild zuckenden Augen wurde es mit einem Schlag finster und er sank bewußtlos zu Boden ...

EPISODE 12: SEKUNDEN BIS ZUR EWIGKEIT

Tick-tack, tick-tack, tick-tack ... Um ihn herum war alles schwarz. Nur langsam durchbrach der matte Schein zweier gelb leuchtender, eng nebeneinander stehender Digitalziffern die Dunkelheit. Sie bauten sich mit einer Art knisterndem Geräusch vor seinem geistigen Auge auf, bis Lukas sie schließlich in ihrer vollen Leuchtkraft ganz deutlich vor sich sah: Eine Zwei und eine Vier. Dazu hörte er wie von ferne eine vertraute männliche Stimme. Es war die seines Freundes Jack aus dem fernen Los Angeles, die ihm zuflüsterte: "Die folgenden Ereignisse finden zwischen 19 und 20 Uhr statt, am Tage der Ermordung Deiner zukünftigen Braut Yelena Zladkaja. Alles, was Du siehst und hörst, geschieht in Echtzeit". Das zugehörige Schriftbild erschien und verschwand wieder. An seiner Stelle teilte sich nun das Bild auf. Es entstanden mehrere rechteckige Kästchen mit verschiedenen Bildern darin. Eines zeigte ihn, Lukas Svensson, im schwarzen Anzug. Das Kästchen daneben aber zeigte eine Frau ganz in weiß. Es war seine Yelena im schneeweißen Brautkleid. Doch was war das, in Großaufnahme darunter? Inmitten des leuchtendweißen Stoffes zeichnete sich ein häßlicher roter Fleck ab. Die Bilder wechselten und mit ihnen auch ihre Position innerhalb des großen Ganzen. Oben rechts erschien jetzt eine Waffe, die von einer ausgestreckten Hand gehalten wurde und einen Schuß abgab. Unmittelbar darunter erkannte Lukas das bleiche Gesicht seiner Yelena, links daneben aber entstand eine immer größer werdende rote Blutlache, die einem zerschossenen Hinterkopf entsprang. Und direkt darüber war ein funkelnder silberner Armreif zu sehen. Namen tauchten zwischen den einzelnen Bildkästen auf, im gleichen Gelb wie die leuchtenden Ziffern am Beginn. Namen, die Lukas völlig unbekannt waren: Kiefer Sutherland, Leslie Hope, Elisha Cuthbert, Mary Lynn Rajskub, Carlos Bernard, Sarah Clarke und Michael Massee. Die Namen kamen und verschwanden wieder. Was blieb, waren die Bilder, die sich in diesem Moment wieder neu positionierten. Wieder war Lukas festlich gekleidet und hielt einen Jungen im Arm, sein Enkelkind, wie er glaubte. Dem Kind aber tropfte etwas Feuchtes von der Stirn, das Lukas mit seinem Taschentuch eifrig fortzuwischen versuchte. In einem weiteren Kästchen erblickte er sich im gleichen schwarzen Anzug wie zuvor an einem offenen Grab, dicke Tränen liefen über sein Gesicht. Er hielt den Kopf gesenkt, als ihm plötzlich jemand sachte auf die Schulter klopfte und flüsterte: "Lukas?! Lukas, wir wollten doch heiraten! Es wird Zeit, komm doch ..."

"Komm doch ... komm endlich zu Dir, Lukas!". Es war Timmys Stimme, die nun ganz deutlich an Svenssons Ohr drang und ihn damit aus seinem merkwürdigen Ohnmachtstraum in die harte, kalte Wirklichkeit zurückbeförderte. Der Ex-Inspektor schlug langsam die Augen auf und raunte: "Wo bin ich? Was ist geschehen? Timmy, Derrik, seid ihr das?". Tim Hackerman, welcher schon die ganze Zeit über neben Lukas auf dem Boden kniete, schluchzte: "Ja, endlich! Er kommt wieder zu sich! Derrik, reich mir die Blechdose mit dem aufgefangenen Wasser und das Papiertaschentuch!". Derrik folgte widerspruchslos den klaren Anweisungen Timmys. Svenssons Schützling aber tauchte einen Zipfel des Papiertuchs ins Wasser der Konservenbüchse und tupfte damit vorsichtig die kaltschweißige Stirn seines Freundes ab. Langsam kehrte bei Lukas Svensson die Erinnerung wieder, eine grausige Erinnerung an das, was ihn kurz zuvor zu Boden geworfen hatte. Mühevoll richtete seinen Oberkörper auf und schaute sich um. Nein, es war leider Gottes kein Albtraum gewesen. Ein paar Meter entfernt von ihm lag immer noch ein lebloser Frauenkörper im Schein des Taschenlampenlichts auf dem kalten, feuchten Betonboden. Lukas zog die Knie an seinen Oberkörper heran und stützte sich mit der rechten Hand auf Timmys Schulter ab, während er unter Mobilisierung aller vorhandenen Kräfte aufzustehen versuchte. Timmy wollte ihn zurückhalten, aber er löste sich aus dem Griff seines Schützlings: "Bitte laß mich, Tim! Ich kann nicht anders! Ich muß es mit eigenen Augen sehen, muß ihr Gesicht sehen, es begreifen! Selbst wenn es mich umbringt, es muß sein!". Damit schwankte er langsam auf die am Boden liegende Leiche zu. Er sah den silbernen Reif an ihrem rechten Unterarm, erblickte die klaffende Wunde an ihrem Hinterkopf, umrahmt von all dem inzwischen angetrockneten Blut. Behutsam hob er den schlaffen Frauenkörper ein wenig an, und drehte ihn aus dem Lichtkegel der Taschenlampe heraus auf den Rücken. Wie kalt und starr sie sich doch anfühlte? Und dabei hatte er seine Yelena so warm und lebendig in Erinnerung. Mit zitternden Händen ertastete er die Taschenlampe auf dem Fußboden und hob sie auf. Er scheute sich innerlich davor und dennoch erhob er sie langsam und leuchtete in das blasse, leicht blaugefleckte Gesicht der Toten, deren Augen ihm weit aufgerissen entgegenstarrten. Tränenströme brachen sich Bahn über das ganze Gesicht des Ex-Inspektors und die Hände in die Luft reißend schrie er: "Mein Gott! Mein Gott ...".

"... sie ist es nicht! Das ist nicht meine Yelena! Mein Schatz ist nicht tot. Mein Gott, sie lebt!". Erleichterung breitete sich über seinen ganzen zitternden Körper aus, selbst hier im Angesicht des Todes. Ein tonnenschwerer Stein fiel von seiner Seele ab, und sein Poltern schien dabei mehrfach im Dunkel des riesigen Bunkers nachzuhallen. Es vergingen ein paar Sekunden, dann aber beugte sich Lukas Svensson noch einmal zu der Leiche jener unbekannten jungen Frau herab und schloß ihr mit Daumen und Zeigefinger beider Hände behutsam die toten Augen. Er legte in dieser Haltung eine kurze Schweigeminute ein, dann entfernte er vorsichtig den Armreif von ihrem Handgelenk und starrte ihn seufzend an. Die Freude, daß die Tote vor ihm nicht seine Yelena war, bekam dabei gleichzeitig einen merkwürdig faden Beigeschmack. Ja, natürlich, seine Yelena lebte, doch ohne den Armreif mit dem Sender war ihre Spur kalt, so kalt wie die Haut am Handgelenk der Toten. Langsam versuchte sich Lukas wieder aufzurichten. Seine linke Hand streifte in diesem Augenblick versehentlich den Gürtel der Toten und registierte einen daran angebrachten Gegenstand, auf den der Ex-Inspektor jetzt rasch das Licht der Taschenlampe ausrichtete. Er erkannte dabei eine Art Diktiergerät, wie es ihm Freakadelly mit auf die Reise gegeben hatte. Nur daß es sich hier um ein etwas älteres Modell zu handeln schien, in dessem Inneren sich eine Microkassette verbarg. Lukas nahm das Gerät an sich, erhob sich wieder und überreichte es zusammen mit der Lampe seinem Technikexperten Timmy. Der drückte kurzerhand einen der Knöpfe, worauf deutlich hörbar ein Rückspulprozeß in Gang gesetzt wurde. Als das Band nach ein paar Sekunden stoppte, drückte Timmy den Wiedergabeknopf. Etwa eine halbe Minute war nichts zu vernehmen außer das gleichmäßige Laufgeräusch des Kassettenbandes. Dann aber folgte nur umso lauter jenes flehende "Lukas, mein Liebes, Gutes! Mein Gott, Bosche moij, ich Dich werden noch einmal wiedersehen in dieses Leben?!" seiner Yelena, welches die Drei schon beim Betreten des Bunkers so gespenstisch widerhallend empfangen hatte. Lukas Svensson schossen dabei erneut die Tränen in die Augen, Tränen der Verzweiflung und Tränen der Wut. Mit einer Tonbandkonserve hatte man ihn also zum Narren gehalten und ihn und seine Jungs in die Tiefen dieses Bunkerlochs gelockt. Und dabei war seine Yelena gar nicht hier, vielleicht nie hier gewesen. Zornig verkrampften sich seine Hände zu Fäusten, als plötzlich von irgendwoher ein lautes Poltern zu vernehmen war.

Timmy schaute bei dem widerhallenden Poltergeräusch entgeistert in die Richtung, aus der die Drei zuvor nach Betreten des Bunkers gekommen waren. Dann rief er ganz entsetzt: "Ich glaube, da hat gerade jemand die Bunkertür zugehauen". Derrik entriß Svensson blitzartig die Taschenlampe und entschwand damit schnellen Schrittes in Richtung Ausgangstür. Wenige Sekunden später kam er zurückgerannt und keuchte sichtlich außer Atem: "Stimmt ... Hattest ... Recht ... Zu ... Verriegelt ... die Tür ... von außen ... zugesperrt! Jemand ... hat uns ... hier drinnen ... eingesperrt!". Tim, der in diesem Moment die Taschenlampe wieder übernommen hatte, richtete deren Lichtstrahl über die unbekannte Frauenleiche hinweg in eine der äußersten Ecken der dunklen Bunkerkammer. Dabei sprach er mit zittriger Stimme: "Und das ist, glaube ich, noch nicht mal unser größtes Problem!". Lukas folgte dem Schein der Lampe und sah im finsteren Eck erneut zwei gelbe Ziffern aufleuchten, eine Zwei und eine Vier. Doch dieses Mal waren sie durch einen ebenfalls leuchtenden Doppelpunkt voneinander getrennt und hinter der Vier war noch eine, wenn auch etwas verblaßte dünnbäuchige Null zu sehen. Lukas schritt langsam auf die Leuchtanzeige zu. Tim, der mit der Taschenlampe seine Schritte begleitete, wollte ihn noch warnen, aber es war schon zu spät. Die Füße des Ex-Inspektors berührten einen dünnen, über die ganze Länge des Betonbodens gespannten Draht, es machte deutlich hörbar Klick, und die bis dato starre Leuchtzifferanzeige setzte sich in Form eines Countdowns in Bewegung ...

2:40 ... 2:39 ... 2:38 ... Tims Taschenlampenstrahl suchte erneut die Leuchtanzeige mit dem nun im Sekundentakt blinkenden Doppelpunkt, während sich Lukas Svensson ihr jetzt nur umso schneller näherte. Der Ex-Inspektor kniete nieder und besah sich das Ganze genauer. Kein Zweifel: Bei dem, was da mit ein paar Drähten hinter dem Leuchtdisplay angebracht war, handelte es sich um einige Kilogramm Plastiksprengstoff C4 - ausreichend, um den gesamten Bunker und seine nähere Umgebung mit einem großen Knall dem Erdboden gleich zu machen. Wieder ging Lukas Blick' zu den Leuchtziffern ...

2:20 ... 2:19 ... 2:18 ... Svenssons Schützling war herbeigeeilt und kniete jetzt unmittelbar neben seinem Freund. Dabei ließ er mit seiner Taschenfunzel die Zeitzünderbombe gleich in einem ganz neuen Licht erscheinen. Insgesamt drei Drähte wurden sichtbar, die vom Display zu einer Art Sprengkapsel, fest eingebettet in die hochexplosive Masse, führten: ein roter, ein blauer und ein weißer. Tim zuckte nervös mit den Schultern: "Was sollen wir nur tun, Sir? Wenn wir nichts unternehmen, fliegen wir in Kürze in die Luft. Unterbrechen wir den Stromkreis an der falschen Stelle, fliegen wir vermutlich auch in die Luft. Lukas, so sagen Sie doch was?!". Lukas Svensson aber starrte nur weiter hilflos auf die Leuchtanzeige ...

2:00 ... 1:59 ... 1:58 ... Tim packte in diesem Augenblick blanke Todesangst. Und aus ihr wurde in seinem Innern ein verzweifelter Übermut geboren - einer, der die Drei am Ende vermutlich nur noch sicherer und schneller ins Jenseits befördern würde. Zum Äußersten entschlossen ergriff er den weißen Draht und schrie wie ein Verrückter: "Irgendwer muß doch hier was unternehmen! Ich halt dieses schreckliche Warten nicht länger aus! Und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben je tue, ich zieh diesen verdammten Drecksdraht jetzt raus ...". Lukas versuchte nicht einmal, ihn von seinem verzweifelten Unterfangen abzuhalten, hatte er doch selbst keine bessere Lösung parat ...

1:40 ... 1:39 ... 1:38 ... Ein heftiger Schlag traf Timmy mitten ins Gesicht und ließ ihn erschrocken seine verkrampften Finger wieder von dem weißen Draht lösen. Es war Derrik, der ihm da eine saftige Ohrfeige verpaßt hatte und nun seinerseits brüllte: "Niemand zieht hier irgendwas aus dem Teil raus! Sag mal, bist Du denn bescheuert! Du bringst uns doch alle um! Schließlich hast Du Computerfreak gar keine Ahnung davon, wie man mit einem solchen Sprengsatz umgeht!". Timmy rieb sich die schmerzende Wange und winselte dabei: "Aber Du Dreikäsehoch bist hier der Meister der Bombenentschärfung, oder was?! Wenn der Herr so schlau ist, dann tu doch endlich was! Wir sind schließlich allesamt noch viel zu jung zum Draufgehen!". Derrik Crawler nickte entschlossen: "Ganz recht! Doch erst muß man einen kühlen Kopf bewahren und nachdenken, dann handeln!". Lukas aber bekam von dem hitzigen Wortgefecht seiner Reisebegleiter herzlich wenig mit. Er folgte auch weiter mit starrem Blick dem tödlichen Zahlenspiel der blinkenden Digitalanzeige ...

1:20 ... 1:19 ... 1:18 ... Derrik entriß Timmy die Taschenlampe wieder und strahlte die Bombe von allen Seiten an. Er kratzte sich nachdenklich am Kopf, dann hob er den gesamten Sprengsatz vorsichtig hoch. Dabei murmelte er zufrieden: "Mit dem Untergrund verdrahtet ist das Teil nicht. Das ist doch erstmal eine gute Nachricht!". Panisch kreischend unterbrach Timmy Derriks Selbstgespräch: "Gute Nachricht? Du hast sie doch nicht mehr alle, Du Idiot! Soll ich Dir mal eine schlechte Nachricht mitteilen?! In einer guten Minute sind wir alle tot!". Derrik aber schüttelte gelassen den Kopf: "Nur, wenn Du hier weiter rumschreist wie ein Irrer und mich damit von der Arbeit abhälst! Also halt einfach die Klappe, sieh mir zu und lerne ...". Damit steckte er sich die Taschenlampe in den Mund und nahm vorsichtig den gesamten Sprengsatz an sich, so daß dieser sich dem Blick des Ex-Inspektors entzog ...

1:00 ... 0:59 ... 0:58 ... Mit ruhiger Hand und einem aus der Hosentasche hervorgezauberten Taschenmesser trennte Derrik Crawler die Plastiksprengstoffmasse unterhalb der Verdrahtung sachgerecht ab, so daß sie in einen verdrahteten und einen unverdrahteten Teil zerfiel. Den unverdrahteten Teil, der deutlich größer war, überreichte er Timmy und flüsterte ihm dabei zu: "Keine Sorge, ohne Kabel ist das Zeug völlig harmlos. Wireless LAN ohne Verbindung zum Router, um es mal in Deiner Sprache zu umschreiben. Kannst Dir aus der Knetmasse ja ein kleines Angsthäschen baun, während Onkel Derrik seine explosive Fracht ausliefert". Dabei warf er noch einmal ein Auge auf die wild blinkende Leuchtanzeige ...

0:40 ... 0:39 ... 0:38 ... Forschen Schrittes trabte Derrik mit dem C4 in Händen und der Taschenlampe im Mund in Richtung Bunkertür, wo er den minimierten Sprengsatz vorsichtig niederlegte. Dann rannte er rasch zu Tim und Lukas zurück, die er beide entschlossen am Arm packte und mit sich in den hintersten Teil des Bunkers zog. Hier angelangt aber brüllte er laut: "Alle Mann in Deckung!". Mit diesem Kommando warfen sich er und die zwei völlig überrumpelten Männer mit dem Gesicht zu Boden, die Hände zum Schutz der Ohren instinktiv nach dem alten Atomangriff-Lehrfilmmotto "Duck & Cover" über dem Kopf verschränkend ...

0:15 ... 0:14 ... 0:13 ... Lukas Svensson hatte den Countdown die ganze Zeit über stumm im Kopf mitgezählt. Und dann flutete mit einem Male ein ohrenbetäubender Lärm den Bunker. Die Erde bebte unter den Körpern des starr am Boden liegenden Dreiergespannes. Riesige Massen feinsten Betonstaubes lösten sich von der Decke und den Wänden und nebelten damit den gesamten Bunker gräulich ein.

Es kam den Dreien wie eine Ewigkeit vor, bis die Erschütterung unter und der ohrenbetäubende Lärm über ihnen endlich wieder nachließen. Vorsichtig erhoben sie sich, lösten ihre Hände langsam von den Ohren und klopften damit den Staub von ihren Kleidern ab. Lukas mußte niesen - einmal, zweimal und noch einmal. Vor und zwischen den Niesattacken aber krächzte er: "Hausstaub ... Allergie ... Kein Problem ... Geht gleich wieder!". Timmy fiel unterdess Derrik um den Hals und küßte ihm mit seinen ausgetrockneten Lippen die staubige Stirn: "Hurra, wir leben noch! Danke, Derrik, danke!". Derrik löste sich vorsichtig aus der Umklammerung und wischte sich ein wenig angeekelt über seinen leicht speichelbenetzten Haaransatz: "Ok, ok! Ist ja gut! Kein Grund, mich gleich so abzuschlecken. Spar Dir das für Deine Maus zuhause auf - also die vom PC, mein ich!".

Lukas Svensson bekam die kleinen Frötzeleien seiner Mitreisenden gar nicht mit. Er hatte sich inzwischen - mit der vom Boden aufgehobenen Taschenlampe dem matten Schein des aufgehenden Mondes folgend - zum durch die Detonation freigesprengten Bunkereingang begeben und ein wenig frische, relativ staubfreie Luft geschnappt. So stand er einige Sekunden völlig regungslos zwischen all dem Schutt und Staub, den die gewaltige Explosion zurückgelassen hatte und wirkte dabei unheimlich nachdenklich. Hinter sich hörte er dabei bereits die Schritte seiner Begleiter, die auf der Suche nach ihm langsam näherkamen. Timmy und Derrik stellten sich schließlich neben ihm auf und genossen tief lusftholend die wiedergewonnene Freiheit, während Lukas murmelte: "Das versteh ich nicht! Ich hab doch die ganze Zeit über genau mitgezählt ...". Timmy schaute den Ex-Inspektor fragend an: "Und was verstehst Du dabei nicht?". Lukas wischte sich mit dem Handrücken über die eingestaubte hohe Stirn: "Also eigentlich waren dem Countdown nach noch ganze 13 Sekunden übrig, als der Sprengsatz detonierte. Wie soll man sich das erklären?! Eine Spontanzündung?! Ist sowas denn bei einem so sicheren Sprengstoff wie C4 überhaupt möglich?". Statt einer Antwort aber ballte Derrik in seinem Rücken urplötzlich beide Fäuste und meinte wutschnaubend: "Aber klar doch! Dieses Schwein hat die Bombe vorzeitig ferngezündet. Und das nicht von irgendwoher, sondern ganz aus der Nähe. Der Mistkerl wollte ganz sicher sein, daß wir alle Drei auch wirklich draufgehen. Er kann noch gar nicht weit gekommen sein. Schließlich mußte er die Bunkertür ja auch persönlich von Hand verriegeln. Ich wette, der hockt irgendwo auf dem Gelände versteckt und wähnt sich nach seinem feigen Anschlag dort jetzt völlig sicher. Und genau das wird ihm nun zum Verhängnis werden, denn jetzt schnappen wir ihn uns!". Blitzschnell ergriff er die Taschenlampe aus Lukas Svenssons Hand und entschwand damit vor den verblüfften Augen seiner Teamkollegen raschen, entschlossenen Schrittes im schummrigen Gelände ...

EPISODE 13: TÖDLICHES SPIEL

Einmal mehr hatte es Derrik Crawler in diesem Moment geschafft, Lukas Svensson zu überraschen. Der entschlossene junge Mann schien den Anschlag auf das Leben der Drei sogar noch persönlicher zu nehmen als der Ex-Inspektor selbst. Timmy und Lukas schauten sich völlig sprachlos an, dann folgten sie im Dunkel der anbrechenden Nacht ein wenig zögernd ihrem entschwundenen Kameraden. Nach etwa 800 Metern holten sie Derrik unmittelbar vorm Eingang zu einem anderen Bunker schließlich wieder ein. Er stand wie angewurzelt da und hielt die Taschenlampe in seiner Hand gesenkt, so daß sie lediglich einen Teil des sandigen Waldbodens ausleuchtete. Unmittelbar vor ihm aber war durch einen Spalt unter dem Eisentor jenes Bunkers ein weiterer Fetzen Licht zu erkennen, der ganz offensichtlich von dessen Innerem herrührte. Als Derrik das Eintreffen von Lukas und Tim bemerkte, drehte er sich langsam zu ihnen um, richtete den Lichtkegel der Taschenlampe einen Augenblick auf sein Gesicht aus und legte dabei symbolisch den Zeigefinger auf die Lippen. Dann knipste er seine Funzel aus und begab sich auf leisen Sohlen zum Eisentor. Dort angekommen aber öffnete er vorsichtig - wie in Zeitlupe - Millimeter um Millimeter eine im Tor eingearbeitete Wellblechtür. Als sie schließlich weit genug offenstand, schlüpfte er langsam hindurch. Lukas und Tim folgten ihm dabei in einigen Schritten Abstand. Im Innern des Bunkers war die Quelle des ominösen Lichts leicht ausgemacht. Es handelte sich um einen kleinen Nebenraum, aus dem in dieser Sekunde auch ein leises Pfeifen und Summen - wie aus dem Munde eines Mannes - an das Ohr der drei nächtlichen Besucher drang. Derrik, Lukas und Tim tasteten sich ganz dicht an der Wand entlang zum Eingang jenes Nebenraumes vor, wo Derrik schließlich vorsichtig um die Ecke spähte.

Inmitten des mit wenigen Einrichtungsgegenständen recht funktionell ausgestatteten Raumes saß ein älterer Mann mit militärischem Kurzhaarschnitt hinter einem Campingtisch auf einem Hocker und drehte - übers ganze Gesicht grinsend - verspielt ein kleines schwarzes Plastikkästchen in seiner rechten Hand, wobei er in unregelmäßigen Abständen mit ein paar schiefen Tönen die Melodie des Westernklassikers "Spiel mir das Lied vom Tod" vor sich her pfiff. Vor ihm auf dem Tisch lagen griffbereit zwei Waffen - ein alter Revolver und eine Pistole. Rechts von ihm befand sich in einer Ecke des Raumes eine große, hölzerne Munitionskiste, auf der ein Stapel Papiere verteilt lag. Daran lehnte - mit einem schmutzigen Tuch verhangen - offenbar ein Gemälde in seinem goldfarbenen Rahmen. Zur Linken Kowarnows hingegen war sich eine Art Notstromaggregat aufgestellt, an dessen beiden Kabeln mittels zweier Metallklemmen eine Schwarzlichtlampe angebracht war. Auf dem Aggregat aber stand jene Petroleumlampe, die dem ganzen Raume und seiner Umgebung den weithin sichtbaren flackernden Lichtschein bescherte.

Fürs erste hatte Derrik scheinbar genug gesehen. Er nahm den Kopf langsam ein wenig zurück und neigte ihn dann zu - dem neben ihm an die Wand gepreßt stehenden - Tim. Der Inspektor flüsterte Svenssons Schützling sekundenlang etwas ins Ohr, wobei Timmy hin und wieder nickte. Schließlich trat Derrik mit einem Male blitzschnell ins Licht des Eingangsbereichs des Nebenraumes und rief: "Iwan Iwanowitsch Kowarno, Du verdammter Dreckskerl! Wolltest uns alle Drei umbringen, wie?!". Ein paar Sekunden herrschte Schweigen im Raum. Dann meldete sich stammelnd eine männliche Stimme zu Wort, die Svensson vom Ende seines Junggesellenabends nur allzu vertraut vorkam: "Das ... das ... kann doch ... nicht sein. Ich ... ich hab doch ... extra ... ein paar Sekunden früher ... Der ganze Plan war doch ... todsicher!". Derrik Crawler ging nicht weiter auf die Worte Kowarnos ein, stattdessen brüllte er nur "Zugriff!" und stürzte sich dabei schnellen Schrittes und zuletzt mit einem kühnen Sprung über den Tisch hinweg auf den sichtlich überraschten Kowarno. Sein "Zugriff!" aber war anscheinend genau das zuvor mit Tim Hackerman abgesprochene Zeichen, denn im selben Moment war auch der losgelaufen und hatte die beiden - beim Sprunge Crawlers mitsamt dem Campingtisch zu Boden gegangenen - Handfeuerwaffen ergriffen. Und während sich Derrik und Kowarno im wilden Handgemenge noch auf dem staubigen Betonboden sühlten, übergab Timmy den Trommelrevolver und die Pistole vom Typ Makarow an den inzwischen ebenfalls eingetretenen Svensson. Im Umgang mit Waffen noch bestens geübt hielt der Ex-Inspektor die bereits entsicherte Pisole in die Luft und drückte ab. Ein dumpfer Knall, der innerhalb der Räumlichkeiten noch mehrfach gespenstisch wiederhallte, löste sich und ließ mit durchschlagendem Erfolg ein wenig Betobstaub von der Decke rieseln.

Das Menschenknäul am Boden ließ angesichts des Schusses erschrocken voneinander ab. Und während Derrik aufsprang und ein paar Schritte zurücktrat, so daß er schließlich neben Svensson zu stehen kam, blieb Iwan Kowarno zunächst einmal völlig regungslos auf dem Rücken liegen. Lukas übergab die Makarow an Derrik und spannte nun den Hahn des Revolvers. Dabei blitzten seine Augen wutentbrannt auf, während er brüllte: "Los, ganz langsam hoch mit Dir, Du Mistkerl! Und die Hände schön über dem Kopf, wo ich sie sehen kann! Zwing mich nicht, Dir eins überzubrennen". Und als Kowarno dann endlich wieder auf seinen Beinen stand, ergänzte Svensson: "Und jetzt: Gesicht und Hände an die Wand und Beine auseinander!". Der Russe tat wie ihm geheißen. Und während Lukas und Derrik von links und rechts mit den Waffen im Anschlag sicherten, klopfte Timmy auf Geheiß Derriks Kowarnos Kleidung von unten nach oben nach weiteren versteckten Waffen ab. Dabei kamen an seinem Gürtel zwei Handgranaten, sowie im linken Stiefel versteckt eine Art Wurfmesser zum Vorschein, welche Timmy nach beendeter Leibesvisitation umgehend an Derrik weiterreichte. Lukas befahl Kowarno, sich langsam umzudrehen, dann schaute er ihm tief in die Augen und brüllte schließlich: "Was hast Du mit meiner Yelena gemacht, Du Hund, Du? Wo ist sie?". Ein dreckiges Grinsen huschte über Kowarnos Gesicht: "Deine Yelena?! Sie war, ist und bleibt meine Frau - im Leben wie im Tode! Und wenn Du glaubst, ich verrat Dir, wo ich sie gelassen habe, nur weil Du hier einen auf John Wayne für Arme machst, dann bist Du noch dümmer als ich dachte!". Dem eiskalten Blick Kowarnos entnahm Lukas Svensson, daß es dem Russen mit dem Gesagten ziemlich ernst war. Und mit einfachen Mitteln war ein so gut ausgebildeter, ehemaliger KGB-Spitzenagent sicher nicht zu knacken. Die Situation schrie förmlich nach unkonventionellen Methoden - und Lukas war dabei in seiner puren Verzweiflung durchaus zum Äußersten entschlossen. So ließ er durch Timmy den Hocker und den Campingtisch wieder aufstellen und befahl Kowarno dann, sich zu setzen.

Nur zögerlich war der Russe der Aufforderung nachgekommen, wobei er durch ununterbrochenen Blickkontakt zu Svensson versuchte, dessen Gedankengänge irgendwie zu entschlüsseln. Allein der starre, kalte Blick des Ex-Inspektors machte dies vollkommen unmöglich. Was um alles in der Welt hatte der nur mit ihm vor? Svensson hob seine Hand mit dem Revolver deutlich sichtbar in die Luft: "Ein Nagant M1895! Beeindruckend! Ein Trommelrevolver, wie man ihn hier in der ehemaligen Sowjetarmee vor allem im zweiten Weltkrieg verwendete. 7 Schuß Munition, in der Ausführung Single Action mit Spannhahn und separatem Abzug. Im Gegensatz zu vielen anderen Revolvern muß man bei dem hier erst eine Ladeklappe an der rechten Seite der Trommel öffnen, um dann die Patronen Stück um Stück einzeln einzuführen oder aber zu entnehmen, so wie ich es jetzt tue ...". Damit öffnete er besagte Ladeklappe und beförderte unter ständigem leichten Drehen der Trommel mit sichtlicher Gleichgültigkeit Patrone für Patrone laut mitzählend zu Tage: "1 ... 2 ... 3 ... 4 ... 5 ... 6 ... und 7!". Anschließend bewegte er die Hand, in der er die Patronen hielt, mehrmals auf und ab, wobei ein leichtes metallisches Klimpern den Raum durchdrang. Lukas' Mundwinkel begannen, dämonisch zu zucken, während er sechs der Patronen in seinem Mantel verschwinden ließ und die in seiner Hand verbliebene siebte zwischen Daumen und Zeigefinger ins Licht hielt: "Und die stecken wir jetzt rasch wieder ins Trömmelchen zurück!". Damit bewegte er die aufblitzende Patrone wieder auf den Revolver zu. Er ließ das scharfe Geschoß in seine Handfläche gleiten, bewegte das Ganze von hinten an die Revolvertrommel heran und drückte schließlich von oben leicht mit dem Daumen dagegen. Dann schloß er die Ladeklappe des Revolvers wieder und drehte anschließend kräftig an der Trommel, die sich für einen Moment surrend im Kreise bewegte, bevor sie schließlich leise klickend in einer bestimmten Position verharrte.

Svensson senkte die Hand, in der er den Revolver hielt, noch einmal für einen Moment und griff gleichzeitig mit der anderen Hand in seine Manteltasche, aus der er nur Sekunden später das - ihm von Freakadelly mitgegebene - Diktiergerät zutage beförderte. Dabei rutschte ihm auch eine Art zusammengeknülltes Papier mit aus der Manteltasche heraus und segelte - von allen vier Anwesenden in der deutlich angespannten Situation völlig unbemerkt - lautlos auf den staubigen Betonboden des Bunkers herab. Lukas Svensson aber trat ein paar Schritte vor, legte den "Digital Pocket Dictator" vor Kowarnos leicht verstörten Gesicht auf dem Campingtisch ab und drückte die Aufnahmetaste. Dabei grinste er erneut und sprach: "Sie haben ja sicher nichts dagegen, wenn ich unsere nette, kleine Unterhaltung für die Ohren der Nachwelt konserviere, oder?! Ok, dann kann es ja losgehen! Wir spielen jetzt ein schönes altes Spiel aus Ihrer Heimat, Kowarno! Russisches Roulette! Die allgemeinen Regeln darf ich wohl als bekannt voraussetzen! Immer wenn Sie an der Reihe sind, stelle ich Ihnen außerdem eine Frage, die Sie wahrheitsgetreu beantworten müssen. Bin ich mit Ihrer Antwort zufrieden, dürfen sie den Lauf der Waffe zur Decke richten, bevor sie abdrücken. Wenn nicht, bleibt der Lauf an der Schläfe. Das Spiel endet einzig und allein mit dem Tod von einem von uns beiden! Und Sie haben die Ehre, beginnen zu dürfen!". Damit überreichte er dem vor ihm sitzenden Russen ohne mit der Wimper zu zucken den Revolver. Der bis dato erstarrt zuschauende Tim wollte Svensson von seinem irrsinnigen Vorhaben abhalten, doch Lukas schubste ihn unsanft von sich und sprach entschlossen: "Laß mich! Ohne Yelena hab ich jezt und hier schließlich eh nichts mehr zu verlieren! Du und Derrik, Ihr Zwei haltet Euch da raus, verstanden?! Das ist eine Sache allein zwischen mir und dem Iwan da!".

Kowarno schaute Svensson entgeistert an, dann ergriff er den Lauf des Revolvers und führte ihn mit dem Finger am Abzug langsam zur rechten Schläfe. Iwan Kowarno war zeitlebens ein Spieler gewesen. Und so ließ er sich auch auf jenes tödliche Spiel ein, zumal seine Chancen beim ersten Schuß eh noch am besten standen. Svensson aber stellte seine erste Frage: "Wer war die tote Frau im Bunker vorhin?". Kowarno grinste, denn diese Antwort fiel ihm nicht schwer: "Sie war ein Nichts, ein Niemand. Ihr Name war Katja, und sie hatte es verdient zu sterben. Das dumme Ding wurde einfach zu aufmüpfig. Andauernd quatschte sie von Hochzeit und höhrerer Beteiligung am Gewinn unserer gemeinsamen Aktion. Sie mischte sich in alles ein, glaubte, sie hätte das Recht auf eine eigene Meinung. Gemeckert hat sie die ganze Zeit über wie eine Ziege. Wissen Sie, Svensson, als ich ein Kind war, da hatten meine Eltern auf ihrem Hof mal ein ähnlich freches Zicklein. Das hat auch nur gemeckert, den ganzen lieben langen Tag. Und irgendwann hatte ich genug von dem blöden Vieh und hab ihm mit einem Spaten den Schädel gespalten. Dann war endlich Ruhe! Und so war es bei dieser Katja auch! Eine himmlische Ruhe kehrte ein, als sie so hingestreckt am Boden lag". Kowarno grinste zufrieden, während Tim im Hintergrund sichtlich angewidert den Kopf schüttelte. Lukas jedoch verzog keine Miene. Der Russe hob unterdess leicht verunsichert den Revolver nach oben und drückte ab. Es klickte kurz, die Trommel bewegte sich um eine Position weiter, und der Revolver wechselte zu Svensson.

Der Ex-Inspektor nahm ihn, legte sich den kalten Lauf an die Schläfe, spannte den Hahn und drückte - ohne zu zögern - ebenfalls ab. Wieder ein Klick! Dann übergab Svensson die Waffe erneut an Kowarno. Eine einzelne Schweißperle meldete sich auf dessen Stirn, als er den Lauf erneut seiner Schläfe näherte. Auch er spannte den Hahn wieder und wartete dann mit dem Finger am Abzug auf Svenssons Frage. Die kam prompt wie aus der Pistole geschossen: "Worum ging es bei der Flugzeugentführung wirklich?". Kowarno antwortete unmittelbar: "Ich wollte meine Frau nach Hause holen, heim ins Russische Reich, da wo sie und ich hingehören, wiedervereinigt bis in den Tod und darüber hinaus!". Svensson schüttelte den Kopf: "Keine ehrliche Antwort, vielmehr eine Beleidigung meiner Intelligenz, mein Lieber. Kein Freischuß für Sie! Also los, drücken Sie ab!". Die Schweißperle auf Kowarnos Stirn bekam Gesellschaft. Dennoch drückte er letztlich den Abzug herunter. Wieder ein Klicken, aber kein Schuß! Erleichtert atmete der Russe aus. Er wischte sich mit dem Jackenärmel über die schweißige Stirn, dann übergab er die Waffe an Lukas Svensson.

Der übernahm erneut ohne eine Spur von Erregung oder Zittern. Gelassen legte er den Lauf an die Schläfe, spannte den Hahn und drückte ab - alles in einem Atemzug. Ein erneutes Klicken ohne lautes Nebengeräusch kündete auch diesmal vom glücklichen Ausgang des Spielzugs. Wieder wanderte der Revolver zu Kowarno. Der legte langsam mit zittriger Hand an und spannte zögernd den Hahn. Lukas aber sprach: "So, die Hälfte des Spiels liegt hinter uns. Ist doch ganz interessant, oder?! Meine nächste Frage: Was wollen Sie eigentlich von Yelena? Und kommen Sie mir nicht wieder mit einer dieser billigen Ausreden wie eben!". Kowarno zögerte einen Moment. Dann bemühte er sich sichtlich um sein verlorengegangenes lässiges Grinsen und sprach: "Ich brauchte ihre beruflichen Fähigkeiten!". Svensson schaute skeptisch: "Berufliche Fähigkeiten? Wollten Sie in ihrem Bunker hier Frühjahrsputz machen, oder was soll diese dämliche Antwort?". Kowarno schüttelte aufgeregt den Kopf hin und her: "Das ist die Wahrheit! Denken Sie, meine Yelena war schon immer eine billige Putze gewesen. Nein! Wenn die früher hier mit mir zusammen etwas abgestaubt hat, denn waren das weltberühmte und längst verlorengeglaubte Meisterwerke. Ja, Leutnant Yelena Kowarnowa war nicht nur meine Ehefrau sondern auch die unumstrittene Königin der Kunstexperten im Schatten des sowjetischen Geheimdiensts. Erst nach ihrer Flucht in Ihr degeneriertes Königreich hat sie sich als Raumpflegerin völlig unter Wert verkauft". Man konnte nur erahnen, was bei dieser Erkenntnis wohl in Lukas Svensson vorgehen mochte, denn äußerlich blieb er auch jetzt völlig gelassen. Nur sein Blick ging kurz zur Decke als Zeichen, daß ihm Kowarnos Antwort genügte. Wieder erhob der Russe die Waffe nach oben und drückte erleichtert ab. Ein Klick, dann war Lukas am Zug.

Der verzog auch diesmal keine Miene, legte an und drückte ab. Klick! Sein Gesicht aber zeigte erneut ein teuflisches Grinsen, als er Kowarno die Waffe entgegenstreckte: "Tja, 6 von 7! Scheint heute nicht Ihr Glückstag zu sein, Kowarno! Bleibt Ihnen nur zu hoffen, daß mich Ihre letzte Antwort überzeugen kann!". Dem Angesprochenen rann der Schweiß mittlerweile aus sämtlichen Poren. Alles in ihm sträubte sich dagegen und dennoch führte er schließlich den Lauf des Revolvers ein letztes Mal zur schweißgebadeten Stirn. Mit dem zitternden Finger am Abzug erwartete er die alles entscheidende Frage, die der Ex-Inspektor in diesem Moment stellte: "Wo ist Yelena?". Die blanke Todesangst und der scheinbar wahnsinnig gewordene Svensson vor ihm brachten den einst so mächtigen und selbstgefälligen Russen ins Stottern: "Sie ... sie sind ja ... verrückt ge ... geworden! Ok .. ok! Ich sa ... sag Ihnen ja alles, was Sie ... Sie wissen wollen! ... Sogar wer mei ... mein Hintermann bei Ihnen im Ya ... Yard ist! Ja, Sie haben richtig ge ... gehört! Oder denken Sie ... Sie, ich ha ... hab das hier ganz allein ab ... abgezogen?". Svensson beugte sich ein wenig nach vorn und hakte nach: "Sie meinen, in den Diebstahl des Munch-Gemäldes ist einer meiner Exkollegen involviert?". Kowarno begann, wie ein Irrer mit dem Kopf zu schütteln: "Gemälde?! Gemälde, Blödsinn! Der ganze 'Blaue Schrei' ist doch nur eine einzige Fälschung. Was dahintersteckt, darum geht es! Es geht um etwas viel, viel Größeres! Und ja, es gibt einen Falschspieler in Ihren Reihen! Doch bevor ich Ihnen sage, wer es ist, darf ich da erstmal bitte diesen verdammten Revolver weglegen ...". Lukas nickte. Kowarno ließ die Waffe sinken und richtete sie dabei unwillkürlich auf Svensson. Ein Schuß durchbrach die angespannte Stille, und sein Echo hallte im Bunkerinnern deutlich nach.

Im nächsten Moment sank Kowarno mit blutender Brust zu Boden. Lukas Svensson blickte sich erschrocken um, und sah Derrik Crawler mit weit aufgerissenen Augen erstarrt mitten im Raum stehen, die Pistole im Anschlag, aus deren Mündung es noch dampfte. Dabei stammelte der Inspektor: "Aber, aber, er hat doch die Waffe auf Dich ... Was sollte ich denn tun? Ich dachte, er bringt Dich um!". Tränen schossen augenblicklich in Lukas Svenssons Augen, und verzweifelt schrie er Crawler an: "Mich umbringen? Aber womit denn? Ich hab doch nur geblüfft, Du Unglücksrabe. Da war doch gar keine Patrone in der Trommel. Ich hab ja nur so getan, als ob ich sie wieder reintue!". Mit diesen Worten aber wandte er sich von Derrik ab und stürzte sich auf den am Boden liegenden, röchelnden Kowarno, aus dessen linker Brust schwallweise das Blut herausschoß. Svensson rollte Kowarnos Hemd nach oben, so daß die zerschossene und stark behaarte Brust nun völlig freilag. Dann drückte er mit einer Handfläche auf die offene Wunde und packte den Sterbenden mit der anderen Hand am Hemdskragen und schrie verzweifelt: "Sag mir, wo Yelena ist! Tu wenigstens am Ende Deines erbärmlichen Verbrecherdaseins noch einmal etwas Anständiges und rette ihr Leben! Wenn Du sie auch nur für eine Sekunde wirklich je geliebt hast, dann sag mir, wohin sie von Dir und Deinen Leuten verschleppt wurde!". Kowarnos Lippen öffneten sich einen Spalt breit, und als Lukas sein Ohr ganz dicht davor postiert hatte, flüsterte er: "Fahrt ... Fahrt zur ...". Lukas rief aufgeregt: "Ja, wohin! Komm schon, sag mir, wohin wir fahren sollen!". Kowarno aber hauchte mit letzter Kraft: "Fahrt zur ... Fahrt zur ... Hölle". Ein letztes Mal atmete Iwan Kowarno geräuschvoll ein und aus, dann fiel sein ganzer Körper erschlafft in sich zusammen.

Lukas Svensson kauerte bewegungsunfähig neben dem Sterbenden, sein Blick aber richtete sich gen Himmel, und seinem sich dabei weit öffnenden Mund entfuhr ein aus tiefster Seelennot herausgeschrienes "Neeiin!". Dieser Lump, der sich hier zu seinen Füßen mit einer Kugel in der Brust so feige aus dem Staub zu machen versuchte, war schließlich seine einzig verbliebene Spur zu Yelena gewesen - seine letzte Hoffnung, an die sich der Ex-Inspektor innerlich genauso fest klammerte, wie es seine Hände im Moment am Kragen des Hemdes des soeben dahingeschiedenen Russen taten. Nein, so durfte das Ganze nicht enden! Er mußte Kowarno zurückholen, damit der doch noch ausspuckte, was er über Yelenas Aufenthaltsort wußte. Svenssons Blick durchkämmte aufgeregt den ganzen Bunkerraum und blieb schließlich bei dem Notstromaggregat haften. Mit dem Mut der Verzweiflung sprang er auf und schleifte den leblosen Körpers Iwan Kowarnos weiterhin fest am Kragen gepackt mit sich zu dem Elektrokasten hin. Dort angekommen löste er zunächst seinen Griff vom Hemd des Russen und dann die Klemmen der beiden Kabelenden von der angebrachten Schwarzlichtlampe. Er nahm je eines der Kabel in seine beiden Hände, dann rief er aufgeregt Derrik Crawler zu sich und befahl ihm, den Spannungsregler am Aggregat auf das Maximum hochzudrehen. Derrik tat, wie ihm geheißen, und die Nadel der Anzeige sprang dabei vor seinen Augen von 220 auf 360 Volt. Zitternd führte der Ex-Inspektor für einen Moment die Klemmen der Kabel ganz nahe zusammen, wobei unter leisem Surren deutlich sichtbar ein greller Funke übersprang. Dann beugte sich Svensson wieder über den am Boden liegenden Verstorbenen und führte die Kabel mit ihren Klemmen an jeweils eine der freiliegenden Brustwarzen Kowarnos. Beim Zusammentreffen der Klemmen mit dem leblosen Körper bäumte sich dieser für eine Sekunde zuckend auf, allerdings nur, um gleich danach wieder in völliger Erstarrung im Staube des kühlen Bunkerbodens zu verharren. Svensson wartete einige Sekunden, wobei er hoffte und betete, daß das Leben nur für einen Augenblick noch einmal in den Körper des elenden Dreckskerls zurückkehrte - eben nur solange, bis Kowarno das preisgab, was er unbedingt wissen mußte. Aber nichts dergleichen geschah. Ein zweites und ein drittes Mal wiederholte Lukas die verzweifelte Reanimation Kowarnos, bis Derrik schließlich von hinten an ihn herantrat und ihn mit einem festen Griff am linken Arm von der weiteren Fortsetzung seines sinnlosen Unterfangens zurückhielt.

Es half alles nichts. Iwan Kowarno war und blieb tot. Und die Information über das Versteck Yelenas hatte er dabei wohl unwiderbringlich mit sich ins Grab genommen. Schulterzuckend schauten sich Tim und Derrik in die Augen. Lukas aber löste sich aus Derriks Griff, und sank stattdessen entmutigt und entkräftet zu Boden, während er mit tränendurchtränkter Stimme schluchzte: "Jetzt ist alles aus, und meine Yelena ist endgültig verloren. Oh, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?!" ...

EPISODE 14: ALLEIN IN DER DUNKELHEIT

Irgendwo an einem anderen Ort unterhalb der Erdoberfläche, inmitten eines dunklen Kellergewölbes, in das nur eine einzelne, auf dem Betonboden stehende Kerze ihr fahles, flackerndes Licht warf, durchbrach etwa zu gleicher Zeit ein flaches Atmen die bis dahin geradezu gespenstische Stille. Es war Yelena, die hier nur langsam zu sich kam. Der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken, als sie nach einigen Sekunden wie in Zeitlupe versuchte, ihren bleischwer erscheinenden Körper von seinem kühlen Grunde zu erheben. Doch es war weniger der steinerne Boden des schummrigen Gemäuers, in dem sie sich befand, als vielmehr ihr in den letzten Stunden und Tagen immer wieder mit kleinen Dosen des starken Beruhigungsmittels Airethin betäubter Leib, der da schwankte und nach zwei, drei Schritten erneut zu Boden ging. Mit zittriger Hand stützte sie sich im Zusammensinken an einer der feuchten, geteerten Kellerwände ab, die im Zusammenspiel mit der stark verbrauchten Luft im Raum einen modrigen Geruch erzeugten. Das klare Denken fiel Yelena in diesem Moment ähnlich schwer wie das Atmen. Und dennoch kreisten in ihrem Kopf von der Sekunde ihres Erwachens an immer wieder zwei einzelne Gedanken: "Lebendig begraben" und "Lukas, Hilfe!". Letzterer Gedanke gepaart mit ihrem unerschütterlichen Glauben hatte sie in den qualvollen Stunden ihrer Entführung immer wieder am Leben gehalten. Sie hoffte und harrte auf ihren Lukas - ihren Mann, dessen starke Arme sie aus der Umklammerung des Bösen herausreißen und sie an der Schwelle des Todes mit sich zurück ins Leben ziehen würden.

Langsam ließ in ihrem Körper die Wirkung des Betäubungsmittels nach, welches ihr nach dem plötzlichen Ableben von Kowarnows neuer Lebensgefährtin - der Krankenschwester Katja - regelmäßig in vermutlich viel zu hoher, unsachgemäßer Dosierung von dem ekelhaften, schmierigen Rohling Boris gespritzt worden war. Yelena erhob ihren gedankenversunkenen Blick und schaute sich im Kellerinnern vorsichtig um. In jeder der vier Himmelsrichtungen begrenzte eine fensterlose, pechschwarze Wand den nahezu kahlen Raum. Nur an der ihr gegenüberliegenden Wand war ein Metallregal mit drei Holzbrettablagen angebracht, auf denen sich allerlei Krimskrams befand, unter anderem auch mehrere leere Wasserflaschen. Daneben war in die Wand eine rostige Stahltür eingelassen. Yelena erinnerte sich, daß Boris vorhin - nachdem er ihren Leib auf dem Kellerboden abgelegt und ihr nochmals eine kleine Dosis Airethin in ihren zuvor entblößten Hintern gespritzt hatte - eben jene Tür öffnete, hinter der eine lange Steintreppe nach oben ans Tageslicht zu führen schien. Im Gehen warf er dabei noch einmal einen Blick zurück und meinte ekelhaft grinsend: "Ach übrigens, süßes Fahrgestellchen für Dein Alter hast Du da. Ich besorg uns jetzt rasch ein kleines Abendmahl und dann mach ich in Abwesenheit von Deinem Ex bei Dir erstmal eine ausgiebige Probefahrt, mein zartes Täubchen!". Damit war er verschwunden und hatte die Stahltür von außen wieder fest und hermetisch verriegelt.

Ein kalter Schauer lief der auf dem Boden hockenden Yelena über den leicht gekrümmten Rücken, als sie an die Worte und Blicke dieses Widerlings dachte. Und dennoch sehnte sie sich irgendwie nach seiner Rückkehr, jetzt da ihre Mundhöhle aufgrund mangelnder Flüssigkeitszufuhr immer trockener wurde und ihr Atem als eine Nebenwirkung der offensichtlichen Airethin-Überdosierung immer öfter ins Stocken zu geraten drohte. Und als sei all dies nicht schon schrecklich genug für die leidgeprüfte Frau, erlosch just in diesem Moment auch noch das Licht der heruntergebrannten Kerze ...

EPISODE 15: NUR SCHACH ODER DOCH SCHON MATT?

Im Dunkel ihres - nach dem Erlöschen der Kerze - nun gänzlich düsteren und kalten Kellerverlieses erinnerte sich Yelena, in einem Anflug von klarem Bewußtsein, bruchstückhaft an alles, was zuletzt geschah ...

Kowarno hatte ihr bei ihrem Zwischenstop im Bunker nahe Moskau erläutert, worum es bei seinem verbrecherischen Unternehmen wirklich ging und auf die Spur welches lang verschollenen Schatzes er durch den Tip eines alten Bekannten aus Zeiten des Kalten Krieges gestoßen war. Yelena brauchte er als Sachverständige, da sie während ihrer Ehe in einer Sonderabteilung des KGB bereits jahrelang gemeinsam nach jenem legendären Kunstobjekt gesucht hatten. Die Vertrautheit und die Anzüglichkeiten Kowarnos gegenüber Yelena führten dabei dazu, daß sich ihr Ex wieder und wieder mit der immer eifersüchtiger werdenden Katja in die Haare bekommen hatte. Irgendwann war er schließlich durchgedreht und hatte sie mit einem gezielten Schuß in den Hinterkopf kaltblütig hingerichtet. Yelena aber hatte er unter vorgehaltener - aus der Mündung des Laufes noch qualmender - Pistole gezwungen, einen verzweifelten Hilferuf an Lukas auf Band zu sprechen. Dann war sie von Boris per Injektion erneut betäubt worden, und man hatte sie in den Frachtraum eines olivgrünen Kleintransporters der Marke Barkas geworfen. Das Letzte, was sie dort wahrgenommen hatte, bevor das Airethin sie schlafen schickte, war die Verabschiedung Kowarnos von seinem Kumpan Boris. Iwan meinte, Boris solle Yelena schon mal an den Bestimmungsort fahren, auf den das merkwürdige Gekritzel hindeutete, welches Yelena zuvor bei ihren Nachforschungen im Bunker entdeckt hatte. Er selber müßte hier noch drei kleine Störenfriede erledigen. Und auf Boris verdutzte Nachfrage dazu hatte Kowarno nur noch gemeint, daß er sich dabei auf einen Tip aus dem Telefonat stütze, welches er kurz nach der Landung des entführten Flugzeugs nahe Moskau erhalten habe. Wie lange Boris daraufhin ihren schlafenden Körper im Innern des Barkas durch die Landschaft geschaukelt hatte un wo ihre Reise dabei genau endete, konnte Yelena nur vermuten. Mehrfach hatte er unterwegs ihre schwindende Betäubtheit an verschiedenen Rastplätzen wieder aufgefrischt, was sie spontan auf eine Fahrdauer von zwischen 12 und 24 Stunden schließen ließ und damit auf eine Strecke von vermutlich mehr als 1000 Kilometern. Auf alle Fälle aber waren sie am Ende der Reise hier in diesem modrigen Keller gelandet ...

Yelenas Atmung wurde mit einem Male schwerer, die Erinnerungen verblaßten, ihr Bewußtsein schwand - und vor ihren Augen wurde es schwarz. Mit letzter Kraft aber hauchte ihre dünn gewordene Stimme noch einmal ein leises: "Lukas, Hilfe! Bitte Du mich retten!".

Der aus der Tiefe ihrer Seele Angeflehte aber stand im selben Moment regungslos in jenem gottverlassenen ehemaligen Militärbunker, in dem er die Spur seiner Angebeteten für immer verloren zu haben glaubte. Durch seinen Kopf spukten dabei die wirren Bilder einer unglücklich zuende gegangenen Schachpartie. In ihr sah er sich am Beginn selbst als weißer König, in Begleitung seiner zwei ebenso strahlendweißen Bauern Timmy und Derrik, die sich munter Zug um Zug und Schritt für Schritt auf die Suche nach seiner aus den Augen verlorenen weißen Dame Yelena machten. Dabei hatte er zu seinem Entsetzen erkennen müssen, daß sie wohl von seinem Widersacher, dem schwarzen König namens Iwan Kowarno, entführt worden zu sein schien und daß sie in einer früher abgebrochenen Partie aus ungeklärten Gründen als dessen schwarze Königin fungiert hatte. Einige Schachzüge lang hatte es schließlich gedauert, bis er sie am Rande des riesig erscheinenden Schachbretts gefunden zu haben glaubte, wo sie im Dunkeln geopfert lag. Erst als König Lukas mit seinen beiden Begleitern die niedergestreckte Figur genauer besah, erkannten sie, daß sie dem schwarzen König in die Falle gegangen waren - ein Schach und ein nahezu bombensicheres Matt, dem sie nur mit Mühe und Not und durch einen geradezu großmeisterlichen Zug von Bauer Derrik zu entgehen vermochten. Im Gegenzug hatten König Lukas und seine Mannen nun den Schwarzen König Iwan in die Enge getrieben und ihm Schach geboten. Ein Schach, aus dem durch einen überhitzten Zug von Bauer Derrik ein Matt wurde, welches König Iwan zu Füßen Svenssons unwiderruflich auf die Bretter schickte. Die Partie schien zuende, der weiße König hatte über den schwarzen gesiegt. Und dennoch war ihm keineswegs zum Feiern - sondern vielmehr zum Heulen - zumute, denn die weiße Dame blieb nun in seinen Augen bis in alle Ewigkeit verschollen.

In diesem Augenblick der Verzweiflung tauchte plötzlich wie aus heiterem Himmel ein heller Schein auf, der das Schachbrett und seine Figuren mit einem Male in einem völlig neuen Licht erscheinen ließ. Der mattgesetzte pechschwarze König zu Svenssons Füßen verkümmerte plötzlich zu einem schwarzen Bauern. Und im unenedlich weit entfernten rechten oberen Eck des erdfarbenen Schachbretts tauchte - luftdicht in einen seidenen Cocoon eingesponnen - die sich windende Gestalt der verschollen geglaubten weißen Dame auf. Ein dünner seidener Faden, an dem gleichsam auch ihr Schicksal zu hängen schien - zog sich waagerecht über die Felder des Brettes hinweg in das immer noch im Dunkeln liegende linke obere Eckfeld, wo sich nun der Schatten des wirklichen schwarzen Königs abzeichnete. Von welcher der vielen Figuren auf dem Schachbrett jener düstere Schatten ursprünglich herrührte, war nicht auszumachen. Umso deutlicher zu erkennen war dafür, daß der schwarze Königsschatten von seiner Position aus - kreuz und quer über das gesamte Brett verteilt - alle Fäden fest in der Hand hielt. Klebrige, dünne Fäden, die zu einem dichten Netz wurden, in welchem sich auch der weiße König und seine Bauern letztlich zu verfangen drohten. Das dunkle Feld aber, über welchem das pechschwarz gekrönte Haupt in diesem Moment zu schweben begann, zeigte ein mit blauer Farbe aufgepinseltes schmerzverzerrtes Gesicht eines Menschen mit weit aufgerissenem Mund. Ein im selben Moment von oben her einfallendes dunkles Licht brachte unter der blauen Fratze mit einem Male einen bis dato nicht erkennbaren Schriftzug zum Vorschein: KGB, wobei das G und das B nur eine Sekunde später schlagartig die Plätze tauschten und aus der mysteriösen Buchstabenkombination damit ein KBG wurde. Das schreiende Gesicht selbst aber verwandelte sich dabei in das mosaikhaft zusammengesetzte, bernsteinfarbene Bildnis eines eingekreisten Vogels mit einem gekrönten R auf der Brust. Die weiße Dame im oberen rechten Eck entpuppte sich zur gleichen Zeit vor Lukas Augen aus ihrem Cocoon heraus als seine Yelena, die ihre bunten Schmetterlingsflügel ausbreitete und ihm freudig entgegenflatterte. Der seidene Faden mitsamt dem abgestreiften Cocoon schnellte dabei über den breiten Schachfeldhorizont hinweg auf den Schattenkönig zu und nahm ihn - der inzwischen zur wurmartigen Gestalt einer Raupe mutiert war - nun selbst gefangen.

Ein lauwarmer Windzug holte Lukas aus seiner Vision in die Realität des ihn umgebenden Bunkers zurück. Es handelte sich um eine leichte Brise, die von außen an der Wellblechtür des Bunkers vorbei in das Gemäuer geschlüpft und durch die langen Flure und Räumlichkeiten kriechend - dem Flackerlicht der Petroleumlampe folgend - letztlich an Svenssons Ohr vorgedrungen war, dem sie dabei in der sanften Art Yelenas leises "Lukas, Hilfe! Bitte Du mich retten!" einzuhauchen schien. Dann drehte der warme Windhauch im kühlen Gemäuer noch eine kleine Schleife und verabschiedete sich - unmittelbar über den staubigen Betonboden schwebend - wieder in die Dunkelheit der Nacht. Vom dabei entstehenden Luftsog aber wurde nun auch jenes unscheinbare, zusammengeknüllte Papierchen ergriffen, welches Lukas Svensson kurz vor dem eigentümlichen Verhör Kowarnos aus der Manteltasche gefallen war. Es wehte einmal quer durch den Raum und landete schließlich direkt vor den Füßen Tim Hackermans, welcher es augenblicklich aufhob und glattstrich, um es sich im fahlen Lichtschein einmal genauer zu besehen. Dabei verfinsterte sich zusehends seine Miene, und mit geballter Faust begann er lauthals zu fluchen: "So ein abartiger Dreckskerl! Spielt hier den Photoshopkünstler und bastelt sich seine geistesgestörte Vision vom Grabstein Yelenas zusammen. Sogar ein in der Zukunft liegendes Sterbedatum hat er ihr in seinem degenerierten Hirn schon zugedacht". Lukas Svensson schaute entgeistert zu seinem entrüsteten Schützling hinüber. Er rannte auf ihn zu, entriß ihm die Fotografie und starrte sie sekundenlang an. Vor seinem Geiste aber erschienen dabei unzählige Bilder. Es waren merkwürdig vertraute Bilder - ähnlich dem, was man weitläufig als Dejavu bezeichnete:

Der Ex-Inspektor sah sich selbst, wie er in Begleitung seiner Eltern in einem stockdunklen Gewölbe mit einer verschlossenen Stahltür den Raum abschritt und dabei stürzte - über etwas, daß sich beim genaueren Abtasten als verweste Frauenleiche herausstellte. Zwei Jungen betraten von draußen den Raum und brachten dabei ein wenig Licht ins Dunkel. Einer der Jungen stolperte ebenfalls über die Tote und drehte schließlich furchtlos ihr dem Boden zugewandtes Antlitz zur Seite. Lukas sah in die erstarrten, toten Augen und das verblaßte Gesicht und erkannte darin seine Yelena. Tränen schossen ihm in den Augen. Verzweifelt versuchte seine Mutter, ihn zu trösten. Und sein Vater reichte ihm jenes - nach seinen Worten erst am Silvesterabend 2009 entstehende - Foto als "Bote einer möglichen Zukunft". Er hörte die Stimmen seiner Eltern, die von beiden Seiten nahezu prophetisch auf ihn einredeten: "Du aber, mein Sohn, hast es nun in Deiner starken Hand, sie vor ihrem schrecklichen Schicksal zu bewahren! Setze all Deine Kraft daran, sie zu suchen und zu finden! Und setze Dein Leben für das ihre ein! Dann, und nur dann, werden diese schrecklichen Bilder hier niemals Wirklichkeit werden!". Und dabei sah Lukas wieder sich selbst, wie er jenes unheilverheißende Fotodokument in seiner rechten Faust zerknüllte und unbetrachtet in der Manteltasche versenkte ...

Aber war denn die ganze seltsame Weihnachtsgeschichte mit der Zeitreise und den Geistern seiner verstorbenen Eltern nicht einfach nur ein Traum gewesen?! Sollte er all das etwa tatsächlich erlebt haben?! Das Foto in seiner Hand schien diese Theorie zumindest zu untermauern. Andererseits konnte es damals aber auch einfach nur eine Art merkwürdige Vision gewesen sein, wie sie Lukas vor wenigen Momenten ja auch ereilt hatte. Wie dem auch sei: Das mysteriöse Foto begegnete ihm hier auf alle Fälle bereits zum zweiten Male. Und in der momentanen Ausweglosigkeit seiner Situation war es für ihn der sprichwörtliche Strohhalm, an den sich seine gerade erst wiedererwachende Hoffnung nun umso fester klammerte. Ja, hier und jetzt war er bereit, einen Blick auf die gruslige Ablichtung des Grabes seiner zukünftigen Braut zu werfen. Mit zittriger Hand hielt er die Abbildung, während seine wild blitzenden Augen auf der verzweifelten Suche nach einem neuen Anhaltspunkt für Yelenas Aufenthalt hastig die schwarz eingearbeiteten kyrillischen Lettern auf dem blankpolierten Granitstein überflogen: "Yelena Zladkaja. Geboren in Minsk am 31.Mai 1956. Gestorben am 23.Dezember 2009 in ... Kaliningrad". Lukas traute seinen Augen nicht. Wieder und wieder las er das letzte Wort: KALININGRAD.

Kaliningrad?! Aber das war doch der heutige russische Name für seine alte ostpreußische Geburtsstadt Königsberg. Jene wundervolle Provinzmetropole, aus welcher seine Eltern mit ihm als Baby am Neujahrstag 1945 vor dem herannahenden Kriegsgeschehen geflohen waren und von der ihm seine Mutter und sein Vater später so viel vorgeschwärmt und erzählt hatten. Besonders erinnerte er sich dabei an die leuchtenden Augen seines Vaters, wenn der auf das dort seinerzeit in den Räumlichkeiten des Königsberger Schloßes ausgestellte und seit Kriegsende nicht mehr auffindbare Bernsteinzimmer zu sprechen kam. Stundenlang hatte er ihm als Kind in einem alten Bildband Fotos davon gezeigt, von all den prunkvollen Verzierungen und eingearbeiteten Gemälden. Den Einband jenes kunstvollen Bilderbuchs aber schmückte die bekannte Nachbildung des Russischen Kaiseradlers als Bernsteinmosaik... Svensson schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Natürlich! Daß ihm das nicht gleich eingefallen war. Das war jenes hinter der blauen Fratze aus seiner Schachvision zum Vorschein gekommene bernsteinfarbene Vogelmosaik gewesen. Und in diesem Moment fiel es Lukas Svensson wie Schuppen von den Augen. Aufgeregt bat er den immer noch verdutzt neben ihm stehenden Timmy um die mitgeführte mysteriöse Abschiedsnachricht seiner Yelena, die sie bei ihrem Verschwinden neben dem CD-Spieler in ihrer gemeinsamen Wohnung hinterlassen hatte. Fieberhaft überflogen seine Augen die Zeilen auf der Suche nach dem letzten, bislang unentschlüsselten Satz der handgeschriebenen Kurznachricht. Schon einen Augenblick später wurde er fündig: "Du geben ein Raum für Familie von Dirigent!". Oh, geliebte Yelena, was bist Du doch für ein schlaues Mädchen! Ganz klar: Leonard BERNSTEIN war der Dirigent. Und ihm einen RAUM zu geben, bedeutete nichts anderes als einen gut versteckten Hinweis auf das BERNSTEIN-ZIMMER! Das war jenes "Größere" hinter dem gestohlenen Gemälde "Der blaue Schrei", von dem Iwan Kowarno vorhin gesprochen hatte.

In Lukas' Schädel begannen die Gedanken wild zu kreisen, und seine Schachbrettvision entschlüsselte sich dabei fast wie von selbst: Kowarnos Verwandlung zum Schwarzen Bauern deutete somit, daß er nur ein Handlanger war. Handlanger des Schwarzen Schattenkönigs, jenes vermutlich aus den eigenen Reihen des Yard stammenden Verräters und heimlichen Topterroristen, der aus sicherer Entfernung bislang unentlarvt die Fäden fest in der Hand hielt. Das sich in KBG verwandelnde KGB zu seinen Füßen deutete sowohl auf die Verstrickung des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstes als auch ein weiteres Mal auf Svenssons Geburtsort Königsberg - früher auch gern abgekürzt als Kbg - hin. Die blaue Fratze auf dem Feld des Schwarzen Schattenmanns aber war das gestohlene, falsche Munchgemälde, welches zweifellos hier im Bunker unter dem dreckigen Tuch im Goldrahmen an der Munitionskiste lehnte. Lukas erinnerte sich dabei auch an das dunkelschwarze Licht, das in seiner Vision das Gemälde durchleuchtete und dabei den versteckten Schriftzug offenlegte. Und wieder machte es Klick in seinem Gehirn: Dazu hatte Kowarno die Schwarzlichtlampe an das Notstromaggregat montiert! Hinter dem Gemälde versteckte sich ein weiteres Geheimnis - eines, das es offensichtlich wert gewesen war, dafür eine ganze Linienmaschine samt Besatzung und Passagieren zu kidnappen. Vor den staunenden Augen seiner beiden Begleiter schloß er die Schwarzlichtlampe wieder an die freigelegten Kabelklemmen an und startete dann das - zuvor auf 220 Volt heruntergeregelte - Notstromgerät. Er befreite die Rückseite des gerahmten Gemäldes von seinem verschmutzten Überhang und entdeckte im selben Moment zwei danebenstehende Plastiksprühflaschen, von denen die eine mit "Luminol in Natronlauge" und die zweite mit "Wasserstoffperoxid-Lösung" beschriftet war. Diese eigentümliche Kombination aber kannte er von seiner kriminaltechnischen Ausbildung beim Yard her nur zu gut, diente sie bei der Spurensuche doch seit langem als sicherer Nachweis für jegliche Art von Blutspuren. Dem Ex-Inspektor kam eine Idee. Er sprühte mit beiden Flüssigkeiten das Gemälde auf der offensichtlich mit weißer Farbe überpinselten Rückseite komplett ein und leuchtete es dann Zentimeter um Zentimeter sorgsam aus. Wie er bereits vermutet hatte, kam dabei im linken oberen Eck in dem mystischen Licht der Lampe deutlich zu erkennen bläulich schimmernd eine handgeschriebene Notiz zum Vorschein, welche aus zwei einzelnen Worten bestand: "Stutenfriedel" und "Königsberg". Königsberg - Kbg - Kaliningrad! Alle gefundenen Hinweise deuteten auf diese eine Stadt. Das konnte kein Zufall sein! Nein, Lukas war sich so sicher wie nie zuvor in seinem inzwischen recht betagten Leben: In Kaliningrad würde er seine Yelena finden. Und seine innere Stimme sagte ihm gleichzeitig, daß er der Einzige seine würde, der sie dort noch aufspüren und retten konnte, bevor es zu spät war.

In aller Eile teilte Svensson seinen Jungs nun seine neusten Erkenntnisse und Gedankengänge mit. Tim und Derrik lauschten gespannt und verblüfft den Ausführungen des Ex-Inspektors, die dieser mit dem Satz schloß: "Leider ist Kaliningrad eine über 1000 Kilometer weit entfernte und mit derzeit etwa 421000 Einwohnern auch nicht gerade kleine russische Stadt. Da wir vermutlich bei unserer Ankunft dort für die Suche nach Yelena aber nicht unbegrenzt viel Zeit haben dürften, wäre es schon wünschenswert, wenn wir noch einen genaueren Hinweis auf das vermeintliche Zielobjekt hätten". Derrik, der nach Abgabe des tödlichen Schusses auf Kowarno bis zu diesem Moment noch immer ein wenig unter Schock gestanden zu haben schien, stürmte mit einem Male auf die seitlich von ihm stehende Munitionskiste zu und begann aufgeregt, die sich auf ihr stapelnden Papiere Stück für Stück zu durchsuchen. Dabei murmelte er immer wieder mit verzweifelter Stimme: "Da muß doch irgendetwas zu finden sein!". Jedes einzelne Dokument warf er nach nur kurzer In-Augenschein-Nahme achtlos zu Boden, bis er bei einem größeren, ausklappbaren Skizzenblatt innehielt und schließlich befreit ausrief: "Ein Hinweis, ein Hinweis!". Damit überreichte er Lukas überglücklich sein Fundstück. Svensson betrachte es aufmerksam. Es schien sich dabei um den Grundriß eines Gebäudes zu handeln. Im rechten oberen Eck trug die angestaubte Skizze unter dem Symbol von Hammer und Sichel einen Vermerk in kyrillischen Druckbuchstaben, welchen Lukas sogleich wörtlich übertrug: "Kaliningrad. Dom Sowjetow". Darunter aber stand handgeschrieben in lateinischen Buchstaben: "LSR 14-21". Zufrieden nickend faltete Svensson die Skizze wieder zusammen. Er holte mit gezieltem Griff sein kleines, dickes Notizbuch aus der linken Manteltasche hervor und notierte dort mit einem ebenfalls aus der Brusttasche des Mantels hervorgekramten Kugelschreiber alle Hinweise. Dann lief er zügigen Schrittes kreuz und quer durch den Raum, wobei er sich das gefälschte Gemälde kurzerhand unter den Arm klemmte, sein Diktiergerät vom Campingtisch aufsammelte und es samt seinem Notizbuch, der Grundrißsskizze sowie dem zerknüllten Grabfoto und der Abschiedsnachricht Yelenas in den beiden tiefen, ausgebeulten Taschen seines Regenmantels verstaute.

Schließlich packte er seine beiden Reisebegleiter bei den Armen und zerrte sie ohne ein weiteres Wort mit sich aus dem Bunker heraus ins Freie. Hier knipste auf sein Geheiß Derrik die vorm Betreten des Bunkers in seiner Hosentasche verstaute Taschenfunzel wieder an und erleuchtete damit die nächtliche Einöde. Der Ex-Insektor und seine Jungs sprinteten durch das nahegelegene dichte Wäldchen hindurch zurück zu der Stelle des Absperrzauns, hinter der der abgestellte Trabbi auf die Drei wartete. Mit einem einzigen Satz erklomm Lukas vor den Augen seiner Begleiter voller Elan die Zaunkrone und sprang auf der anderen Seite wieder herab. Timmy und Derrik folgten seinem Beispiel. Und als alle Drei wieder im Trabant Platz genommen hatten, dirigierte Lukas, aufgeregt mit den Armen um sich fuchtelnd: "Los, Jungs! Auf schnellstem Wege nach Kaliningrad! Derrik, zeig mal, was man aus einem älteren Modell wie unserer antiken Rennpappe hier noch alles so rauszuholen vermag!" ...

Etwa zur gleichen nächtlichen Stunde raste ein olivgrüner Barkas mit quietschenden Reifen über eine jener staubigen Fernstraßen unweit Kaliningrads, dicht gefolgt von einem Einsatzfahrzeug der örtlichen Miliz. Der stoppelbärtige Mann, der am Steuer des Kleintransporters saß, war niemand anderes als Kowarnows rechte Hand Boris. Sein nervöser Blick wechselte ständig zwischen dem Rückspiegel und der spärlich beleuchteten Straße hin und her, wobei er - deutlich zu erkennen - Blut und Wasser schwitzte. Ununterbrochen fluchte er in seinem Führerhaus wild vor sich her. Verdammter Mist, wieso mußte ausgerechnet ihm das passieren?! Es hatte doch alles so gut geklappt: Er hatte das heiße Ex-Täubchen seines Chefs im Bunker noch einmal mittels Betäubungsinjektion sanft schlafengelegt und dann nach dem Verschließen des Kellergewölbes die Stadt hinter sich gelassen, um Lebensmittel und Wasser für sich und Yelena zu besorgen. An einer Tankstelle etwas außerhalb war er dann mit laufendem Motor stehengeblieben und in die zugehörige kleine Verkaufsstelle eingekehrt. Der Laden war mit einer Vielzahl von Regalen und Waren derart verbaut gewesen, daß ihn der Mann an der Kasse an vielen Stellen unmöglich einzusehen vermochte. Überwacherungskameras gab es keine, das hatte Boris' prüfender Blick beim Betreten des Ladens in Sekundenschnelle registriert. Und so hatte er sich - leise vor sich her pfeifend - zwischen die Regale begeben und nach und nach hier und da ein paar Lebensmittel sowie die eine oder andere Wasserflasche vor der Brust möglichst unauffällig unter seiner tarnfarbenen Armeewattejacke verstaut. Vermutlich wäre er am Ende seiner kleinen nächtlichen Waren-Beschaffung-Maßnahme sogar völlig unbemerkt entkommen, wenn ihn nicht in letzter Sekunde beim Verlassen des Ladens ein Anflug von Romantik ereilt hätte. Die Vorfreude auf eine mögliche scharfe Liebesnacht mit Kowarnos stark benebelter und darum sicher umso leichter gefügig zu machender Ex-Braut hatte ihn dazu verleitet, sich am Ausgang noch rasch eine Flasche Krimsekt zu krallen, was den aufmerksamen Augen des Ladenbesitzers leider nicht entgangen war. Der junge Mann an der Kasse war kreischend hinter seinem Tresen hervorgeschnellt und hatte den sportlich etwas unbedarften Boris bereits unmittelbar vor der Ladentür am Ärmel zu packen bekommen. Der stoppelbärtige Kowarnokumpan hatte instinktiv die Hand mit der Sektflasche gegen den Ladenpächter erhoben und ihm damit dann mit voller Wucht den Schädel zertrümmert. Ohne die geringste Spur von Reue war er anschließend mitsamt seinem Diebesgut in den abfahrbereiten Barkas gesprungen. Die als Mordwerkzeug mißbrauchte, blutverschmierte Flasche aber hatte er am Ärmel seiner Wattejacke notdürftig abgewischt und dann kuzerhand neben sich auf den Beifahrersitz gelegt. Zu dumm nur, daß just in diesem Augenblick eine Polizeistreife zum Tanken an einer der Zapfsäulen vorgefahren war. Die beiden Beamten hatten die Situation natürlich sofort erkannt und die Verfolgung des flüchtigen Kriminellen aufgenommen.

So jagten beide Fahrzeuge nun schon geraume Zeit - eng aneinander klebend - über die holprigen Straßen. Kurz vor einer scharfen Rechtskurve rollte dann die achtlos hingeworfene Krimsektflasche vom Beifahrersitz herunter und fiel Boris auf den rechten Fuß. Der damit verbundene Schmerz kam für den bärtigen Russen so überraschend, daß er für eine Sekunde den Blick auf die Straße vernachlässigte. Er verlor die Kontrolle über den Kleintransporter und prallte inmitten der Kurve in voller Fahrt ungebremst gegen den festen Stamm einer hundertjährigen Eiche. Die ungeheure Wucht des Aufpralls aber ließ den unangeschnallten Boris mit dem kahlgeschorenen Schädel voran über den Lenker des Barkas hinweg durch die gläserne Windschutzscheibe krachen. Mit dem brutalen Russen aber starb im Blaulicht der eintreffenden Miliz zu jener düsteren Stunde auch der einzige Mensch, der - neben dem noch tausend Kilometer weit entfernten Svenssonteam - um das Schicksal der in ihrem stickigen Kellerverließ immer schwächer werdenden Yelena wußte ...

EPISODE 16: SELTSAME LICHTGESTALTEN

"Gestatten, Powerich mein Name! Inspektor John Wayne Powerich! Aber alle meine Freunde nennen mich den Marshall. Ich bin hier der Neue!". Mit diesen Worten baute sich im Outfit eines Westernhelden - kaugummikauend und lässig im Türrahmen von Freakadellys Büro lehnend - ein schwergewichtiger Mann mit Halbglatze vor den Augen des etwas verdutzten Chiefsuperintendents auf. Hinter seinen breiten Schultern aber schnaufte aufgebracht und völlig außer Puste etwas, was Harold Freakadelly der Stimme nach als seine Chefsekretärin Claudia identifizierte: "Tut ... Tut mir ... leid, Sir! ... Aber der ... der Gentleman war ... einfach etwas ... schneller als ich!". Ein schelmisches Grinsen zog in das Gesicht des Cowboys - und seinen Blick ein wenig nach hinten gerichtet, raunte er: "Tja, tägliches Training macht eine Menge aus, Mam. So ein umfangreicher Luxuskörper wie der meine will eben auch ausreichend bewegt sein. Und da ist sportliche Betätigung in jeder Form gerade das Richtige! Sie verstehen, was ich meine!". Das rechte Auge des Marshalls zwinkerte und sein Schulterblick wanderte dabei an Claudias wohlgeformtem Body herab zu den Füßen und von dort langsam wieder nach oben bis zu ihren wundervollen, ozeanblauen Augen, in die er schließlich derart langanhaltend und genüßlich versank, daß es der jungen Chefsekretärin langsam eine leichte Röte ins Gesicht trieb. Sie löste sich aus dem eindringlichen Blickkontakt mit dem von sich und seiner Wirkung auf das weibliche Geschlecht scheinbar ungeheuer überzeugten Fremdling. Zwei Herzen kämpften dabei in ihrer wohlgeformten Brust: Zum einen war sie ein wenig erbost über die versteckten und ungezogenen Anzüglichkeiten jenes Herrn, zum anderen aber schmeichelten ihr seine Worte und vor allem die damit verbundenen Blicke seiner großen, tiefblauen Knopfaugen. Und so wanderte ihr verstohlener Blick auch noch einige Male möglichst unauffällig zu dem aufdringlichen Besucher, während sie auf ihren hochhackigen Pumps - um Würde und Haltung bemüht - zu ihrem Schreibtisch zurück stolzierte. Auch Powerich hatte seinerseits Claudias - einem Topmodel auf dem Laufsteg in nichts nachstehenden - Abgang aus dem Augenwinkel heraus genaustens begutachtet, wobei seine Augen aus Ermangelung der Möglichkeit eines Blickkontakts nun auf ihrer - vom schwarzen Minirock engumhüllten - Poebene ruhten. Dabei stieß er innerlich einen anerkennenden Pfiff aus. Die junge Lady schien vom Scheitel bis zur Sohle alles zu haben, was einem Präriehelden des 21.Jahrhunderts wie ihm gefiel. Bei ihr stimmte nicht nur die äußerst reizvolle Verpackung - sie lächelte zu allem auch noch verdammt charmant und man konnte sich mit ihr sogar auf hohem Niveau gepflegt unterhalten. Vielleicht hatte sie ja in ihrem privaten Terminkalender noch ein kleines Plätzchen frei für ein lauschiges Dinner bei Kerzenschein mit einem Cowboy in den besten Jahren. Jawohl, in den besten Jahren - denn John W. Powerich war zu Beginn des Jahres eben erst 38 Jahre alt geworden, auch wenn Halbglatze und Schnurrbart ihn womöglich ähnlich alt aussehen ließen wie ... Chiefsuperintendent Harold Freakadelly. Oh je, sein neuer Chef! Den hatte er bei seiner Verzückung über dessen bezaubernde Stenotopistin ja beinah vergessen. Und so lenkte er nun den Schritt seiner Cowboyboots und seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf den hinter seinem Schreibtisch vorm Laptop hockenden Yardchef und schüttelte ihm ausgiebig und mit festem Druck die Hand: "Freut mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen, Sir! Einmal - Sie werden sich gewiß nicht mehr daran erinnern - sind wir uns hier im Foyer schon über den Weg gelaufen, vor zirka anderthalb Monaten. Ich hatte in ihrem Kellerarchiv zu tun, wo ich als Aushilfe unter der Obhut einer Misses O'Brien Berge von Akten für die spätere Nutzung auf dem Server der zukünftigen Antiterroreinheit CI7 digitalisierte". Sein Blick wanderte dabei ungewollt auf einen Ordner auf dem Schreibtisch Freakadellys, auf dessen Deckel schwarz auf grau ein ihm vertrauter Name zu lesen war: "Iwan Kowarno". Powerich deutete sogleich mit dem Zeigefinger auf die bewußte Akte: "Was ein Zufall! Die da ist eine von denen, die ich übertragen habe. Wissen Sie, ich hab nämlich ein nahezu fotografisches Gedächtnis. Und dank meiner recht guten Russischkenntnisse hat man mir vor allem die Akten osteuropäischer Personen zum Abtippen zugeschanzt".

Harold Freakadelly war für einen Augenblick sichtlich erstaunt. Dann aber sprach er mit fester, leicht vorwurfsvoller Stimme: "So, dann verdanken wir Ihnen also jene zwei gravierenden Übertragungsfehler, die in den letzten Stunden unter anderem zu einer Flugzeugentführung und zum Diebstahl eines Meisterwerks führten". Mit diesen Worten öffnete er die Kowarnoakte vor sich und schob Powerich ein Blatt zu, in dem dieser mit geübtem Blick sofort die in kyrillischer Schrift abgefaßte Kopie einer sowjetischen Heiratsurkunde erkannte. Der linke Zeigefinger des Yardchefs ruhte auf der Eintragung des Namens der Braut, während er sein Gegenüber in recht harrschem Ton befragte: "Wie würden Sie diesen Namen denn bitte ins Englische übertragen? Buchstabieren Sie doch einmal!". Der Marshall war sichtlich überrumpelt, dennoch kam seine Antwort wie aus der Pistole geschossen: "Y-E-L-E-N-A Z-L-A-D-K-A-J-A, Sir!". Freakadelly kratzte sich sichtlich beeindruckt mit der rechten Hand über die kahle Stirn: "Das versteh ich nicht! Warum haben Sie dann damals denselben Namen ähnlich einem blutigen Anfänger so übertragen?". Damit präsentierte er Powerich jenen Computerausdruck vom CI7 Akteneintrag Kowarnos mit der Anmerkung: "Hochzeit mit Jelena Zlatkaja am 10.07.1974". Powerich las und schüttelte den Kopf: "Also das ist ganz sicher nicht der von mir gemachte Originaleintrag, Sir. Und ich glaube, das kann ich Ihnen auch recht einfach beweisen. Ich darf doch mal!". Damit drehte er Freakadellys Laptop zu sich herum und begann eifrig in die Tasten zu hämmern, wobei er sich als Zeichen größter Konzentration immer wieder mit den Zähnen auf die zwischen ihnen eingeklemmte Zungenspitze biß. Freakadelly winkte unterdess nur müde ab: "Geben Sie sich keine Mühe, Herr Inspektor! Die Akte Kowarno ist paßwortgesichert. Da kommen weder Sie noch ich ran, sondern nur der CI7 Chef persönlich!". Powerich aber tippte unbeeindruckt weiter und erwiderte ganz nebenbei: "An die Akte müssen wir auch gar nicht. Es reicht, wenn wir einen Blick ins detaillierte Änderungs-Protokoll des zugehöriges Eintrags werfen. Und dafür reicht nämlich auch mein alter, noch nicht deaktivierter Gastzugang ... Benutzername: P-O-W-E-R-I-C-H, Kennwort: H-I-G-H-N-O-O-N ... Ordner Update-Protokolle ... File Kowarno Iwan .... Und bittesehr!". Der Inspektor drehte den Laptop wieder in Richtung Freakadellys zurück, wo dieser zu seinem Entsetzen las: "08.08.2009 - 01:24 GMT - Änderung der Biographie-Einträge 'Hochzeit mit ...' und 'Scheidung von ...' durch CHARLES WANNABE".

Harold Freakadelly kochte innerlich. Diese neue Erkenntnis über die ganz und gar nicht unbewußte Verfälschung der Kowarnoakte bedurfte einer umgehenden Klärung mit seinem Noch-Schwiegersohn. Wenn Wannabe ihm keine einleuchtende Erklärung liefern würde, wie sein Name in das Änderungsprotokoll gelangen konnte, dann würde er ihn ohne Zögern bei den zuständigen Behörden anzeigen und sich höchstpersönlich für seine gnadenlose Bestrafung einsetzen. Der Chiefsuperintendent erhob sich, streckte dem sichtlich verblüfften Powerich die Hand zum Abschied entgegen und sprach: "Danke für ihre Mithilfe bei der Aufklärung dieses eklatanten Fehlers! Ich hab jetzt noch rasch ein wichtiges Telefonat zu erledigen. Wir treffen uns dann in 30 Minuten im Foyer zu einer kleinen Führung durch die Heiligen Hallen von New Scotland Yard und eine kurze Einführung in ihre zukünftigen Aufgaben als Leiter der Mordkommission. Eigentlich hatte ich ja letzteres dem Ihnen in Zukunft unterstellten Inspektor Crawler zugedacht, aber der hat sich vor ein paar Tagen zwei Wochen Urlaub erbeten, die ich ihm auch gewährte. Vielleicht nutzen Sie ja die kurze Pause bis zu unserem Wiedersehen schon mal für die von Ihnen zu unterzeichnenden Formulare, die bei meiner Sekretärin bereitliegen. Auf Gute Zusammenarbeit, Inspektor Powerich!". Nun erhob sich auch der Marshall von seinem Sitz und drückte seinem neuen Boß nochmals kräftig die Hand: "Yap! Auf Gutes Miteinander, Sir! Und keine Sorge: Ihr kleines fleißiges Vorraum-Bienchen und ich werden uns die Zeit schon angenehm zu vertreiben wissen". Damit griff er nach der Krempe seines imaginären Cowboyhutes, machte auf dem Hacken kehrt und verließ hurtigen Schrittes das Chefbüro in Richtung Vorzimmer. Und während die Tür hinter ihm sachte zufiel, lehnte er seinen Oberkörper im ockerfarbenen Flanellhemd bereits lässig über dem Schreibtisch Claudias, der er mit rauchiger Stimme und einem eindeutigen Augenzwinkern zuraunte: "Hey, Baby! Da bin ich wieder. Onkel Harry meinte, Du hättest da was für mich, das für mich von Interesse wäre! Und wenn ich mir Dein schnuckliges Lächeln so anschaue, glaub ich, der Boß hat verdammt recht!" ...

Chiefsuperintendent Harold schüttelte mild lächelnd den Kopf und dachte bei sich: 'Was für ein komischer Kauz?! Aber kriminalistisch gesehen scheint der echt was drauf zu haben, dieser Macho-Cowboy! Und ein wenig erinnert er mich an einen guten alten Freund ... Was der wohl gerade macht?". Er wischte all diese nebensächlichen Gedanken für einen Moment beiseite, denn es gab im Augenblick etwas weitaus Wichtigeres. Entschlossen griff er zum Telefonhörer und wählte Wannabes Handynummer. Am anderen Ende klingelte es dreimal, dann meldete sich die Mailbox, und Freakadelly sprach nach dem üblichen Piepton: "Charles, melde Dich bei umgehend mir, sobald Du das abgehört hast. Wir müssen uns dringend treffen. Es geht um die Sache mit den Fehlern in der Kowarnoakte. Du bist mir da, glaube ich, eine Erklärung schuldig. Falls Du Dich wider erwarten im Laufe der nächsten zwei Tage nicht melden solltest, sehe ich mich leider gezwungen, rechtliche Schritte einzuleiten!". Damit beendete er das Telefongespräch. Seine Gedanken aber kreisten weiter um die Kowarnoakte, die offensichtliche Verstrickung Wannabes und um seinen Freund Lukas sowie dessen unter so mysteriösen Umständen verschwundene Braut.

Lukas Svensson und sein Team hatten derweil auf ihrer Fahrt nach Kaliningrad innerhalb von 8 Stunden mehr als 660 Kilometer hinter sich gebracht, als der Trabimotor mit einem Male spürbar zu stottern anfing. Die Ursache dafür konnte eigentlich nur darin liegen, daß der Sprit im Tank vermutlich fast aufgebraucht war. Derrik hielt daher schon einmal nach der nächstmöglichen Tankstelle Ausschau, wobei er gleichzeitig mittels eines Hebels unter dem Ammaturenbrett sicherheitshalber auf Reserve umstellte. Nach etwa 30 weiteren gefahrenen Kilometern erblickte er schließlich erleichtert ein entsprechendes Hinweisschild und setzte kurz darauf den Blinker. Nachdem er die Rennpappe sehr geschickt unmittelbar neben der Zapfsäule mit dem notwendigen Benzingemisch zum Stehen gebracht hatte, schlug sich Lukas Svensson - einem natürlichen Bedürfnis folgend - umgehend in die Büsche, während aus Tims Anoraktasche im gleichen Moment immer lauter werdend die Titelmelodie des Kinofilms "Matrix" an die Ohren der beiden verbliebenen Trabiinsassen drang. Ein sichtlich verblüffter Timmy kramte sein Handy, welches er als dessen Besitzer sofort als Verursacher jener musikalischen Einlage überführt hatte, aus der Tasche und schaute auf das wild blinkende Display. Dabei runzelte er die Stirn und murmelte: "Unbekannter Anrufer mit Londoner Vorwahl?! Sicher mal wieder so einer, der sich verwählt hat". Er wollte das ankommende Gespräch schon wegdrücken, als ihm Derrik Crawler kurzerhand das Handy entriß und mit aufgeregter Stimme verkündete: "Sorry, Timothy! Ist vielleicht für mich! Ich hab meiner Freundin Janet nämlich vor unserer Abfahrt aus London Deine Handynummer gegeben, falls sie mich erreichen will, weißt Du?! Für den Notfall halt". Schulterzuckend drückte Derrik die Sprechtaste des Handys und führte es zügig an sein Ohr, wobei er ins Mikrofon säuselte: "Hallo! Bist Du das, Janet Darling?! Was gibts denn so Dringendes?". Einige Sekunden war es still, nur noch das Rattern des Trabi-Zweitakt-Motors war zu hören. Derrik lauschte sichtlich erregt den Ausführungen seiner Gesprächspartnerin, dann erwiderte er: "Keine Panik! Unser kleiner Ausflug hier macht deutliche Fortschritte, ich bin sicher bald wieder bei Dir! Und was das Problem bei Dir zuhaus angeht, mußt Du jetzt dann wohl doch zum Äußersten greifen und die Falle für diesen ekelhaft lästigen Nager aufstellen, so wie wir es vor meiner Abreise besprochen haben. Was den richtigen Köder angeht, da verlaß ich mich ganz auf Deinen scharfsinnigen Instinkt. Du kennst den lästigen Störenfried schließlich schon eine ganze Weile und weißt, wobei er am ehesten anbeißt. Tut mir leid, daß ich gerade jetzt nicht bei Dir bin, sonst würde ich mich selbstverständlich selbst um diese unschöne Angelegenheit kümmern. Aber Du schaffst das schon, das weiß ich!". Wieder herrschte einen Moment Stille im Wageninnern, dann nickte Derrik zufrieden und hauchte zum Abschied ein leises: "Ich Dich auch! Bis bald, Zuckerschäuzchen!". Er beendete per Tastendruck das Telefonat und übergab mit leichtgerötetem Gesicht das Handy wieder an seinen schmunzelnden Besitzer auf der Rücksitzbank. Derrik entzog sich Timmys Blick und meinte verlegen: "Brauchst gar nicht so zu grinsen! Hat halt Angst vor einer Ratte, die ihr in ihren eigenen vier Wänden langsam zur ernsthaften Bedrohung wird. Und da brauchte sie meinen Rat und Beistand als Mann. So einfach ist das!". Timmy ließ seinen Oberkörper gelassen nach vorn gleiten und säuselte Derrik dabei in das ihm zugewandte Ohr: "Schon ok, ich versteh schon ... Zuckerschnäuzchen!".

Derrik knirschte in seinem Fahrersitz ärgerlich mit den Zähnen, dann aber öffnete er ohne ein weiteres Wort zuerst per Hebel die Motorhaube und dann die Fahrertür, stieg aus und begab sich zur Zapfsäule. Dort entnahm er die eingehängte Zapfpistole und steckte sie nach Abschrauben des Tankdeckels in die dafür vorgesehene Öffnung. Mit starrem Blick auf die Zapfsäulenanzeige betankte er das Fahrzeug. Bei 24 Litern stoppte er schließlich den Vorgang und steckte die Zapfpistole zurück in ihre Halterung. Mit lautem Knall schloß er die Motorhaube wieder, steckte dem im Innern des Trabants immer noch grinsenden Timmy die Zunge heraus und begab sich daraufhin zum - auf einer Holzbank in der Sonne sitzenden - Tankwart, bei dem er sogleich die Rechnung für den getankten Kraftstoff beglich. In dem Moment, als er wieder in den Wagen einstieg, kehrte auch Lukas Svensson sichtlich erleichtert aus dem Gebüsch am Straßenrand zurück und trieb seine Mannschaft nun erneut zur Eile an: "Los, Männer! Genug gerastet! Wir haben keine Zeit zu verlieren! Yelena ist irgendwo da draußen gefangen und braucht uns! Und deshalb zählt jetzt jede Sekunde!" ...

Tatsächlich wurde Yelenas Allgemeinzustand in ihrem nahezu luftdicht verriegelten Kellergemäuer von Sekunde zu Sekunde immer schlechter. Ihre Atmung war auch nach dem erneuten Erwachen aus der Bewußtlosigkeit weiterhin ziemlich flach. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie ohnmächtig dagelegen hatte, aber einige Stunden mochten es wohl schon gewesen sein. Mit äußerster Mühe gelang es ihr schließlich, sich im Dunkeln zu dem zuvor an der Kellerwand vor ihr gesichteten Metallregal zu schleppen, wo sie erneut zusammensackte und nach und nach die letzten verbliebenen Tropfen aus den dort abgelegten Wasserflaschen heraussaugte. Jeder einzelne Tropfen war dabei eine Wohltat, denn ihre Lippen waren spröde und rissig und ihre Kehle staubtrocken geworden. Ihr geschwächter Körper lechzte förmlich nach Wasser und Luft. Auf einem der Regale ertasten ihre suchenden Hände unterdess ein kleines Pappschächtelchen, das sich seitlich aus seiner Hülle herausschieben ließ und in dessen Innerem sich drei kleine dünne Holzstäbchen befanden. Mit zittigen Fingern entnahm sie eines der Hölzer und erfühlte an dessen einem Ende eine Art Verdickung. Kein Zweifel, das war ein Steichholz. Behutsam strich sie seinen Phosphorkopf an der rauhen Seitenfläche der Hülle entlang.

Ein Funke entzündete das phosphorbedeckte Streichholzköpfchen, und plötzlich wurde es hell vor Yelenas Augen. Ihre frierenden Finger spürten endlich wieder wohlige Wärme. Dankbar über dieses wundervolle Geschenk faltete Yelena die Hände ineinander und erhob ihren Blick. Ja, das Beten und das Aufschauen zum himmlischen Vater - gerade in den trüben Stunden ihres Lebens - war ihr quasi schon mit in die Wiege gelegt worden. Denn ihr Vater, Dimitri Zladek, war lange Jahre der Priester der Heiliggeist-Kathedrale in ihrer weißrussischen Geburtsstadt Minsk gewesen. Leicht hatten er und seine Familie es dabei nicht gehabt - in einem Land, in dem der Sozialismus gleichsam zur einzig seligmachenden Staatsreligion erhoben worden war und in dem der Glaube an Gott nach den Worten ihres Staatsgründers Lenin weithin schlichtweg als "Opium fürs Volk" galt. Und so hatte man Dimitri Zladek auch stets von staatlicher Seite wie einen Drogendealer behandelt: ihn verfolgt, beschattet und immer wieder verhört. Seiner kleinen Familie machte man Tag für Tag das Leben schwer, versuchte sie - nach Möglichkeit - aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschließen. Vater Zladek blieb - so gut es ging - standhaft. Erst als man seiner geliebten Tochter den Zugang zu einem höheren Bildungsweg zu verwähren drohte, lenkte er in ihrem Interesse ein. Er gab seine Zustimmung für Yelenas Eintritt in den Komsomol, die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. Dieser Schritt öffnete der ohnehin fleißigen und strebsamen Schülerin als Klassenbester endlich die Pforten für ein lang angestrebtes Studium der Kunstwissenschaften im fernen Moskau. Das Streichholz in Yelenas Hand war fast heruntergebrannt. Sie ließ es im letzten Moment zu Boden fallen, wo es auf dem feuchten Untergrund sogleich zischend erlosch.

Ihre zittrigen Finger kramten das zweite Holz aus der Pappschachtel hervor und setzten es eilends in Brand. Wieder leuchtete es hell um Yelena herum. In ihren Augen spiegelte sich die Flamme, wodurch sie gleichsam zu lodern begannen. Fast so wie damals, als sie beim Schreiben ihrer Doktorarbeit zum Thema Beutekunst zum ersten Mal auf ihn traf - jenen stattlichen, jungen Mann, der sich ihr als neuer Dozent vorstellte und sie fortan nahezu ununterbrochen auf Schritt und Tritt begleitete. Dabei überhäufte er sie sowohl mit Komplimenten wie auch mit kleinen und großen Geschenken, und gewann so rasch erst ihre Bewunderung, dann ihr Interesse und ihre Zuneigung. Irgendwann wurden aus ihren Arbeitsbesprechungen Abendessen bei Kerzenschein und aus ihren Spaziergängen unter Gleichgesinnten romantische Ausflüge im Mondlicht. Eines Abends bat er sie leise um einen Kuß, und sie sagte nicht nein. In jener Nacht lag sie noch lange wach und träumte dabei von einer eigenen Familie mit zwei, drei Kindern und einem Häuschen irgendwo im Grünen. Und an ihrer Seite stand dabei er - ihr Dozent, Verehrer und zukünftiger Ehemann: Iwan Kowarno. Tatsächlich hielt eben jener Mann, der das bis dato tief in ihrem Innern schlafende Gefühl der Liebe geweckt hatte, schon wenige Wochen später um Yelenas Hand an. Und auch Vater Zladek war von seinem zukünftigen Schwiegersohn, der keinen Zweifel daran ließ, daß ihm in Politkreisen noch eine steile Karriere bevorstand, sichtlich angetan - hoffte er doch, durch eine Ehe seiner Tochter mit diesem Mann und seinem wachsenden Einfluß endgültig all den Repressalien zu entfliehen, die ihm der Staat seines Amtes wegen bisher auferlegt hatte. Und so gaben sich schon ein paar Monate später in einem Moskauer Standesamt Yelena Zladkaja und Iwan Kowarno das Ja-Wort, und aus Fräulein Zladkaja wurde damit Frau Kowarnowa. Wieder kam die Hitze der Flamme des herunterbrennenden Streichholzes Yelenas Fingern bedrohlich nahe, so daß sie es rasch mit einem einzigen Atemzug auspustete.

Yelena kramte jetzt auch das dritte und letzte Streichholz hervor und entzündete es. Die Flamme am Steichholzkopf loderte kurz auf, dann flackerte sie wild hin und her, so daß Yelena schon befürchtete, sie könne unmittelbar nach dem Entzünden des Holzes schon wieder verlöschen. Ja, genau so war es ihr nach der vermeintlichen Traumhochzeit in ihrer Ehe auch mit der Liebe ergangen. Kowarno, der Yelena als seiner Ehefrau sogleich einen Posten in der neu eingerichteten - und von ihm geleiteteten - streng geheimen Abteilung "Beutekunst" des russischen Geheimdienstes KGB verschafft hatte, entpuppte sich vor ihren Augen rasch als äußerst besitzergreifend und geradezu krankhaft eifersüchtig. Keinen Schritt durfte sie ohne ihn vor die Haustür der gemeinsamen Moskauer Nobelvilla gehen. Männliche Kollegen, die sie in seinen Augen zu oft oder zu verliebt ansahen, verschwanden auf sein Geheiß aufgrund haltloser Anschuldigungen ohne Umschweife in sibirischen Arbeitslagern. Beruflich waren die Zwei dennoch ein erfolgreiches Gespann. Yelenas Fachwissen und Kowarnos dunkle Kontakte ermöglichten es ihnen, weltweit in unzähligen Geheimoperationen mehr als 200 während des Zweiten Weltkriegs verschwundene Kunstschätze in sowjetischen Besitz zu überführen. Einzig und allein ihre jahrelange, intensive Suche nach dem verschollenen Bernsteinzimmer war nicht von Erfolg gekrönt. Dann brach nach dem Tode von Breschnew, Andropow und Tschernenkow die Ära Gorbatschow an, und mit ihr wehte der frische Wind von Glasnost und Perestroika durchs ganze Land, auch bis in die tiefsten Winkel der unterirdischen Moskauer KGB-Zentrale hinein. Oberst Kowarno wurde degradiert und als Hauptmann in den aktiven Armeedienst zurückgestuft. Er begann, seinen Kummer über diese Schmach im Wodka zu ertränken. Sein Wesen wurde immer zügelloser und brutaler, auch und vor allem seiner Ehefrau gegenüber. Er schlug und mißbrauchte sie wieder und wieder. Es war ihm ein schrecklicher Dorn im Auge, daß sie - im Gegensatz zu seinem rapiden gesellschaftlichen Abstieg - einen lukrativen Lehrstuhl an der Moskauer Akademie der Künste bekommen hatte. Hier lernte die leidgeprüfte Yelena eines Tages schließlich auch den jungen Bauernsohn Fjodr Fontanewitsch kennen, der als Student ihre Vorlesungen besuchte. Er kam des Öfteren in ihre öffentlichen Sprechstunden, und man tauschte sich wissenschaftlich aus. Der unglaubliche Kunstverstand und die herrlich erfrischende, kindliche Naivität des jungen Mannes imponierten ihr zusehends. Eines schönen Frühlingstages setzte man die angeregte Unterhaltung schließlich noch in einem kleinen Cafe fort, und zog sich dann später in das Zimmer seines Studentenwohnheims zurück. Bei einem Gläschen Rotwein bekam das Gespräch rasch eine sehr private Note. Irgendwann landete versehentlich die Hand des Jünglings auf Yelenas Knie. Sie ließ es zu - ließ es auch zu, daß sie von dort aus kühn auf Wanderschaft ausging. Yelena schloß ihre Augen und empfing erwartungsvoll seine Lippen mit den ihren. Sie ließ ihren zittrigen Leib widerstandslos auf sein Schlafsofa zurücksinken und gab sich seiner zügellosen Leidenschaft hin, die letztlich nichts anderes tat, als ihr neu entflammtes, brennendes Verlangen nach Liebe und Zärtlichkeit zu stillen. Die geheimen Liebestreffen der Beiden wiederholten sich einige Male, bis ihnen Kowarno durch den geheimen Tip eines Freundes und eigene Nachforschungen auf die Schliche kam, dem jungen Studenten in der Dunkelheit auflauerte und ihn erschoß. Das zuständige Gericht verurteilte den Ex-KGB-Mann für seine Tat zu 10 Jahren Gefängnis. Yelena aber nutzte diese Zeit, ließ sich umittelbar nach Antritt seiner Haftstrafe von ihm scheiden und flüchtete kurz darauf mit nur einem einzigen Koffer bei Nacht und Nebel per Zug in Richtung Westen, wo sie ihrem alten Leben und Kowarno auf ewig zu entkommen hoffte. Über mehrere Zwischenstationen landete sie schließlich im englischen Flüchtlingslager "Robinwood" im Sherwood Forest nahe dem Dorf Edwinstowe. Hier machte sie auch die Bekanntschaft eines britischen Oberhausabgeordneten, der sie als Hausangestellte zu sich und seiner Familie holte und ihr im Gegenzug über seine weitreichenden Beziehungen schließlich alle zum unbefristeten Aufenthalt nötigen Papiere verschaffte. Irgendwann verließ sie den Haushalt des Politikers, nahm sich ihre eigene kleine Wohnung in der Skid Row und begann ihren Job als Putzfrau beim Reinigungsunternehmen "Clean-Ex". Ein drittes Mal streifte die Streicholzflamme die Haut ihrer Finger. Diesmal warf sie das Streichholz unsanft zu Boden, wo es umgehend erlosch und sie in der kühlen Finsternis des sie umgebenden Kellergewölbes zurückließ.

Yelenas Körper begann mit einem Male zu verkrampfen und unkontrolliert zu zucken. Ihre flache Atmung wurde zunehmend schnappend, in ihren Armen und Beinen hatte sie urplötzlich ein seltsames Taubheitsgefühl. Sie geriet wieder in eine Art geistigen Dämmerzustand. Es kam ihr dabei vor, als würde sie von einer endlosen Müdigkeit befallen, die allen noch verbliebenen Lebenswillen in ihr zu ersticken und einzuschläfern drohte. Sie spürte keinerlei Kraft mehr, sich der drängenden Müdigkeit zu widersetzen. Ihre Augen verwandelten sich in immer kleiner werdende Sehschlitze, ihr Leib erstarrte, der Atem stockte ... Um sie herum aber war mit einem Male ein strahlend helles Licht getaucht, und aus diesem Licht heraus näherte sich das engelhafte Antlitz ihres geliebten Lukas, der ihr zuwinkte und dabei mit gedämpfter Stimme ihren Namen rief. Dazu aber drang wie von ferne säuselnd Madonnas "When you call my name, it's like a little prayer" an ihr Ohr und der Vorhang vor ihren trübe gewordenen Augen fiel ...

EPISODE 17: WIEDERVEREINIGUNG

Als Yelena nach einer Ewigkeit ihre Augen erneut aufschlug, war sie noch immer ganz und gar von einem grellen weißen Licht umgeben. Über sich erblickte sie - ein wenig geblendet - die Silhouette eines rauschebärtigen Mannes, der sich - ebenfalls ganz in weiß gehüllt - langsam zu ihr herabbeugte und sie dabei immer wieder leise flüsternd mit ihrem Namen ansprach. Sichtlich irritiert hauchte sie: "Ich bin tot, oder?! Nun, dann muß das hier wohl das Paradies sein, und Sie sind sicherlich ...". In das Gesicht des Bärtigen kehrte augenblicklich ein leichtes Schmunzeln ein: "Oh, Gott! Nein! Mit dem Vor-Ihren-Schöpfer-Treten dürfen Sie sich getrost noch ein wenig Zeit lassen, Frau Zladkaja. Auch wenn es mir und meinem Team ungemein schmeichelt, daß Sie unser kleines Krankenhaus am Rande der Stadt für das Paradies halten. Erlauben Sie mir, daß ich mich Ihnen kurz bekanntmache?! Ich bin Chefarzt Nikolaus Juri Wussowitsch, der Leiter dieses 'Klinikums am Schwarzen Wald'. Sie hatten unglaubliches Glück, meine Dame, daß Sie Ihr Verlobter quasi in letzter Sekunde in Ihrem Verließ aufgespürt und sofort die Ambulanz verständigt hat. Die brachten Sie dann mit Tatü-tata zu uns, wo Ihr extrem geschwächter Körper seit nunmehr 24 Stunden mittels Flüssigkeitszufuhr über einen Tropf und umfangreicher medikamentöser Behandlung langsam wieder aufgebaut und entgiftet wurde. Sie waren nämlich bei Ihrer Einlieferung nicht nur stark dehydriert und ein wenig unterkühlt, sondern hatten auch eine ordentliche Überdosis des keineswegs ungefährlichen illegalen Betäubungsmittels Airethin im Blut. Das verdammte Teufelszeug ließ ihre Atmung immer wieder minutenlang aussetzen, so daß ich und meine Leute in ständiger Sorge um Ihr Leben waren. Jetzt aber darf ich Ihnen ruhigen Gewissens verkünden, daß Sie fürs Erste über den Berg sind. Welche Folgeschäden möglicherweise in Zukunft noch auf Sie zukommen könnten, darüber läßt sich freilich zum jetzigen Zeitpunkt nichts sagen. Aber Sie haben ja schon bewiesen, daß Sie eine echte Kämpfernatur sind, darum gebe ich Ihnen äußerst gute Chancen für eine nahezu vollständige Genesung. So, und nun will ich Sie auch gar nicht länger mit meinem Medizinergeschwätz aufregen, vor der Tür wartet nämlich schon ziemlich ungeduldig ein Ihnen wohl nicht ganz unbekannter Herr, der als Ihr eigentlicher Retter in den vergangenen - teilweise recht dramatischen - Stunden, nicht eine Sekunde von ihrer Seite gewichen ist. Ich glaube, er möchte jetzt endlich wieder zu Ihnen gelassen zu werden. Es ist Ihnen doch recht, wenn ich Ihren Lukas jetzt wieder hereinbitte, oder?!". Yelenas Augen funkelten wie Diamanten, während ihr Kopf aufgeregt zu nicken begann.

Damit verabschiedete sich der vollbärtige Chefmediziner mit einem festen Händedruck und einem Augenzwinkern von ihr, wobei er Yelena noch einmal gute Besserung wünschte. Einen Moment lang herrschte erwartungsvolle Stille im Zimmer, und dann war er endlich da, der von Yelena und Lukas gleichermaßen so lang herbeigesehnte Moment. Laut knarrend öffnete sich die Tür des Krankenzimmers einen Spalt breit. Vom Flur her drang aus einem Lautsprecher leise Belinda Carlisles "Heaven Is A Place On Earth" an Yelenas Ohr. Dann stand er endlich vor ihr, so wie sie ihn die ganze Zeit ihrer Entführung über vor Augen gehabt hatte, und es trieb ihr sogleich Tränen der Rührung in die Augen. Der Mensch, dessen Erwartung sie all die qualvollen, leidgeprüften Stunden am Leben gehalten und der sie schließlich vor dem sicheren Tode errettet hatte - Lukas, der Mann ihrer Träume, ihr Mann. Wie in Zeitlupe sah sie ihn auf sich zuschreiten, während sie in ihrem Ohr schon leise die Hochzeitsglocken läuten zu hören glaubte. Seine starke Hand ergriff die ihre - jenes schwache, zitternde Händchen, das - wie ihr ganzes Wesen - so ungeheuer zerbrechlich wirkte. Und nun krochen auch bei Lukas jene salzigen Boten der unendlichen Wiedersehensfreude aus den Augenhöhlen hervor, die schon Sekunden später zu Tausenden in Sturzbächen seine Wangen überfluteten. Er konnte es noch gar nicht richtig fassen, daß er sie endlich wiederhatte. Es war ein so unglaublich intensives Gefühl: ihre warme, zarte Hand in der seinen. Seine Zeigefinger ertastete ihren Puls. Durch seinen tränenverschleierten Blick schaute er in ihr mild lächelndes, unheimlich bezauberndes Gesicht. Er konnte sich einfach nicht sattsehen an diesem wundervollen Geschöpf. Seine linke Hand berührte vorsichtig ihre Stirn und streichelte ihr eine einzelne Haarsträhne aus den feuchten Augen. Wieder und wieder strichen ihr seine Finger behutsam übers Haar, dessen Duft Lukas schließlich - sich ganz nah über sie beugend - mit geschlossenen Augen durch seine Nase einsog. Wie berauschend sie roch! Ohne die Augen zu öffnen, suchte sein Mund den ihren. Ihre Lippen trafen sich. Hmm, sie schmeckte nach Pfirsich - und er spürte augenblicklich das Verlangen, von ihrem Nektar zu naschen. Sie schien diesen Wunsch zu teilen, denn ihr Mund öffnete sich in selben Moment und gab dem Drängen seiner Zunge Raum, sich in ihm ausbreiten zu dürfen. Ihr Atem wurde schwer - und dennoch bestand in dieser Sekunde kein Grund zur Sorge. Jene Atemlosigkeit war keine Spätfolge des Betäubungsmittels. Nein, das war etwas gänzlich anderes - etwas, das man Liebe nennt.

Eine Ewigkeit verharrten die Zwei in ihrem Kuß. Sie kosteten es sichtlich aus, endlich wiedervereint zu sein. Irgendwann lösten sich ihre Lippen - aber nur, um ihrer Liebe zueinander nun auch noch einmal mit Worten Ausdruck zu verleihen. Schließlich schaute Yelena ihrem zukünftigen Mann tief in die Augen und flüsterte: "Lukas, Liebes, es sein Zeit, daß Du erfahren ganzes Wahrheit über mein Vergangenheit und über das, was sein geschehen mit mir nach Dein Rückkehr von Junggesellenabschied". Damit senkte sie ihren Blick, atmete einmal tief durch und begann zu berichten. Sie war an jenem späten Abend schon im Nachthemd gewesen, als es an ihrer Wohnungstür klingelte. In freudiger Erwartung der Rückkehr ihres geliebten Lukas hatte sie die Tür aufgerissen, durch die Sekunden später auch tatsächlich der sichtlich angeheiterte Svensson getaumelt kam. Zu ihrem Erschrecken hatte er jedoch noch jemanden bei sich, dessen Gesicht sie sofort wiedererkannte. Es war Iwan Kowarno, ihr Ex-Mann, der sie nun wider Erwarten nach all den Jahren ihrer Flucht vor ihm und seinem Jähzorn doch aufgespürt hatte. Fies grinsend hielt er, der sie schon am Vorabend telefonisch belästigt hatte, ein Taschentuch und Handschellen in seiner linken sowie eine Stabtaschenlampe in seiner rechten Hand. Yelena wollte ihm am liebsten die Tür vor der Nase zuschlagen, doch er stand bereits hinter ihrem Lukas im Flur. Und nun war er es, der zuschlug. Mit der mitgeführten Lampe verpaßte er dem schwankenden Lukas einen Hieb über den Hinterkopf, der diesen sofort zu Boden gehen ließ. Und noch ehe Yelena um Hilfe schreien konnte, wurde ihr brutal das dreckige Taschentuch in den Mund gestopft, und die Handschellen schlossen sich klickend um ihre Handgelenke. Kowarno verschloß die Wohnungstür und zog den Schlüssel ab, dann warf er sich Lukas über die Schulter und brachte ihn ins Schlafzimmer, wo er ihn kurzerhand aufs Bett warf und entkleidete. Dabei machte er Yelena gegenüber immer wieder schlimme Andeutungen, was mit ihrem Ex-Bullen passieren würde, wenn sie nicht spurte. Er kramte aus seiner Hosentasche einen Lippenstift hervor und kritzelte eine kurze Abschiedsnachricht - die wohl den Anschein erwecken sollte, sie stamme von ihr - an den Badezimmerspiegel. Dann nahm er Yelena das Versprechen ab, nicht zun schreien und befreite sie von dem ekligen Tuch in ihrem Mund. Yelena hatte Angst. Dabei galt ihre Furcht nicht in erster Linie ihrem eigenen Leben, sondern vor allem dem ihres geliebten Lukas. Kowarno schleppte sie an den Haaren ins Wohnzimmer, wo er sie aufs Sofa schupste und ihr dann dämonisch grinsend in aller Ausführlichkeit sein Vorhaben, die dazugehörige Vorgeschichte und seine Pläne mit ihr ausbreitete. In der Aussichtslosigkeit ihrer Lage fiel ihr Blick mit einem Male auf die Stereoanlage und das danebenstehende CD-Regal. Auf dem Rücken einer CD verweilte ihr Blick einige Sekunden lang, dann schoß ihr plötzlich ein Gedanke in den Kopf. Schluchzend flehte sie Kowarno an, ihr zu gestatten, zur Beruhigung etwas Klassik hören zu dürfen. Kowarno war ein wenig erstaunt über diesen Wunsch, gestattete ihn ihr aber - hoffte er doch anscheindend, dadurch gleichzeitig zu verhindern, daß die Mieter der umliegenden Wohnungen auf das nächtliche Treiben im Svensson-Haushalt aufmerksam wurden. Nach ihrer Rückkehr auf die Couch meinte Yelena, es sei sicher besser, wenn sie selbst vor dem Verlassen der Wohnung dem Hausherrn noch eine kleine handgeschriebene Notiz hinterließe. Kowarno ließ sich recht rasch davon überzeugen, daß ein kurzer persönlicher Aufruf von ihr vielleicht verhindern könnte, daß Svensson ihr unmittelbar nach seinem Erwachen folgen würde. Und so hatte sie sich dann Stift und Papier vom Couchtisch geangelt und unter dem prüfenden Blick Kowarnos genialerweise jene doppelsinnige Botschaft verfaßt, die ihren Lukas letztlich auf ihre Spur brachte.

Dann war sie mit ihrem Entführer aufgebrochen. Unten vor dem Hauseingang stand bereits ein gestohlener Rettungswagen bereit, an dessen Steuer ein abfällig grinsender Mann saß, den ihr Kowarno kurz als seine rechte Hand Boris vorstellte. Die Seitentür des Fahrzeugs wurde derweil von zarter Hand aufgeschoben. Und die junge Frau in Schwesterntracht, die Kowarno mehrmals als Katjuscha ansprach, verpaßte der Verschleppten beim Einsteigen direkt die erste Airethin-Injektion in den linken Oberarm. Yelenas Sinne schwanden langsam. Sie spürte nur noch, wie Kowarno nach ihren Beinen griff und wie er sie gemeinsam mit Katja auf die bereitstehende Trage fesselte. Als sie wieder erwachte, saß sie schon neben Kowarno im Flieger. Auch hier bekam sie rasch wieder eine Betäubungsspritze verpaßt, die sie erst in einem dunklen Bunker wieder zu sich kommen ließ, wo ihr Ex - ins spärliche Licht einer Petroleumlampe getaucht an einem Campingtisch sitzend - nun ausführlich seine gesamten Erkenntnisse vor ihr und seinen beiden Mitwissern ausbreitete: Vor einigen Monaten sei bei ihm ein alter Bekannter aus Geheimdiensttagen aufgetaucht - ein Ostdeutscher namens Vorberg. Yelena kannte diesen Herrn, hatte doch auch sie einst bei der Suche nach dem Bernsteinzimmer das zweifelhafte Vergnügen seiner Bekanntschaft gehabt. Der Stasi-Offizier mit den zwei verschiedenfarbigen Augen war damals der Leiter einer großangelegten geheimen Bernsteinzimmer-Suchaktion des sowjetischen KGB und des ostdeutschen MfS in und um die ostdeutsche Stadt Weimar gewesen. Der stets grimmig dreinblickende Vorberg war ihr von damals vor allem durch seinen barschen Umgangston und und sein menschenverachtendes Wesen in Erinnerung geblieben. Allein der Gedanke an diesen Kerl jagte ihr jedes Mal einen kalten Schauer über den Rücken. Jener Vorberg war also nun nach Jahren an Kowarno herangetreten, da ihn sein letzter verdeckter Spionageeinsatz als Kunsttrödler im englischen Manchester - den er nach dem Zusammenbruch der DDR und des MfS unentdeckt auf eigene Faust fortgesetzt hatte - auf eine bislang unentdeckte Spur des verschollenen Bernsteinzimmers stoßen ließ. In einem Tagebuch aus dem Nachlaß eines bekannten westdeutschen Kunstfälschers namens Kajau entdeckte er eine Notiz darüber, daß dieser von 1951 bis 1955 gemeinsam mit einem gewissen Alfred Röder im Mannheimer Gefängnis einsaß. Auf einem Paßbild dieses Röder, welches scheinbar als Lesezeichen in dem Tagebuch lag, erkannte Vorberg dabei zu seinem Erstaunen einen alten Bekannten wieder: Alfred Rohde, den ehemaligen Direktor des Königsberger Schlosses, in dessen Amtszeit auch die Ausstellung und das Verschwinden des Bernsteinzimmers fiel. Rohde, dessen Leichnam nach seinem angeblichen Tod in sowjetischer Gefangenschaft spurlos verschwunden war, schien in Wirklichkeit jahrelang untergetaucht zu sein, bevor er 1951 durch eine Tötung im Affekt während einer abendlichen Kneipenschlägerei als Alfred Röder wieder aktenkundig wurde. Sein damaliges Opfer hieß Müntzer - ein Kleinkrimmineller, der in Fachkreisen wegen seiner Vorliebe für das Erstellen falscher Pässe auch Falschmüntzer genannt wurde. Die beiden Männer waren offenbar nach einem gemeinsamen Saufgelage in Streit um die Entlohnung für Müntzers Dienste geraten, worauf Röder alias Rohde im Gerangel eine Mauser aus seiner Jacke zog und den Paßfälscher niederschoß. Falschmüntzer verstarb noch auf dem Weg ins Krankenhaus an den Folgen der Schußverletzung, und Röder wurde kurz darauf vor dem Strafgericht zu 10 Jahren Haft verurteilt. Hier freundete er sich mit seinem Zellengenossen Kajau an, der schließlich wegen guter Führung am 5.April 1955 vorzeitig entlassen werden sollte. Einen Tag vorher kam es dann in der Gefängniszelle der Beiden zu einem tragischen Zwischenfall. Kajau schrieb dazu in seinem Tagebuch, er sei am späten Vormittag von der Unterzeichnung seiner Entlassungspapiere beim Gefängnisdirektor in seine Zelle zurückgekehrt, wo er und der ihn begleitende Wachmann Mithäftling Röder röchelnd am Boden liegend vorfanden. Der Beamte habe umgehend Alarm ausgelöst, während Kajau sich neben seinem Kumpan niedergekniete, um ihm durch das Öffnen des obersten Knopfes der Anstaltsjacke Erleichterung zu verschaffen. Der nach Luft ringende Röder habe immer wieder etwas von "Schatz", "Bernstein" und "Kisten" gefaselt und dabei mit dem ausgestreckten blutverschmierten Zeigefinger aufgeregt auf eine goldgerahmte Leinwand gedeutet, auf deren strahlendweißer Rückseite er scheinbar zuvor mit seinem eigenen Blut ein paar flüchtige letzte Worte gekritzelt hatte. Dann war Alfred Röder in den Armen Kajaus verstorben. Was der Tote da geschrieben hatte, gaben Kajaus Notizen leider nicht her, dafür aber, daß es sich bei jener Leinwand um ein recht wertloses Stilleben aus dem Jahre 1917 handelte, welches Kajau aufgrund seiner bevorstehenden Entlassung vom Direktor der Haftanstalt geschenkt bekommen hatte. Das Bildnis tauchte daraufhin widerholt in den Tagebuchnotizen Kajaus auf, immer wieder verbunden mit der verrückten Idee, eine gefälschte blaue Version von Edvard Munchs bekanntem Meisterwerk "Der Schrei" zu erschaffen. Irgendwann im Jahre 2007, als Kajau seine künstlerischen Fingerfertigkeiten vervollkommnet zu haben glaubte, wagte er sich schließlich an die Umsetzung seiner fixen Idee. Die vollendete Fälschung aber versteckte er im Anschluß an einem geheimen Ort - wenige Wochen, bevor er in Erwartung der sensationellen Entdeckung des vermeintlichen unbekannten Meisterwerks einsam und verlassen in einer kleinen Hütte am Rande Manchesters verstarb. Fieberhaft hatte sich Vorberg nach dem Lesen des Tagebuchs auf die Suche nach dem Gemälde gemacht - ahnte er doch, daß in der Blutschrift Rohdes der Schlüssel zur Auffindung des Bernsteinzimmers liegen mußte. Doch ein paar Lagerarbeiter einer Manchester Hosenfabrik waren ihm leider zuvor gekommen, und so befand sich das Gemälde mitsamt seinem Geheimnis nun in den sicheren Händen der britischen Regierung. Kowarno hatte nach der Offenbarung Vorbergs seine Beziehungen spielen lassen und über seinen heimlichen Verbindungsmann im Yard in Erfahrung gebracht, daß der "Blaue Schrei" mit einem Linienflug nach Frankreich überstellt werden sollte. Jener verräterische Mann im Dunkeln überbrachte ihm fast zeitgleich auch die Kunde vom Aufenthalt seiner langgesuchten Exfrau Yelena. Und so beschloß Kowarnos krankes und geldgieriges Verbrecherhirn, gleich drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen wollte er sich durch die Entführung des Fluszeugs das Gemälde beschaffen, zum anderen durch Kidnappen seiner Exfrau seine Besitzansprüche an ihr klarstellen und sie seinem vermeintlichen Nebenbuhler wegnehmen. Und zu guter Letzt glaubte er, mit Yelena als Kunstexpertin und der versteckten Gemäldebotschaft Rohdes als Schlüssel endlich an das legendäre Bernsteinzimmer zu gelangen, für welches ihm Kunstfreaks in den Unterweltkreisen - in denen er nun verkehrte - sicher einige Millionen Dollar hinzublättern bereit wären. Mit Vorberg, der in London auf ihn warten wollte, hatte er nach erfolgreicher Suche und Verkauf des verschollenen Schatzes Halbe-Halbe vereinbart. Die gleiche Vereinbarung hatte er insgeheim auch mit seinem Yardspitzel getroffen, wobei er sich letztlich an keine der beiden Verabredungen zu halten gedachte. Zu gegebener Zeit, so hatte er mehrfach in Yelenas Anwesenheit selbstgefällig verkündet, werde er all seine Mitwisser ausschalten und sich das ganze Geld allein unter den Nagel reißen. So sei er dann schließlich im Bunker an die eingehende Untersuchung des Gemäldes mittels Chemikalien und UV-Licht gegangen und dabei auf die gleichen zwei blutigen Worte gestoßen wie wenig später auch Lukas und sein Team: "Stutenfriedel" und "Königsberg". Letzteres bestärkte ihn aber nur in seiner bereits vor Jahren aufgestellten Theorie, das kurz vor der Einnahme Königsbergs sorgsam in Kisten abgepackte Bernsteinzimmer habe seinen Ursprungsort nie verlassen, sondern sei dort im Keller eines deutschen Luftschutzraums verschwunden - dem "LSR 14-21", welcher sich irgendwo unter dem - nach dem Krieg von den Sowjets anstelle des Stadtschlosses errichteten - aufgrund statischer Probleme nie genutzten Rathaus befinden mußte. Dorthin hatte er schließlich seinen Handlager Boris mit der gefesselten Yelena vorausgeschickt.

Sichtlich ermattet schloß Yelena damit fürs Erste ihren Bericht. Sie richtete sich ein wenig auf von ihrem Krankenbett und lehnte ihr müdes Haupt an Lukas' Schulter. Sein Atem pustete ihr erneut eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann hauchte seine sanfte Stimme: "Ja, und in diesem Bunker haben wir Dich dann gerade noch rechtzeitig entdeckt. Und das, obwohl die Lage zuvor schon gänzlich aussichtslos erschien, nachdem Dein Exmann als der Einzige, der von Deinem Aufenthaltsort wissen konnte ...". Für einen Augenblick stockte Lukas' Redefluß, und ein paar Sorgenfältchen zeichneten sich auf seiner Stirn ab. Yelena, der die plötzliche Wesensveränderung Svenssons nicht verborgen blieb, hakte nach: "Was Du verschweigen vor mir, Lukas? Was sein geschehen mit Iwan Kowarno? Du mich nicht schonen müssen, ich wollen hören ganzes Wahrheit!". Lukas schaute ihr tief in die Augen: "Und Du meinst, Du kannst die Wahrheit wirklich vertragen?!". Yelena nickte entschlossen, während ihre Hand sich auf die seine legte. Noch eine Sekunde zögerte Lukas Svensson, dann aber sagte er: "Weißt Du, Kowarno hat versucht, uns mit einer Bombe zu töten. Wir haben ihn dann aufgespürt, in dem Bunker, von dem Du mir eben erzählt hast. Ich wollte wissen, warum er Dich entführt hat und wo er Dich versteckt hält. Aber er kam nicht raus mit der Sprache. Da hab ich ihn ein wenig unter Druck gesetzt. Und plötzlich sah es so aus, als würde er mich erschießen wollen. Aber Derrik war schneller und hat ihn getötet ...". Yelenas Kopf schnellte nach oben. Völlig entgeistert blickte sie ihren Lukas an: "Derrik?! Derrik Crawler?! Dieses Wurm, das Dir haben an Seite von Wannabe in alle Jahre bei Yard Leben schwer gemacht. Dieses Speichellecker, das Dich immer nur haben verspottet und behandelt wie letztes Dreck?!". Lukas nickte: "Ja, Liebling! Genau der! Er war es übrigens auch, der mit dem Lageplan des alten Luftschutzbunkers den entscheidenden Hinweis auf Dein ominöses Versteck entdeckte. Ohne ihn hätten wir Dich kaum mehr rechtzeitig gefunden in den Weiten Kaliningrads. Ihm vor allem verdankst Du neben mir Deine Rettung!". Yelena war sprachlos. Daß man sich in einem Menschen so täuschen konnte?! Sie schüttelte nur milde den Kopf, dann legte sie ihn wieder zurück auf Lukas' starke Schulter. Ihr Geliebter aber setzte zärtlich flüsternd seine unterbrochene Ansprache fort: "Weißt Du, Yel, welche Angst ich die ganze Zeit über hatte, Dich nie mehr wiederzusehen?! Da erst wurde mir endgültig bewußt, wie wichtig Du in meinem Leben geworden bist und daß es ohne Dich all seinen Wert und seinen Glanz verliert. Ohne Dich bin ich wie die Erde ohne Sonne, wie eine Blume ohne Wasser. Ich welke und vergehe. Keinen Tag, keine einzige Stunde will ich je mehr ohne Dich sein!". Einen Augenblick hielt er inne, und sein Blick fiel auf das hölzerne Kruzifix über der Eingangstür des Zimmers. Sein Ton wurde fester und seine Augen feucht: "Und darum frage ich Dich hier und jetzt vor dem Angesicht Gottes noch einmal: Willst Du, Yelena Zladkaja, meine Frau werden?". Yelena erhob erneut ihr Köpfchen von aus der Geborgenheit seiner Ruhestätte und nickte sacht. Dazu formten ihre Lippen ein leises: "Ja, will ich!". Lukas aber kramte augenblicklich in den Taschen seines abgewetzten Regenmantels und murmelte dabei: "Also einen Ring zur Besiegelung unserer neuerlichen Verlobung hab ich zwar nicht, aber dafür zumindest das hier ...". Damit zog er blitzartig den silbernen Armreif von seinem Freund Jack aus L.A. aus der Tasche. Er wischte kurz mit dem Ärmel darüber, um ihn vom Staube jener Bunkerexplosion zu befreien, vor der er den teuren Schmuck seinerzeit glücklicherweise gerettet hatte. Dann legte er ihn behutsam um das Handgelenk Yelenas. Sie aber streckte ihren Arm nach oben und ließ den Armreif im Licht der durch das große Zimmerfenster einfallenden Sonnenstrahlen funkeln. Dabei strahlte auch sie nun übers ganze Gesicht. Und an ihren Lukas gewandt, fragte sie: "Und, wie seh ich damit aus?". Er aber nickte nur und entgegnete überglücklich: "Einfach nur bezaubernd, wie immer!". Dabei streckte er zur Untermalung seiner Worte den Daumen der zur Faust geballten rechten Hand in die Höhe. Und während er ihr in jenem Moment höchster Glückseligkeit zuhauchte: "Mögen unserer einzigartigen Liebe zueinander noch viele wundervolle gemeinsame Jahre beschieden sein", zeichnete das Sonnenlicht die Schatten der abgespreizten Finger ihrer beiden sich langsam vereinenden Hände - sechs schwarzen Strichen gleich - an die weißgestrichene Zimmerwand. Yelena und Lukas blieb dieses mysteriöse Schattenbild allerdings verborgen. Denn die beiden Liebenden hatten längst in stiller Übereinkunft die Augen geschlossen, und ihre sehnsüchtigen Lippen begegneten einander zu einem erneuten sanften Stelldichein.

Als sie schließlich wieder für einen kurzen Moment voneinander abließen, entdeckte Yelena bei ihrem Lukas ein verstohlenes Schmunzeln. Ihr Gesicht schaute ihn fragend an, und Lukas erklärte: "Ach, weißt Du, ich hab da mit meinen beiden Jungs auf der langen Reise zu Dir so einiges erlebt. Und eben gerade mußte ich an das wohl Außergewöhnlichste denken, was mir dabei wiederfahren ist. Im Zug nach Moskau trafen wir ein russisches Ehepaar, die Frau aber war hochschwanger. Mitten auf der Fahrt setzten die Wehen ein, und weit und breit war kein Krankenhaus oder eine Hebamme in Sicht. Da hab ich mich mit meinen beiden Begleitern kurzerhand als Geburtshelfer zur Verfügung gestellt. Und gemeinsam mit Mutter und Vater haben wir das Kindchen geholt. Was für ein wundervoller Augenblick das doch ist, die Geburt eines Kindes. Weißt Du, die Eltern haben ihre neugeborene Tochter aus Dankbarkeit Francesca genannt, so wie das Mädchen damals ...". Lukas stockte mitten im Satz. Denn seine Yelena hatte urplötzlich ihren Blick gesenkt und bitterlich zu weinen begonnen. Der Ex-Inspektor streichelte behutsam über ihre Haar, wobei sie leise zu stammeln begann: "Ich Dir müssen etwas sagen! Etwas, das lang schon brennen auf mein Seele. Und jetzt, wo Kowarno endlich sein kein Bedrohung mehr, ich brauchen nicht länger schweigen. Mit dieses Geheimnis in mir können ich eh nicht ruhigen Herzens werden Dein Frau!". Lukas betrachtete das Häufchen Elend vor sich ein wenig verunsichert. Was um alles in der Welt konnte das für ein dunkles Geheimnis sein?! Wußte er denn nach all dem, was er in den letzten Tagen und Minuten über ihre Vergangenheit erfahren hatte, immer noch nicht alles von ihr?! Yelena schaute ihrem Lukas mit traurigen Augen ins erwartungsvolle Gesicht, dann begann sie zaghaft: "Du nicht wissen, aber ich gehabt am Ende von Ehe mit Kowarno ein neues Liebe mit Bauernsöhnchen mit Namen Fjodr Fontanewitsch. Er mich in kaltes Zeit Wärme geschenkt. Ich haben ihm mich hingegeben, ganz und gar. Für kurzes Zeit wir ungeheuer glücklich gewesen. Aber dann, Iwan hat erfahren von uns. Er haben dieses liebes Mann aufgelauert und tot geschossen. Was keiner zu dieses Zeit haben gewußt - nicht einmal ich: Ich gewesen in guter Hoffnung von Fjodr. Später auf Flucht ich haben geboren ein kleines Tochter. Ich sie nannte Jana. Aber ich Angst gehabt, daß Kowarno mich suchen und finden. Und ich geglaubt haben, wenn er finden Jana, er ihr auch wehtun wie ihrem Vater. So ich schweren Herzen haben sie in Flüchtlingslager anonym freigegeben zu Adoption. Du verstehen, Lukas?! Ich haben Töchterchen, aber ich nicht wissen wo! Jetzt Du sicher böse sein mit mir, weil ich nie haben gesagt ein Wort davon?! Jetzt Du sicher mir nicht mehr können vertrauen, oder?! Jetzt Du wohl erst noch einmal überlegen wegen heiraten mich?!". Ängstlich suchten ihre Augen die seinen und fanden sie nachdenklich. Für einen Moment herrschte stilles Schweigen zwischen Biden, dann aber meldete sich Lukas Svensson zu Wort: "Es gibt in der Tat vieles, was ich bisher nicht von Dir wußte. Und es sind nicht gerade Kleinigkeiten, die Du mir da verschwiegen hast: ein Exmann, ein Geliebter und nun auch noch eine Tochter. In einer Beziehung wie der unseren sollte es keine Geheimnisse geben ...". Lukas zog seine streichelnde Hand zurück. Er kramte in seiner Manteltasche nach einem Papiertaschentuch und reichte es Yelena, die damit ihre Tränen trocknete. Svensson selbst aber holte einmal tief Luft und sagte dann: "All das aber, was Du Dir soeben von der Seele geredet hast, liegt in Deiner Vergangenheit. Also Schwamm drüber! Unser Blick sollte sich jetzt auf die Gegenwart und die Zukunft richten - unsere gemeinsame Zukunft. Und in der wirst Du jetzt erst einmal gesund und dann gehen wir alle zusammen auf Schatzsuche, damit sich unser abenteuerlicher Ausflug hierher wenigstens gelohnt hat. Anschließend aber wird ausgiebig Hochzeit gefeiert. Und wenn Du willst, setze ich danach Himmel und Hölle in Bewegung, um Dich und Deine Tochter endlich glücklich wiederzuvereinen. So sieht mein Plan aus! Irgendwelche Einwände von Ihrer Seite, Misses Svensson?!". Als Antwort aber schlang Yelena einfach nur ihre Arme um den Hals ihres geliebten Lukas und übersäte sein lächelndes Antlitz wieder und wieder mit leidenschaftlichen Küssen.

In den folgenden Tagen schritt Yelenas Genesung zügig voran. Und während sie wieder auf die Beine kam, nutzten Lukas und seine Jungs im Flur des Krankenhauses, wo sie sich - so gut es eben ging - wohnlich eingerichtet hatten, jede freie Minute, um sich über die lange, mysteriöse Geschichte des Bernsteinzimmers zu informieren. Timmy fand schließlich auf dem Videoportal Youtube eine fünfteilige Dokumentation darüber, die er sogleich seinen Freunden Derrik und Lukas vorspielte. Mit stolzgeschwellter Brust präsentierte der junge Hackerman dazu nebenher die bereits zuvor von ihm zusammengetragenen Fakten rund um das sagenumwobene Kunstobjekt: "Chef, Inspektor Derrik, hier nun ein kurzer Abriß aus der Geschichte des Bernsteinzimmers. In den Anfangsjahren des 18.Jahrhunderts gab der damalige preußische Monarch Friedrich III., ein Spieler und Verschwender, den Auftrag, die kahlen Wände des sogenannten Tabakskollegiums im Berliner Stadtschloß vollständig mit Bernsteinmosaiken zu verkleiden. An den Kosten, die dieses wahnwitzige Vorhaben verschlang, kollabierte Preußens Staatshaushalt beinahe. Dennoch wurde es innerhalb von mehreren Jahren von namhaften Bernsteinmeistern in die Tat umgesetzt. Erst nach dem Tod Friedrich III. wurde es schließlich fertiggestellt und an dem dafür vorgesehenen Ort installiert. Inzwischen hatte Friedrichs Sohn, der als sparsam bekannte Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. den preußischen Thron bestiegen. Zahlreiche Staatsoberhäupter besuchten den Preußenkönig, unter ihnen 1716 auch der russische Zar Peter der Große, dem das Bernsteinzimmer besonders gefiel. Aus politischem Kalkül schenkte Friedrich Wilhelm I. dem Zaren die komplette Bernsteinvertäfelung. Zum Austausch erhielt er für seine Garde 50 großgewachsene Soldaten, sogenannte "Lange Kerls", und besiegelte mit seiner großzügigen Geste zugleich das Preußisch-Russische Bündnis. In Sankt Petersburg, der Stadt des Zaren, traf das Bernsteinzimmer schließlich unter militärischem Geleit ein und erhielt nach einem Zwischenstop im dortigen Winterpalais 1755 ein wenig südlich im Katharinenpalais seinen Platz. Da die ausgewählte Räumlichkeit dort größer war als der ursprüngliche Raum im Berliner Schloß, ließ der Zar zusätzliche goldene Schnitzereien, auf Elfenbein gemalte Gemälde und 24 venezianische Spiegel als meisterhafte Erweiterung in jenes märchenhaft anmutende Ambiente einbinden. Bei der Belagerung Leningrads, wie Sankt Petersburg nach der Oktoberrevolution hieß, drang die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg auch in die Vororte ein. Das Katarinenpalais geriet dabei zwischen die Fronten. Eine sowjetische Bombe zerriß den großen Saal, der zeitweise auch unter starkem deutschen Beschuß stand. Dennoch blieb - wie durch Wunder - das in seinen Mauern befindliche Bernsteinzimmer unversehrt, und fiel schließlich in die Hände der deutschen Truppen. Als selbsternannter Kunstliebhaber wollte Hitler auch das Bernsteinzimmer heim ins Reich holen. Und so setzte er kurzerhand Ostpreußens als brutal geltenden Gauleiter Erich Koch für dieses Vorhaben ein. Am 14.Oktober 1941 baute die SS innerhalb von 36 Stunden die gesamte Bernsteinvertäfelung ab und transportierte sie per LKW in 24 Kisten - schwerbewacht und als Geheime Reichssache deklariert - ins ostpreußische Königsberg. Dort wurde, da für die komplette Vertäfelung der Platz nicht ausreichte, ein Teil des Zimmers im dritten Stock im Südflügel des Königsberger Schloßes ausgestellt. Fortan unterstand es damit der Obhut von Schloßdirektor Alfred Rohde. Im August 1944 flogen im Zuge des Krieges unsere britischen Bomber zwei Nachtangriffe auf Königsberg. Die Innenstadt und das Schloß brannten fast vollständig aus. Um das Bernsteinzimmer vor der Zerstörung zu schützen, hatte Direktor Rohde die gesamte Vertäfelung erneut in Kisten verpackt und im Keller verstaut. In der Aussage, ob das kostbare Gut den Angriff überstand, widersprachen sich später die Zeitzeugen. Dennoch ist letztlich wohl davon auszugehen. Ende 1944 war das ostpreußische Königsberg schließlich von der Roten Armee eingekesselt und stand nahezu pausenlos unter Beschuß. Am 10.April 1945 gaben die dortigen deutschen Truppen ihren Widerstand schließlich auf. Im Schlepptau der Sowjetarmee trafen auch diverse Geheimdienstagenten und Kunstexperten im Auftrag Stalins in Königsberg ein. Das Bernsteinzimmer fanden sie allerdings nicht vor, es war aus dem Schloß verschwunden, nur noch Ramsch und ein paar Bilder waren geblieben. Alfred Rohde, der nie ein glühender Nazi - aber stets ein diensteifriger Beamter - war, wurde von den Sowjets gefangengehalten und wochenlang verhört. Dabei spielte er immer wieder den Verwirrten, wollte oder konnte das Geheimnis des verschwundenen Schatzes nicht lüften. Angeblich starb er während seiner Haft am 17.Dezember 1945 plötzlich an Typhus. Der Amtsarzt, der den Totenschein ausstellte, verschwand allerdings bereits einen Tag danach spurlos. Rohdes Frau verstarb nur kurze Zeit nach ihrem Mann ebenfalls und wurde neben ihm beigesetzt. Im wenig später nochmals geöffneten Grab Alfred Rohdes fand sich dann jedoch kein Leichnam".

Während Timmy seine Präsentation der Fakten damit beendete, kratzte sich der Ex-Inspektor nachdenklich an der kahlen vorderen Stirnseite: "Mysteriös, die ganze Geschichte um diesen Rohde. Laut Yelena tauchte der verschwundene Tote 1951 unter neuem Namen höchst lebendig in Westdeutschland wieder auf, wo er im Streit den Mann erschoß, der ihm vermutlich zuvor die nötigen Papiere für seine neue Identität Alfred Röder verschafft hatte. Sag mal, Timmy, gibt es von Röder alias Rohde eigentlich auch ein Foto?". Tim Hackerman stoppte mit einem Druck auf das Mousepad seines Laptops den gerade laufenden zweiten Teil der Videodokumentation und deutete gelassen auf den Bildschirm. Auf ihm war das Schwarzweißfoto eines pausbäckigen Mannes mit Brille, Schlips und kurzem, glattgekämmten Haar zu sehen. Svensson runzelte beim Anblick jenes Fotos die Stirn und murmelte: "Also, irgendwoher kenn ich das Gesicht. Ich hab es schon mal gesehen. Wo war das nur?". Etwa eine Minute lang herrschte erwartungsvolles Schweigen. Tim und Derrik rutschten ein wenig nervös auf ihren Stühlen hin und her, während Lukas tief in sich hineinzuschauen schien, als wolle er so die im Unterbewußtsein verkramte Erinnerung an den Mann auf dem Foto mit aller Macht wieder zutage befördern. Tatsächlich glückte ihm schließlich dieses nicht ganz leichte, und dennoch häufig praktizierte Unterfangen. Jubelnd brach es aus ihm heraus: "Heureka, ich habs! Ich denke, ich kenne den Mann von einem alten privaten Foto, das mir mein Onkel Fritz vor ein paar Jahren geschickt hat. Wenn ich mich recht entsinne, stammte es aus der Zeit der Flucht meiner Familie aus Ostpreußen in die Nähe Berlins. Und es zeigte eben diesen Mann neben einem Pferdegespann. Aber genaueres dazu kann uns nur ein einziger Mensch auf dieser Welt erzählen - mein letzter lebender Verwandter in Berlin. Mein Gott, Jungs! Ich faß es nicht! Erst führt uns die Spur des verschollenen Bernsteinzimmers in die Heimat meiner Yelena, dann in meine Geburtsstadt und nun sogar noch in das Land meiner Väter, direkt zu meinem Onkel. Es scheint so, als seien das Schicksal jenes sagenumwobenen Kunstschatzes und das meine untrennbar miteinander verbunden. Ich schlage vor, ihr Zwei trefft schon mal alle Vorbereitungen für unsere Abreise in Richtung deutscher Hauptstadt. Und ich bespreche unser Vorhaben mit Doktor Wussowitsch, denn ohne meine Yelena beweg ich mich hier keinen Zentimeter weit weg!". Derrik und Timmy aber grölten im Überschwang der in ihnen geweckten Vorfreude auf die möglicherweise schon in greifbare Nähe gerückte Entdeckung des prunkvollen Bernsteinzimmers gemeinsam voller Inbrunst: "Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin!".

Schon eine halbe Stunde später waren sämtliche Reisevorbereitungen abgeschlossen. Auch Lukas hatte sein Vier-Augen-Gespräch mit dem Chefarzt beendet und begab sich nun in den großen Park hinter der Klinik, wo seine Yelena im Bademantel einsam auf einer Parkbank saß und der Abendsonne beim Untergehen zuschaute. Der vom Abtauchen des feurigen Himmelskörpers dunkelrot gefärbte Himmel ließ Yelenas makelloses Antlitz in den Augen des herantretenden Lukas regelrecht erglühen. Sie hatte die Arme, unter denen ihr traumhaft geformter Körper im kühler werdenden Abendwind sichtlich zitterte, über der Brust verschränkt. Lukas schlüpfte - ohne lang zu überlegen - aus seinem Trenchcoat und warf ihn über ihre langen, schlanken Beine, die dem kalten Luftzug nahezu schutzlos ausgeliefert waren. Yelenas Augen strahlten ihm dankbar entgegen, während er neben ihr Platz nahm und seinen rechten Arm liebevoll um ihre Schulter legte. Sein Mund neigte sich wie in Zeitlupe ihrem Ohr zu, und schließlich hauchte er: "Liebes, ich würde Dir gern jemanden vorstellen - jemanden aus meiner Familie: den Bruder meiner Mutter, meinen Onkel Fritz Salomon. Mit Doktor Wussowitsch hab ich schon gesprochen, und er hat bei Deinen enormen Genesungsfortschritten in den letzten Tagen absolut nichts einzuwenden gegen eine vorzeitige Entlassung". Yelena strahlte nun übers ganze Gesicht: "Das sein ja wundervoll! Onkel Fritz, Du doch erzählt, er leben in deutsches Hauptstadt, oder?! Das heißen, wir Beide jetzt reisen nach Berlin? Du mir zeigen, wo Du als kleines Kind aufgewachsen?". Lukas schaute ihr tief in die funkelnden Augen und nickte eifrig: "Ganz recht, mein Schatz! Zum einen ist es eh längst an der Zeit, daß mein Onkel Dich kennenlernt. Und zum anderen führt zu ihm - meiner Ansicht nach - auch die verlorene Spur jenes Alfred Rohde und des mit ihm nach dem Krieg verschollenen Bernsteinzimmers". Yelena war für einen Moment völlig sprachlos. Und Lukas nutzte diesen Umstand schamlos aus, um seine Lippen einmal mehr mit den ihren zu vereinen.

Einige Minuten vergingen, dann löste Yelena den innigen Kuß. Sie hob ihren Körper mitsamt dem ein wenig hochgerafften Bademantel und dem auf ihren Oberschenkeln ruhenden Trenchcoat leicht an und ließ sich dann ganz sanft auf Lukas' Schoß nieder. Ihren Rücken preßte sie dabei vorsichtig an seine Brust. Die Beine spreizte sie etwas, so daß ihre zarten, makellosen Unterschenkel unter dem Deckmantel des Trenchcoats die seinen, dicht behaarten fest umschlossen. Und während die beiden Hälften ihres Gesäßes wie in Zeitlupe auf seinen muskulösen Oberschenkeln zu ruhen kamen, spürte sie plötzlich ganz deutlich, wie sehr sie ihm doch gefehlt hatte und wie groß seine Freude war, ihr endlich wieder so unendlich nah sein zu dürfen. Durch die stofflichen Hüllen ihres geliebten Lukas hindurch konnte sie nämlich ein wildes, ungestümes Pochen vernehmen - das Pochen seines Herzens, welches gleichsam bei ihr anklopfte und sie dabei anzuflehen schien, eindringen und sich in ungezügelter Leidenschaft mit dem ihren vereinen zu dürfen. Sie schloß ihre Augen und fühlte in ihrem Innern eine wohlige Wärme aufsteigen, die sie die Kühle des sie umgebenden abendlichen Windhauchs sofort vergessen ließ. Die Innenfläche von Lukas' rechter Hand glitt unterdess seitlich unter ihren Bademantel und umschloß die - vom dünnen Krankenhausnachthemd nur schwach bedeckte - linke Brust, so daß nun auch er das stürmische Pochen ihres Herzens erfühlen konnte. Seine linke Hand aber bahnte sich fast zeitgleich vorsichtig den Weg unter den Regenmantel und streichelte dort sanft ihr Knie. Dabei hauchte er ihr ins Ohr: "Wie sehr haben mir doch Deine Zärtlichkeit und Deine Leidenschaft gefehlt, Liebes!". Und während er noch so sprach, gingen seine beiden unternehmungslustigen Hände an ihren Oberschenkelinnenseiten bereits auf Wanderschaft aus. Yelenas erregter Leib bäumte sich auf, und ihre Hände stützten sich auf seinen Oberschenkeln ab, wobei Zeigefinger und Daumen der rechten Hand wie zufällig am Reißverschluß von Lukas' Hose herumzunesteln begannen. Ihr Hinterteil aber vollführte im gleichen Atemzug äußerst geschickt leicht kreisende Bewegungen auf seinem Schoß, unter denen der Saum ihres Nachthemdchens sich Millimeter um Millimeter immer mehr nach oben zu schieben begann. Und während die Sonne einen Augenblick später hinterm Horizont versank, konnte man im Abendrot auf jener Bank - untrennbar miteinander verschmolzen - die Silhouetten eines Mannes und einer Frau beobachten. Wenn man den Beiden aus der Ferne eine Weile lang zuschaute, glaubte man dabei zu erkennen, wie sich die Silhouette der Frau auf der des Mannes unter ihr immer wieder langsam sanft auf und ab bewegte. Jenes wortlose Schauspiel der beiden Liebenden dauerte so noch eine kleine Ewigkeit an. Erst als am inzwischen dunkelblau gefärbten Nachthimmel die ersten Sterne auftauchten, endete es schließlich. Yelena aber, die kurz darauf als Erste schwer atmend die Sprache wiederfand, seufzte überglücklich: "Was für ein herrliches Höhepunkt und Abschluß für dieses wundervolles Tag" ...

Auch im fernen London neigte sich am Ufer der Themse der Tag langsam seinem Ende entgegen. Die Sonne stand hier noch ein wenig höher und hatte damit einen fabelhaften Blick auf jenen Yachthafen, auf dessen langem Anlegesteg Harold Freakadelly momentan zielstrebig voranschritt. Vor einem großen weißen Segelboot mit der Aufschrift "Simone" hielt er abrupt inne. Dann zog er vorsichtig seine schwarzen Lackschuhe aus und betrat mit einem beherzten Sprung über die Reeling auf Strümpfen das pikfeine Deck des Bootes. Charles Wannabe hatte ihn - als Antwort auf seine telefonische Bitte um ein klärendes Gespräch - per SMS von seinem Handy aus vor einer halben Stunde hier her bestellt. Er schrieb in seiner Kurznachricht, er könne seinem Schwiegervater alles plausibel erklären. Und Harold war bereits sehr auf diese Erklärung gespannt. Auf leisen Sohlen begab sich Freakdelly zur Kajüte. Er schritt bedächtig die enge Holztreppe hinab und fand das Innere des Bootes völlig menschenleer vor. Was sollte dieser Blödsinn? Wollte ihn Wannabe zum Narren halten? Sichtlich erzürnt machte Freakadelly auf dem Hacken kehrt. Als er beim Verlassen der Kajüte in die Abendsonne blinzelte, kreuzte plötzlich ein menschlicher Schatten seinen Weg, und jemand schlug ihm mit voller Wucht die gebeizte Holztür vor dem Kopf zu. Harold Freakdelly strauchelte, stürzte auf der steilen Treppe nach hinten und schlug im Kajüteninnern mit dem Hinterkopf unsanft auf dem Boden auf, wobei er sogleich das Bewußtsein verlor. Als er langsam wieder zu sich kam, vernahm er über sich vom Deck her eine ihm wohlvertraute Stimme: "Was mußtest Du alter Dummkopf Deine elende Schnüfflernase auch in Sachen stecken, die eine ganze Nummer zu groß für Dich sind?! Bist selber schuld, wenn Dich das jetzt Dein Leben kostet! Leb wohl!". Freakedelly hörte, wie die Kajütentür verriegelt wurde. Schritte entfernten sich langsam. Alles was blieb, war das Brummen in seinem Schädel. Nur wie von Ferne vernahmen seine Ohren das leise Plätschern des Themsewassers gegen die Schiffsaußenwände und ein schwaches Ticken ... Tick-tack, tick-tack ... Harolds benebelter Verstand war mit einem Male wieder hellwach. Oh Gott, woher kam dieses Ticken? Er schaute sich um und entdeckte in einer Ecke der Kajüte ein zusammengeschnürtes Bündel Dynamitstangen, an dem mit zwei Drähten eine Art digitaler Kurzzeitwecker als Zeitzünder befestigt zu sein schien. Ganz klar: Das war eine Bombe! Er versuchte, sich aufzurichten. Doch in seinem Rücken machte es knack, und ein stechender Schmerz riß ihn sofort wieder zu Boden. Langsam kroch er unter grausamen Qualen auf den Sprengkörper zu. Seine Stirn war schweißgebadet, während er sich dem teuflischen Ticken mühevoll Zentimeter um Zentimeter näherte. Schließlich erhaschten seine Augen einen kurzen Blick auf das Display des unheilvollen Weckers ... 0:07 ... Panik überkam ihn, doch nur für einen kurzen Moment. Dann siegte in ihm die bittere Erkenntnis der Ausweglosigkeit seiner Lage. Harold Freakdelly schloß die Augen und begann, bitterlich zu weinen. Verzweifelt rief er in die tödliche Stille des Bootes - welches sich anschickte, ihm zum schwimmenden Sarg zu werden - hinein: "Wie konntest Du mir das nur antun? Gerade Du?" ... Mit einem riesigen Knall explodierte die Yacht "Simone" im Londoner Hafen und verteilte sich in Milliarden kleiner und großer Bruchstücke über die Wasseroberfläche und den angrenzenden Bootssteg. Mit den Wrackteilen aber nahm das Themsewasser im blutroten Schein der untergehenden Sonne auch Besitz von den nahezu ebenso zahlreichen sterblichen Überresten des ermordeten Chiefsuperintendents von New Scotland Yard ...

EPISODE 18: AUF GROSSER ENTDECKUNGSREISE

In der schwachen Mittagssonne bewegte sich der weiße Trabant mit dem orangefarbenen Dach und seinen vier Insassen in gemächlichem Tempo über den stark angeschlagenen Asphalt einer endlos erscheinenden polnischen Landstraße hinweg gen Westen. Sichtlich konzentriert nach vorn schauend lenkte Derrik Crawler das antike Gefährt von einem Schlagloch zum nächsten. Tim Hackerman, der neben ihm auf dem Beifahrersitz hockte, knirschte dabei in unregelmäßigen Abständen mit den Zähnen. Schließlich platzierte er beide Handflächen vorsichtig unter seinem - bei der holprigen Fahrweise - ständig auf und ab hüpfenden Hinterteil und fauchte den Mann am Steuer ärgerlich an: "Kannst Du nicht ein wenig vorsichtiger fahren! Ich krieg von der Wackelei noch lauter blaue Flecken am Po". In diesem Moment meldete sich von der Rücksitzbank her auch Yelena ganz aufgeregt zu Wort: "Vorsichtiger?! Schneller er soll machen, wir sonst noch werden überholt von Schnecke und niemals kommen an in deutsches Hauptstadt". Derrik rollte bei diesen Worten seiner Fahrgäste nur mit den Augen und schüttelte ein wenig genervt den Kopf. Dann holte er einmal tief Luft und murmelte: "Vorsichtiger?! Schneller?! Ich fahr, so gut ich kann! Diese Straße ist nunmal eine echte Katastrophe. Und außerdem ist da vorn schon die polnisch-deutsche Grenze. Da muß ich dann ja eh Schrittempo fahren. Wenn wir Glück haben, werden wir vielleicht einfach durchgewunken. Aber wenn nicht, wenn der Grenzbeamte uns zu Kontrollzwecken rauswinkt, dann haben wir in Kürze eh alle Zeit der Welt". Lukas Svensson hatte - neben seiner Yelena hockend - bis jetzt mucksmäuschenstill dagesessen und aus dem Autofenster heraus die Schönheit der ländlichen Idylle um sich herum bestaunt. Nun aber sah er zu seinem Erstaunen mit einem Male gleich drei Augenpaare auf sich gerichtet, wobei Derriks Augen dabei - um die Straße vor sich nicht aus dem Blick zu verlieren - den Umweg über den Rückspiegel wählten. Yelena buffte ihrem zukünftigen Gemahl zusätzlich mit dem Ellenboden in die Seite, so daß er sich nun - quasi von allen Seiten bedrängt - ebenfalls zu einer Reaktion auf Derriks umstrittene Fahrweise genötigt sah. Seelenruhig begann er also, abwechselnd auf Yelena, Timmy und Derrik schauend: "Ich weiß gar nicht, was Ihr habt. Wenn ich den Worten meines Vaters Glauben schenken darf, dann bin ich vor nunmehr etwa 65 Jahren die gleiche Strecke deutlich umbequemer und auch langsamer gereist. Zum Glück fehlt mir selbst daran jede Erinnerung, aber ich glaube kaum, daß es für einen knapp Einjährigen ein Vergnügen darstellt, bei Wind und Wetter auf Stroh gebettet und in eine Wolldecke gehüllt auf einem Pferdewagen hunderte Kilometer zurückzulegen". Yelena entschuldigte sich daraufhin kleinlaut für ihre Ungeduld: "Du recht haben, Liebes! Es mir leidtun, Derrik, daß ich haben Sie antreiben wollen. Sie seien Pilot von Auto, und Sie am besten wissen, wie man bringen dieses lautes Pappkarton von A nach B". Timmy aber verschränkte sichtlich verärgert die - inzwischen wieder zu Tage beförderten - Arme vor seiner Brust: "Von wegen: Pilot von Auto! Der komische Autopilot gurkt hier auf Sparflamme zielsicher von Krater zu Krater. Und als Ausrede für seine Lahmarschigkeit fällt Mister Perfekt nichts besseres ein, als daß wir sonst von einem Grenzer gefilzt werden könnten. Wie kommst Du olle Pappnase eigentlich darauf? Schließlich gab es an der russisch-polnischen Grenze für uns doch auch keine größeren Schwierigkeiten, oder?!". Gelassen klopfte Derrik mit den Fingern auf den braunen Kunstlederbezug des Lenkrades und sprach: "Ja, aber auch nur, weil Lukas beim Vorzeigen unserer Pässe in den seinen, schwerlich zu übersehen, eine 50-Pfund-Note eingelegt hatte, die nach dem Kontrollieren unserer Reisedokumente dann auf mysteriöse Weise verschwunden war. Ich fürchte allerdings, liebster Timothy, die polnischen Beamten sind nach dem Beitritt ihres Landes zur EU mit solch umstrittenen Methoden weit weniger zu beeindrucken als ihre östlichen Nachbarn. Und deshalb verhalte ich mich lieber möglichst unauffällig, weil ich mich ungern mit den beiden bei Kowarno erbeuteten russischen Handgranaten im Anorak einer Leibesvisitation unterziehen würde, weißt Du? Das bringt einen nämlich so leicht in Erklärungsnotstand, genau wie der Revolver und die zugehörigen Patronen in Lukas Mantelinnentasche oder die abgefeuerte Pistole in Deiner Jacke". Derrik konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen, und auch Lukas und Yelena mußten auf ihren Sitzplätzen über den Scharfsinn und die Abgebrühtheit ihres Chauffeurs schmunzeln. Nur Timmy zog einen Flunsch und schwieg, während der jetzt an der Fensterscheibe neben ihm auftauchende uniformierte Pole mit der - vor die Brust geschnallten - Kalaschnikow mit einem freundlichen Lächeln den Schlagbaum öffnete und das vierköpfige Svenssongespann in seiner Rennpappe unbehelligt passieren ließ.

Auch die deutsche Grenzkontrolle hatten sie ein paar Minuten später völlig problemlos hinter sich gelassen. Auf den deutlich besseren ostdeutschen Bundesstraßen gewann nun auch der von Derrik fachmännisch gelenkte Trabi schnell an Fahrt, erst recht, als es unmittelbar nach der Durchfahrt durch Frankfurt/Oder auf die Autobahn ging. Auch hier beäugte Lukas durch das Autofenster hindurch die an ihm vorbeifliegenden Landschaften. Immer wieder erhaschte er dabei kurze Blicke auf große Fabriken mit rauchenden Schornsteinen und auf Felder mit erntereifem Getreide sowie sanftige Weideflächen mit kleinen und großen Viehherden, die darauf grasten. Anerkennend lächelte er, und schließlich brach es geradezu euphorisch aus ihm heraus: "Ist das nicht einfach herrlich, Leute! Als ich als kleiner Junge dieses Land mit meinen Eltern gemeinsam in Richtung London verlassen hab, da war hier noch alles im Aufbau. Mein Vaterland war bereits deutlich sichtbar zweigeteilt, selbst wenn die Trennung damals noch nicht durch eine schier unüberwindbare Mauer besiegelt war. Auch wenn Ost und West die eine deutsche Muttersprache verband, so prallten dennoch diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs auf deutschem Boden zwei gänzlich unvereinbare Welten aufeinander. Dann hat die DDR ihr Volk einfach eingemauert und diese millionenfache Gefangennahme großspurig als Sieg des Sozialismus verkauft. Die Ostdeutschen aber haben es über die Jahre hinweg geschafft, mit ihrer schwierigen Lage irgendwie zu arrangieren, ohne dabei je den Traum von Freiheit ganz aus den Augen zu verlieren. Und als die Knechtschaft zu groß wurde, da sind sie auf die Barrikaden gegangen und haben mit ihrem Protest eine friedliche Revolution losgetreten, die sie ohne größeres Blutvergießen quasi über Nacht von ihren Ketten und letztlich auch von der sie umgebenden Mauer befreit hat. Gemeinsam mit ihren westdeutschen Landsleuten haben sie sich auf den beschwerlichen Weg gemacht, ein neues und besseres Deutschland zu schaffen. Ja, meine Lieben, ich bewundere dieses Volk! Auferstanden aus Ruinen hat es sich im mühevollen Streben um Einigkeit und Recht und Freiheit der Zukunft zugewandt. Was für ein Land, was für ein Volk?!". Und während Yelena und Timmy, die den Ausführungen des sichtlich gerührten Ex-Inspektors aufmerksam gelauscht hatten, nun einhellig nickten, schüttelte Derrik - sich krampfhaft mit einer Hand am Lenkrad festhaltend und mit der anderen nervös die Hupe betätigend - nur immer wieder den Kopf und raunte: "Was für eine Blechlawine, was für ein Verkehr?!". Wenige Stunden später sahen sie endlich das blaue Hinweisschild mit der Aufschrift "Berliner Ring" vor sich. Und nachdem sie sich auf einer nahegelegenen Raststätte zuvor bereits bei einem ortskundigen Trucker über die genaue Route informiert hatten, dauerte es von da an keine dreißig Minuten mehr, bis sie im Ostteil der Stadt die Schönhauser Allee erreichten: Hier ließen Derrik und seine Fahrgäste ihre Benzinkutsche nach kurzer, intensiver Parkplatzsuche einfach in einer Seitenstraße stehen, und gingen nun zu Fuß weiter. Lukas Svensson wußte glücklicherweise ganz genau, unter welcher Adresse er seinen Onkel Fritz suchen sollte. Schließlich hatten sich die Beiden nach jahrelanger, durch die DDR-Behörden verordneter Funkstille kurz nach der Wende wieder zu schreiben begonnen. Onkel Fritz hatte damals den Aufenthaltsort seines Neffen durch eine Anfrage bei der Britischen Botschaft in Berlin ausfindig machen können und ihm einen langen Brief geschickt. Lukas hatte mit einem ebensolangen Schreiben geantwortet, und seitdem machten sich mindestens zweimal pro Jahr Postsendungen an den jeweils anderen auf die Reise. Zu Weihnachten aber schickte Onkel Fritz stets einen Marzipanstollen, während er im Gegenzug eine gute Flasche Scotch erhielt.

Lukas hatte derweil mit seinen Begleitern die Hauptstraße überquert und fragte nun - mit dem Adressbuch in der Hand - eine Passantin nach dem Weg. Die junge Frau fuchtelte ein paar Mal wild mit den Armen, dann bedankte sich der Ex-Inspektor bei ihr, und die Vier setzten den Fußmarsch fort. Vor einem hohen Mietshaus, ganz in der Nähe einer alten Backsteinkirche, stoppte Svensson seine Schritte. Er überflog eilig die Namensschilder am Eingang, bis er unter ihnen den Schriftzug "F.Salomon" entdeckte. Lukas betätigte aufgeregt den zugehörigen Klingelknopf, und schon Sekunden später tönte die tiefe Baßstimme eines alten Mannes aus dem Lautsprecher der Wechselsprechanlage: "Ja, wer ist denn da?". Svensson räusperte sich und erwiderte dann: "Ich bins, Onkel, Dein Neffe Lukas ... Lukas Svensson!". Am anderen Ende war es eine Sekunde lang still, dann meldete sich - völlig außer sich - die Baßstimme zurück: "Das gibts ja nicht! Lukas, Du! Na, das ist ja eine feine Überraschung, Du Lauser! Komm rein!". Es surrte kurz. Lukas drückte die gußeiserne Türklinke nach unten, und die Haustür sprang knarrend auf. Im Hausflur roch es nach einer Mischung aus frischer Farbe und Schweinebraten. Die Stufen der nach oben führenden Holztreppe quietschten und ächzten unter den Schritten der vier unerwarteten Besucher. Im zweiten Stock lugte schließlich ein kahlköpfiger Mann mit faltiger Stirn und großen, leuchtenden Augen aus seiner Wohnungstür. Er sprang mit einem Satz auf den eintreffenden Svensson zu und drückte ihn ohne Umschweife so fest an sich, daß dem Ex-Inspektor fast die Luft wegblieb. Erst nach einer halben Ewigkeit entließ der ältere Herr sein überraschtes Opfer wieder aus der Umklammerung und musterte Svensson von oben bis unten. Dabei raunte seine Reibeisenstimme: "Groß biste geworden, mein lieber Schwan! Ick seh Dir immer noch mit den anderen Lausejungens aus der Nachbarschaft auf der Straße Räuber und Gendarm spielen. Und Du warst immer der Gendarm und hast alle Räuber zu fassen gekriegt, egal wo sie sich auch immer vor Deinem Zugriff versteckt hatten. Mensch Junge, wie schnell doch die Zeit vergangen ist! Nun siehste ganz schön alt aus und könntest glatt als mein Bruder durchgehn. Aber vielleicht entsteht der Eindruck auch nur, weil Du Dich mit so jungen Damen und Herren umgeben tust?! Willste mir die drei Jugendfreunde in Deinem Schlepptau nicht mal langsam vorstellen, Lucky Luke?!". Svensson, der erst allmählich wieder zu Puste kam, nickte kurz und eröffnete dann die Begrüßungsrunde: "Also, die jungen Männer heißen Tim und ...". Onkel Fritz fiel seinem Neffen ins Wort: "Struppi, wa?! Angenehm! Hast aber auch eine ganz schön zerzauste Mähne, Struwelpeter!". Damit ließ er seine rauhen Finger durch Derriks Haar fahren. Der entzog sich dem Zugriff des stürmischen Rentners, und strich seine Haarpracht wieder notdürftig glatt. Und während Lukas nun begann, das sprachliche Hin und Her zwischen berlinerisch angehauchtem Deutsch und klassischem Englisch möglichst simultan zu dolmetschen, streckte Derrik dem alten Mann ein wenig verunsichert die Hand entgegen: "Crawler heiße ich, Derrik Crawler, wenn es recht ist?! Und ich nehme an, ich habe die Ehre mit Herrn Salomon?! Fritz Salomon, wenn ich mich recht entsinne?!". Der Onkel schüttelte sowohl die Hand des Jünglings als - bei der promten, recht wortgetreuen Übersetzung seines Neffen - auch seinen eigenen Kopf: "Man, wo haste denn den feinen Pinkel aufgegabelt. Hat die Ehre und entsinnt sich recht! Den Krauler und das Salomon kannste gleich stecken lassen, Bürschchen. Ick bin der Fritz, und Du bist also der Rick!". Crawler schüttelte ein wenig eingeschnappt den Kopf: "Nicht der Rick, Derrik!". Aber Onkel Fritz winkte nur müde ab: "Na meinetwegen auch Derrick. Klingt zwar wie so ein Kriminaler aus der Flimmerkiste, aber wenn es Dir glücklich machen tut. Was mir jetzt viel mehr interessiert, ist, wer die scharfe Braut da ist, die sich im Rücken von Dir und Tiny-Tim verstecken tut. Komm ruhig näher, Mädchen, ick beiße nich! Außer man tut mir ganz lieb drum bitten!". Yelena drängelte ein wenig verlegen sich zwischen Tim und Derrik durch, während Lukas sie seinem Onkel bereits vorzustellen begann: "Das ist sie ... meine Yelena, von der ich Dir schon im letzten Brief geschrieben hab. Die Frau, die in Kürze meine Frau werden soll!". Onkel Fritz hatte inzwischen Yelenas zittrige Hand ergriffen und schüttelte sie, daß der gesamte an ihr befindliche Frauenkörper vibrierte. Dazu säuselte er: "Na, Menschenskinder! Was für ein Zuckerschneckchen! Lucky Luke, ick sehe, Du verstehst nich nur was von 1A Scotch, sondern auch von ausgesprochen schnuckligen Frauen! Na, genug Süßholz geraspelt fürs Erste. Und nun mal nischt wie rein in die gute Stube" ...

Am Holztisch in der kleinen Küchennische von Onkel Fritz' Zweizimmerwohnung kam man bei Malzkaffee und Kuchen rasch ins Gespräch. Das merkwürdige Getränk, welches Fritz - zur Belustigung seiner englischsprachigen Gäste - immer wieder als Muckefuck anpries, war mit seinem bitteren Geschmack und dem pelzigen Gefühl, welches sein Erstgenuß auf der Zunge hinterließ, sicher ein wenig gewöhnungsbedürftig. Aber mit einem Stück puddinggefüllten Liebesknochen ließ sich das schnell wieder ausgleichen. Lukas erzählte seinem Onkel von der abenteuerlichen Reise und von den Spuren des verschollenen Bernsteinzimmers, welche allesamt immer wieder bei einem Mann namens Röder alias Rohde zusammenzulaufen schienen. Er bat Timmy, seinem Onkel einmal das Bild des Mannes zu zeigen. Sein Schützling klappte den Laptop auf und präsentierte innerhalb weniger Sekunden den entsprechenden Bildschirmausdruck. Onkel Fritz angelte seine Brille vom Küchenschrank und starrte einige Sekunden gebannt auf den Monitor. Dann nickte er und sprach: "Und ob ick die Visage kenne! Aber der Kerl heißt weder Röder noch Rohde, der hieß Klops und den haben schon anno 1947 die Würmer zu fressen angefangen!". Damit lief er aufgeregt in seine kleine Wohnstube, von wo er wenige Minuten später mit einem dicken alten Fotoalbum in Händen zurückkehrte. Er schlug eine der mittleren Seiten auf und deutete mit dem Zeigefinger auf eine vergilbte Schwarz-Weiß-Fotografie, die ein Pferdegespann zeigte, neben dem ein Mann in Arbeitskluft lief. Das Gesicht des Mannes auf dem Foto ähnelte dem des Alfred Rohde wie ein Ei dem anderen. Auf dem im Album eingeklebten Foto aber stand am weißgezackten Bildrand in einer merkwürdig verschnörkelten Schreibschrift etwas, was Lukas beim besten Willen nicht entziffern konnte. Und so bat er seinen Onkel, ihm den handschriftlichen Vermerk vorzulesen. Fritz Salomon aber meinte nur lachend: "Ach das ist nichts. Nur eine Widmung in Sütterlin, altdeutscher Schreibschrift eben: Zur Erinnerung an Fredy Klops für Stutenfriedel. Klops hat mich immer so genannt, weil ich ja eigentlich Friedrich heiße und mal ein Gestüt hatte". Dem Svenssonvierer standen durchgehend die Münder offen. Da fragten sie sich schon seit der Entdeckung der blutigen Bildinschrift, was es mit diesem merkwürdigen Stutenfriedel auf sich habe, und dann saßen sie ihm hier in einer kleinen, unscheinbaren Berliner Mietswohnung plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Fritz nahm derweil wieder Platz und begann nichtsahnend zu erzählen: "Mal nachdenken: Mein erstes Zusammentreffen mit diesem Klops?! Also, das muß Ende Januar 1946 gewesen sein. Deine Eltern, ick und meine Minna - Gott hab sie selig - hausten damals schon ein paar Monate lang in einer alten Scheune in dem kleinen Dorf Beetz nordöstlich von hier. Eines Abends traf so ein maulfauler Kerl in Begleitung von zwei jüngeren Burschen mitsamt drei großen Pferdewagen ein. Auf jedem der Wagen aber lagen zwei große, schwere Kisten - fortlaufend durchnummeriert. Und überall waren Adolfs Pleitegeier sowie die Schriftzüge "Geheime Reichssache" und "BSZ" draufgestempelt. Der Schweigsame hatte die merkwürdige Ladung zwar notdürftig mit Dachpappe abgedeckt, aber was meinereiner war, den machte die Geheimnistuerei des Neuen natürlich erst recht neugierig. Wie ick den Typ darauf ansprach, wurde der richtig wütend und drohte mich Prügel an. Das hab ick mir nich zweimal sagen lassen und hab ihm dermaßen das Fell versohlt, daß er tagelang kaum kriechen konnte. Mein Mut und meine Schlagfertigkeit müssen dem Spinner irgendwie imponiert haben. Jedenfalls hat er sich mir als Fredy Klops aus Königsberg vorgestellt. Ick hab ihm erzählt, daß ick bis zu meiner Flucht einen Kilometer außerhalb von Königsberg ein Gestüt hatte, worauf er mir anvertraute, daß er in ein paar Tagen vorhätte, weiterzuziehen in die Reichshauptstadt. Und er könne nach dem Ausfall eines seiner Begleiter noch einen zuverlässigen, kampferprobten Burschen wie mich brauchen. Da ick auch selber schon mit dem Gedanken gespielt hatte, nach Berlin überzusiedeln, um da mein Glück zu versuchen, schlug ick ein. Zwei Tage später sind wir vorm ersten Hahneschrei in der Dämmerung losgezogen. Im Kremmener Luch - einem nahegelegenen sumpfigen Landstrich - schlossen sich uns 8 weitere jungsche Kerls mit nochmals 9 Pferdewagen im Schlepp an. Gemeinsam zogen wir in einem fünftägigen Gewaltmarsch bis an die Berliner Stadtgrenze. Hier erst weihte mir Klops in seinen Plan ein. Er behauptete, in den insgesamt 24 schweren Holzkisten auf den 12 Pferdewagen befinde sich ein extrem gefährlicher chemischer Kampfstoff - eine Art neue Wunderwaffe des Führers, hergestellt Ende 1944 im sogenannten Bayrischen Seuchen-Zentrum BSZ, einer getarnten Giftgas-Forschungsanlage. Das tödliche Zeugs dürfe weder den Russen oder den Amis, noch den Tommys - ganz zu schweigen von den Franzmännern - in die Hände fallen, und müsse daher unbedingt für alle Zeiten unauffindbar verschwinden. Klops behauptete weiter, er kenne im Herzen Berlins - unter dem Stadtschloß - eine Art unterirdische Höhle, die über einen U-Bahn-Nebenschacht vom Bahnhof Hausvogteiplatz aus zu betreten sei. Bei Nacht und Nebel setzten wir uns mit den Wagen in Richtung Stadtmitte in Bewegung. Wir mußten dabei äußerst vorsichtig sein, um keiner alliierten Streife ins Netz zu gehen. Gegen 3 Uhr morgens waren wir am U-Bahnhof angelangt und begannen, die Kisten durch das Labyrinth unterirdischer Gänge an den vorgesehenen Bestimmungsort zu schaffen. Die verfluchten Kisten waren so schwer, daß man sie mit jeweils 3 Mann schleppen und unterwegs ständig absetzen mußte. So dauerte die ganze Aktion - trotz unseres ununterbrochenem Rein und Raus - bis gegen 5.45 Uhr in der Früh. Klops ließ uns anschließend alle 11 im Schacht neben der Höhle antreten und verteilte Schnaps. Apropos Schnaps, meine Lieben ...".

Mit diesen Worten griff Onkel Fritz zur Verwunderung seiner Besucher zu einer auf dem Küchenschrank stehenden Flasche mit Klarem und fischte dazu fünf Gläser aus dem Regal. Dem Brotkasten entlockte er außerdem vier Bierflaschen, die er mit geübter Hand mittels Flaschenöffner von ihren Kronkorken befreite. Und Yelena zuzwinkernd meinte er: "Für die Dame hab ick da noch ganz was Edles in petto. Für so wichtige Anlässe wie den hier wartet nämlich im Kühlschrank noch eine halbe Pulle Rosenthaler Kadarka, ein ganz ein lieblicher Roter". Dazu stellte er ihr freudestrahlend ein Sektglas vor die Nase. Und während Yelena den edlen Tropfen samt Weinflasche seinem eisigen Gefängnis entriß, baute der Hausherr vor Lukas, Tim und Derrik je eine enthauptete Bierflasche und ein Schapsglas auf, welches er zuvor randvoll mit 40 prozentigem Inhalt befüllte. Dann rieb er sich die Hände und meinte: "Für jeden der Herren eine Molle und ein Korn, wie es sich gehören tut! Und für die Dame einen Rebensaft, teure Yelena. In diesem Sinne: Prost allerseits! Zum Wohl! Cherio und Na zdarowje!". Yelena nippte vorsichtig an ihren Eiswein, während Fritz, Lukas und Tim erst ihre Schnapsgläser leerten, um sich dann dem zimmertemperierten Bier zuzuwenden. Nur Derrik machte ein angeekeltes Gesicht, während seine Nase allein beim Anblick des Alkohols wild zu zucken begann. Er schob sein Schapsglas von sich weg, was dem aufmerksamen Gastgeber natürlich nicht lange verborgen blieb. Onkel Fritz blickte ein wenig mürrisch auf den Abtrünnigen, der aber fand flugs eine Ausrede für seine deutlich zur Schau gestellte Abstinenz: "Ich muß noch fahren, Fritz. Wir sind nämlich mit dem Auto hier!". Tim Hackerman zwinkerte Onkel Fritz zu und berichtigte: "Nun, Auto ist wohl etwas übertrieben. Was Derrik - der übrigens keine Promille verträgt - meinte, ist unsere zweifarbige Pappschachtel auf vier Rädern". Onkel Fritz verstand die etwas abfällige Andeutung des Svensson-Schützlings: "Oh, junger Freund, nischt gegen den guten ollen Trabi. Noch bis vor wenigen Jahren nannte ick selber einen himmelblauen Ableger jener ostdeutschen Erfolgsreihe mein Eigen. Was hingegen unseren anonymen Antialkoholiker angeht: Da ist auch noch eine Milch im Kühlschrank, sogar fettarm, wenns beliebt! Den Trabi kannst Du aber trotzdem stehen lassen, in unserer kleinen Weltstadt kommt man mit Bus und Bahn nämlich eh schneller zum Ziel. Apropos Ziel! Da fällt mir ein, ick war ja mit meiner Geschichte vorhin noch gar nich am Ende angelangt: Der Klops hatte uns also alle versammelt, als er mir plötzlich aus heiterem Himmel befahl, schonmal vorzugehen und am U-Bahneingang nach dem Rechten zu sehen. Schließlich wolle er nicht, daß die bisher so glatt verlaufene Aktion noch 5 vor 12 daran scheitere, daß man uns beim Verlassen des U-Bahnhofs erwischt. Auch wenn ick den Sinn nich wirklich kapierte, tat ick, wie mir geheißen und stand draußen Schmiere. Es waren etwa 5 Minuten vergangen. Auf dem Platz rund um den U-Bahneingang herum war weit und breit keene Menschenseele zu sehn. Ick wollte also wieder zurück in den U-Bahnhof, als ein gewaltiger Rumms die Erde erbeben ließ. Kurz danach gab es noch einen zweiten Knall. Aus dem U-Bahnschacht aber stiegen vom selben Moment an minutenlang dicke Staubwolken hoch. Als sich die staubigen Nebel lichteten, bin ick wieder runter in den Bahnhof. Aber der Zugang zum Nebenschacht war komplett verschüttet. Ick hab noch eine halbe Ewigkeit nach Klops und den andern gerufen, ohne daß irgendwas zu hören war. Als ick wieder nach oben kam, war es schon taghell draußen. Am nächsten Tag bin ick zur Alliierten Stadtverwaltung gegangen und hab Fredy Klops und meine 10 Mitstreiter, deren Nachnamen ick nich mal kannte, als vermißt gemeldet. Ende der fuffziger Jahre bekam ick dann Nachricht, daß Klops nie wieder aufgetaucht sei und deshalb von Amts wegen mit Stempel und Unterschrift für tot erklärt würde. Aus die Maus!". Lukas nickte: "Und damit schließt sich die Lücke. Fredy Klops alias Alfred Rohde, der nach seinem vorgetäuschten Tod Ende 1945 mitsamt den Bernsteinzimmerkisten von Königsberg in Richtung Westen aufbrach, inszenierte nach dem Verstecken seines geliebten Schatzes seinen Tod, um wenig später mit neuen Papieren als Alfred Röder im Westen Deutschlands putzmunter wieder aufzutauchen. Vermutlich wollte er warten, bis Gras über die Sache mit dem verschwundenen Bernsteinzimmer gewachsen war, um die Kisten dann wieder aus dem Versteck zu holen. Leider kam ihm dabei aber die Sache mit der Tötung Falschmüntzers dazwischen. Er geriet ins Gefängnis und verstarb dort. Um sein Geheimnis nicht mit ins Grab zu nehmen, hinterließ er mit seinem Blut auf dem Bild seines Zellengenossen den Namen des einzigen noch lebenden Mitwissers um das Versteck des Bernsteinzimmers - Stutenfriedel aus Königsberg. Verstehst Du, Onkelchen, Du bist der Schlüssel zum Bernsteinzimmer. Und in den 24 geheimnisvollen Kisten mit der Aufschrift BSZ ist nichts anderes als die komplette Bernsteinvertäfelung enthalten. Also, worauf warten wir noch?! Laßt uns endlich aufbrechen und den Schatz heben!".

Timmy holte in diesem Moment aufgeregt sein Handy aus der Tasche und gab zu bedenken: "Ist es nicht an der Zeit, daß wir Mister Freakadelly in unsere Erkenntnisse einweihen. Wenn wir in ein paar Stunden tatsächlich im Besitz des jahrzehntelang verschollenen Bernsteinzimmers sein sollten, so wird das schließlich weitreichende Konsequenzen von internationlem Ausmaß mit sich bringen. Das Ganze ist dann sicher rasch eine Nummer zu groß für uns allein, oder?!". Derrik Crawler, den Svenssons Tatendrang angesteckt zu haben schien, winkte nur müde ab: "Ach, Du Angsthäschen! Über die Einbeziehung des Yard können wir immer noch nachdenken, wenn wir die Kisten erstmal gefunden haben. Außerdem hat der alte Knabe Freakadelly im Moment eh genug um die Ohren - die bevorstehende Scheidung seiner einzigen Tochter von diesem Egomanen Wannabe und seine Pläne für einen vorzeitigen Ruhestand zum Beispiel. Ne Jungs, ich schlag vor, wir machen uns erstmal allein auf Schatzsuche!". Lukas Svensson runzelte die Stirn: "Halt Derrik, ich glaube, Timmy hat ganz recht! Es ist an der Zeit, Harold Freakadelly mit ins Boot zu holen. Allerdings wirklich nur ihn allein! Solange unklar ist, ob und wo es im Yard eine undichte Stelle gibt, können wir keinem anderen trauen. Timmy, wenn Du erlaubst, übernehme ich den Anruf?! Ich hab hier irgendwo Harrys Privatnummer notiert". Damit kramte er zielsicher aus seiner Manteltasche einen kleinen zerknüllten Notizzettel hervor. Dann ließ er sich von Tim das Handy aushändigen und wählte die aufgeschriebene Nummer. Die Mailbox meldete sich, und Lukas unterbrach die Verbindung per Knopfdruck. Dazu murmelte er: "Komisch, der gute alte Harry hat doch sein Handy sonst immer dabei". Derrik aber spottete: "Naja, vermutlich hat Dirty Harry sein Hörgerät ausgeschaltet und darum das Klingeln seiner Telefons nicht gehört!". Timmy ließ sich sein Handy zurückgeben und schüttelte dabei den Kopf: "Alles Quatsch! Ich versuchs mal bei ihm im Büro. Das ist um diese Zeit auf alle Fälle besetzt". Tim Hackerman suchte die Nummer aus seinem Kurzwahlverzeichnis heraus und wählte sie dann per Knopfdruck an. Zu seiner Verwunderung meldete sich am anderen Ende nicht die vertraute Stimme von Freakadellys Chefsekretärin Claudia Palmer, sondern das honigsüße Stimmchen einer ihm völlig Unbekannten: "New Scotland Yard. Büro des Chiefsuperintendents. Sabrina Meltstone am Apparat. Was kann ich für Sie tun?". Timmy war für einen Moment sprachlos. Ein merkwürdiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel, die Augen rollten ganz verlegen hin und her, und seine Wangen färbten sich leicht rosa. Schließlich stotterte er ein wenig unbeholfen in sein Mobiltelefon: "Hier ist der Timmy ... der Hacker ... man. Tim Hackerman, Personalnummer 0815-007, Angestellter des Yard ... äh in der Personalabteilung ... Sabrina, was für ein entzückender Name für ein Geschöpft mit einer so sanften Stimme ... Äh, Ent ... Entschuldigung ... ich wollte ... ich wollte nicht ... also nicht Sie ... sondern ... äh den Chief ... also den Freak ... adelly ... den Boß ... naja, Sie wissen schon! Ist der nicht da?!". Einen Moment lang war es totenstill am anderen Ende. Dann meldete sich leise schluchzend das süße Stimmchen Sabrinas zurück: "Oh, Mister Hackerman. Tim. Ja, dann wissen Sie es also noch gar nicht?! Lesen Sie keine Zeitung und hören Sie keine Nachrichten?! Harold Freakadelly ist tot, ermordet worden bei einem terroristischen Sprengstoffanschlag auf der Yacht von Mister Wannabe". Tims eben noch so verzücktes Gesicht erstarrte, und entsetzt rief er ins Telefon: "Wie bitte?! Das kann doch nicht wahr sein! Ist Charles Wannabe etwa auch ...". Sabrina erriet den Gedanken ihres Gesprächspartners: "Nein, nein! Chiefsuperintendent Wannabe lebt und leitet derzeit kommissarisch das Yard sowie alle laufenden Ermittlungen. Ich selbst bin ja auch nur aushilfsweise als Chefsekretärin tätig, weil sich Miss Palmer am Tag von Mister Freakadellys Tod krank gemeldet hat. Soll ich Sie jetzt vielleicht zu Mister Wannabe durchstellen?!". Timmy überlegte einen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf und sprach: "Nein danke, nicht nötig! Wenn ich wieder in London bin, meldete ich mich gelegentlich selbst bei Ihnen ... äh ihm. Ciao!". Entgeistert beendete er das Telefonat. Dann starrte er zu Lukas herüber und stammelte: "Tot ... Freakadelly ist tot ... ermordet ... auf Wannabes Yacht ... Und Wannabe leitet die Ermittlungen im Yard ... Mein Gott!". Eine einsame Träne lief über Tim Hackermans Wange. Lukas aber schlug ohnmächtig die Hände vors Gesicht: "Harry! Nein, nicht doch Harry! Er war doch schon so gut wie draußen, wollte nochmal ganz neu anfangen. Ein neues Leben im Ruhestand mit seiner Familie. Und nun das! Welcher Mistkerl hat ihm das nur angetan?". Yelena legte ihren Arm um den in sich zusammensinkenden Ex-Inspektor und zog ihn ganz nah zu sich heran. Derrik Crawler aber schlug mit der Faust auf den Tisch: "Schon wieder eine Bombe! So ein feiges Pack! Genau wie dieser Kowarno! Wahrscheinlich ist Ihnen der Alte irgendwie auf die Schliche gekommen und wollte einen der Terrorbrüder zur Rede stellen. Und bestimmt sind die Dreckskerle jetzt auch schon hinter dem Bernsteinzimmer und damit auch hinter uns her. Und was Wannabe als neuen Yardchef angeht, den können wir ja wohl kaum ins Vertrauen ziehen, oder?! Also ist es am Ende doch an uns, den Schatz allein zu bergen. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren! Also los jetzt!".

Onkel Fritz zügelte den Tatendrang des abenteuerlustigen Inspektors, indem er ihn am Ärmel seiner Jacke packte und dabei ganz entschlossen entgegnete: "Nun mal langsam mit die jungen Pferde! Gut Ding will Weile haben. Erstmal sollten wir in aller Ruhe das Gelände sondieren, um dann zu nächtlicher Stunde möglichst unbemerkt zum Schatz vorzudringen. Also, Mädels und Jungs, was haltet Ihr zur Ablenkung und Aufmunterung von ein wenig Sightseeing. Ick zeig Euch mal ein bißchen was von mein Berlin. Und anfangen tun wir mit dem Naheliegendsten von allem - einem Bauwerk, in dem vor etwa 20 Jahren ein Volk aufstand und damit eine friedlich-revolutionäre Lawine in Bewegung setzte, die weltweit ihresgleichen sucht und letztlich die olle Berliner Mauer zu Fall brachte - der Gethsemanekirche". Lukas und Tim nickten nur stumm. Eine Viertelstunde später standen alle bereits am Westportal des - alles in seiner Umgebung überragenden - Kirchenbaus, unmittelbar vor einer großen Jesusstatue. Onkel Fritz gab dazu mit stolzgeschwellter Brust den geschichtsbewanderten Reiseführer: "Der Segnende Christus aus der ehemaligen Versöhnungskirche, die mitten im Mauerstreifen stand und Anfang 1985 von den DDR-Grenztruppen gesprengt wurde, hat hier nunmehr seit 1993 seinen festen Platz". Über dem Eingang der Kirche war ein Banner befestigt, welches den Schriftzug "Wachet und Betet" trug - jene Losung Jesu, unter der an gleicher Stelle im Herbst 1989 auch die sogenannten Friedensgebete standen, von denen dann die Berliner Montagsdemos ausgingen. Eine Ausstellung im Innern zeigte anläßlich des 20.Jahrestags jener Friedlichen Revolution im Osten Deutschlands die Geschichte der Kirche als Keimzelle des breiten Protests und Treffpunkt der Bürgerbewegung in der damaligen DDR. Yelena betrachtete voller Interesse die Ausstellungsstücke jener Zeit, während sich Derrik von Onkel Fritz höchstpersönlich den Weg hinauf zur Orgel zeigen ließ. Dort angelangt nahm der junge Inspektor Crawler - zum Erstaunen des greisen Onkels - sofort inmitten der riesigen Orgelpfeifen auf dem bereitstehenden Hocker platz. Er lockerte kurz seine Finger und eröffnete dann fachmännisch das Tastenspiel, mit dem er dem ehrfürchtigen Instrument sogleich die ersten Takte der düsteren Melodie von Johann Sebastian Bachs Toccata und Fuge BWV 565 entlockte. Und während Derrik so spielte, wurden seine Augen immer größer. Man konnte förmlich erkennen, wie er mehr und mehr in die Musik eintauchte und schließlich ganz in ihr versank. Lukas und Timmy waren derweil ein paar Meter tiefer in eine angeregte Unterhaltung vertieft. Aufgeregt flüsterte der junge Hackerman: "Und Du bist Dir absolut sicher, daß er der gesuchte Verräter ist?". Lukas nickte entschlossen: "Ja, das bin ich! Dein Telefonat mit London vorhin hat nun auch meine letzten Zweifel beseitigt. Und dennoch will es mir einfach nicht in den Kopf gehen: Harold Freakadelly umzubringen, wie konnte er das nur tun?!". Timmy dachte einen Moment lang nach, dann schnipste er plötzlich mit den Fingern: "Da fällt mir gerade etwas Entscheidendes ein, was diese Frage klären könnte. Aber dazu sollten wir dann vielleicht doch lieber kurz mal nach draußen gehen". Und mit einem etwas mürrischen Blick hinauf zur Orgel ergänzte er: "Hier drin versteht man ja momentan kaum sein eigenes Wort!". Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung und verließ gemeinsam mit Lukas Svensson das Kirchengebäude durchs Westportal.

Im weit entfernten London saß etwa zeitgleich die Ehefrau Charles Wannabes - ganz in schwarz gekleidet - vor dem prunkvollen Spiegeltisch im kleinen Salon ihres Hauses und machte sich zurecht. In diesem Moment begann das Handy auf ihrem Schminktisch zu vibrieren. Die blonde Frau mittleren Alters hob es auf und schaute auf das Display, in welchem immer wieder der Schriftzug "Unbekannter Anrufer" aufblinkte. Neugierig drückte sie die grüne Sprechtaste und führte das Telefon an ihr Ohr. Dazu raunte sie ins Mikrofon: "Hier Janet Wannabe, wer spricht bitte?!". Am anderen Ende blieb es still, nur ein paar Verkehrsgeräusche und ein leichtes Atmen waren zu vernehmen. Energisch hakte die Angerufene nach: "Hallo, so melden Sie sich doch! Wer sind Sie und was wollen Sie von mir!". Im selben Moment kündete ein leises Piepen davon, daß der mysteriöse Anrufer aufgelegt hatte. Janet Wannabe warf einen ungläubigen Blick auf das Display, welches ihr noch einmal klipp und klar bestätigte: "Gespräch beendet". Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. Hatte sich da einfach nur jemand verwählt? ... Ein raschelndes Geräusch im nahegelegenen Schlafzimmer riß sie in dieser Sekunde jäh aus ihren Gedanken.

In der Gethsemanekirche im Osten Berlins war Derrik Crawler derweil am Ende seines vituosen Orgelspiels angelangt. Und als sich dann in den letzten Takten noch ein paar kleine Mißtöne einschlichen, kehrte nun auch der vollkommen entrückt erscheinende Musikus wieder in die Realität zurück. Von den Besuchern der Kirchenausstellung mit stürmischem Beifall honoriert, beendete er schließlich seinen musikalischen Vortrag. Yelena, die ihm von unten aus ebenfalls applaudiert hatte, bemerkte erst jetzt die Abwesenheit von Lukas und Tim und begab sich nun auch ihrerseits zu der großen Holztür an der Westseite der Kirche. Draußen sprach derweil Lukas leise zu zu seinem Schützling: "Aber natürlich, Timmy! Das ist es! Eine Komplizin in Harold Freakadellys unmittelbarem Umfeld. Jetzt ergibt das Ganze einen Sinn. Der gute alte Harry muß dem heimtückischen Schuft wohl zu nah auf den Fersen gewesen sein. Das erfuhr dieser durch seine Informantin, und darum mußte Freakadelly sterben! Jetzt müssen wir den Verräter nur noch entlarven. Und was das angeht, hab ich auch schon einen Plan. Hör mal zu, Timmy ...". Laut knarrend öffnete sich in dieser Sekunde die Kirchentür. Yelena trat durch sie ins Freie, und sah am Fuße der Steintreppe die beiden Männer, die miteinander tuschelten. Svensson erblickte seine Angebetete, zwinkerte ihr zu und schloß sein Gespräch mit Tim flüsternd mit den Worten: "Ich sage Dir: Sobald wir den Schatz gefunden haben, wird dieser Kerl versuchen, ihn uns abzunehmen. Und dann ist er gezwungen, seine Maske fallen zu lassen". Yelena war inzwischen dicht an die Beiden herangetreten, und so standen nun alle Drei mit Lukas Svensson in der Mitte nahe der steinernen Treppe zu Füßen des Standbildes mit dem segnenden Christus. Lukas legte kurzerhand seiner Verlobten und seinem Schützling andächtig seine Hände auf die Köpfe und sprach: "Laßt mich für uns um den Segen bitten! Der Herr segne uns und behüte uns! Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über uns und sei uns gnädig! Der Herr hebe sein Angesicht über uns und gebe uns Frieden! Amen!". In diesem Moment öffnete sich erneut die hölzerne Kircheneingangstür, und Derrik und Onkel Fritz traten heraus. Während sich Lukas' Onkel beim Schließen der Tür noch einmal bekreuzigte, stürmte Derrik bereits eilig die Stufen der Treppe herab und warf sich völlig überwältigt um den Hals Svenssons. Dabei drückte er ihm einen heftigen Schmatzer auf die linke Wange und sagte: "Oh Sir Lukas, was für ein fundamentales Erlebnis. Ich danke Dir so sehr, danke für alles! Besonders dafür, daß Du mich mit Dir genommen hast auf diese Reise!". Lukas nickte und erwiderte: "Schon gut, Derrik! Jeder Mensch verdient es, daß man ihm im Leben eine Chance gibt. Nur so kann letzten Endes jeder von uns zeigen, was wirklich in ihm steckt!". Und damit machten sich Svensson und seine Begleiter im Gefolge von Onkel Fritz auf den Weg zur nahegelegenen U-Bahn-Station Schönhauser Allee.

Auch in London traf in diesem Moment jemand seine Reisevorbereitungen. Auf dem großen, breiten Doppelbett der Eheleute Wannabe lag ein riesig anmutender Koffer, den der neue kommissarische Yardchef Charles Wannabe eilig mit Kleidungsstücken aus dem Schlafzimmerschrank bestückte. Anschließend kontrollierte er noch einmal die Funktionstüchtigkeit seiner Dienstpistole und entnahm der Nachttischschublade seinen Reisepaß, in welchem er sogleich auch die beiden Flugtickets verstaute, die bislang in der Innentasche seines Anzugjacke gesteckt hatten. Seine Frau, die dem zuvor vernommenen Rascheln nachgegangen war, betrat indes das Schlafgemach. Sie schaute der emsigen Aufbruchstimmung einen Moment lang sichtlich überrascht zu, bevor sie mit leicht vorwurfsvoller Stimme meinte: "Du hast vor zu verreisen, Charles?! Aber davon hast Du mir ja gar nichts gesagt! Ich dachte, nachdem Du die letzten drei Nächte nun doch wieder hier mit mir verbracht hast ...". Charles Wannabe unterbrach sein Tun für einen Augenblick, schaute sie etwas mitleidig an und erwiderte: "Also erstmal hab ich die letzten Nächte nicht mit Dir, sondern allenfalls neben Dir in unserem Ehebett verbracht. Und das letzendlich auch nur, weil meine Simone das Opfer eines Attentats geworden ist". Wannabes Noch-Ehefrau begann zu schluchzen: "Ja, natürlich! Deine Simone! Immer dreht sich alles nur um diese verfluchte Yacht! Und was ist mit meinem Vater?! Der ist ebenso ein Opfer dieses Attentats geworden. Aber an ihn verschwendest Du keinen Gedanken, genauso wenig wie an mich, Deine trauernde Ehefrau". Wannabe schüttelte nur müde den Kopf, während er sich mit Gewalt daran versuchte, seinen maßlos überfüllten Koffer zu schließen: "Meine Ehefrau?! Unsere Ehe besteht doch schon längst nur noch auf dem Papier - und auch dort, wenn es nach mir geht, nur noch kurze Zeit. Während unserer gemeinsamen Jahre hast Du mich nie ernstgenommen oder gar zu verstehen versucht, ständig gab es Streit um Nichtigkeiten oder weil ich nicht andauernd nach Deiner Pfeife tanzen wollte. Klar hab ich mich da mehr und mehr von Dir zurückgezogen. Und so sind wir uns am Ende nur noch fremder geworden, als wir es uns eh von Anfang an schon waren. So, und nun Schluß mit diesem sinnlosen Smalltalk. Mein Flieger wartet nicht auf mich! Ich hab jetzt im Ausland noch etwas Dringendes zu erledigen, aber wenn ich wiederkomme, dann reiche ich umgehend die Scheidung ein - versprochen! Und was Deinen Vater angeht, sein Tod tut mir natürlich sehr leid, aber er war wie ich Polizeibeamter und wußte genau, worauf er sich in seinem Job einließ. Auch mir kann bei dem, was ich jetzt vorhabe, rasch das letzte Stündlein schlagen. Und dennoch muß ein Mann tun, was ein Mann eben tun muß. Ach, sag mal, hast Du vielleicht irgendwo mein Handy gesehen?". Wannabes Frau verließ für einen Moment das Zimmer und kehrte Sekunden später mit dem vermißten Mobiltelefon Wannabes in der Hand zurück: "Du hast es gestern abend beim Nachhausekommen im Flur abgelegt, wie immer in all den vergangenen Jahren!". Bei diesen Worten entfuhr ihr ein tiefer Seufzer. Charles Wannabe aber griff nur rasch nach seinem Handy, wobei er es tunlichst vermied, ihre Hand zu berühren. Gleichzeitig murmelte er ein kaum zu verstehendes: "Ok, also dann: Danke und machs gut!". Damit stürmte er, ohne seine Frau noch eines weiteren Blicks zu würdigen, aus dem ehelichen Schlafgemach. Alles was sie noch von ihm hörte, war die hinter ihm mit lautem Knall ins Schloß fallende Wohnungstür.

Im östlichen Berlin waren Onkel Fritz und seine Begleiter derweil vor dem Bahnhofsgebäude in der Schönhauser Allee angelangt . Lukas' Onkel aber klopfte Derrik und Timmy - die vor ihm liefen, kräftig auf die Schultern - wobei er sogleich lauthals verkündete: "Jungs, kein Aufenthalt an der Schönhauser ohne eine Kostprobe von Berlins bester Currywurscht. Und die gibt es hier bei Konnopke seit 1960. Gegründet wurde das Ganze schon 30 Jahre früher von Max und Charlotte Konnopke als Bauchladen". Damit schleppte er seine Begleiter sogleich zu einem großen Metallkiosk unterhalb der U-Bahnschienen, wo er auf die Schnelle fünf Currywürste mit Brötchen orderte. Die Dame mittleren Alters hinter der Theke zwinkerte Lukas' Onkel auffällig zu: "Na Fritze, meen Jutester, wen haste mir denn da anjeschleppt. Doch nich etwa Deine Verwandschft aus Übersee, oder wat?! Na wenn det so is, denn wolln wa unsere Jäste mal zeijen, wat sone richtje Körriewurscht is! Bittesehr, die Lädies und Jentelmänn, fünfmal Wurscht-Max mit backfrische Charlotten-Börger, jemeenhin och Schrippen jenannt!". Sichtlich begeistert ließen sich Svensson und Co die heiße Ware schmecken und stiefelten dann gestärkt die Stufen zum U-Bahnhof hinauf. Dort besorgte Onkel Fritz am Automaten noch rasch die U-Bahn-Tickets für alle. Und während unsere fünf Freunde gerade auf den Zug in Richtung Alexanderplatz warteten, wurde Lukas plötzlich von einem älteren Herrn mit gestreifetem Anzug, ebensolcher Krawatte und Filzhut - alles ganz in schwarz - angesprochen. Der langhaarige Typ formte mit seinen blassen Lippen einen Schmollmund und säuselte dann: "Hallöchen! Entschuldige Du, ist das der Sonderzug nach Pankow? Keine Panik, mein Orchester und ich, der kleine Udo, haben da nämlich so eine Art Auftritt, weißte?!". Svensson betrachtete den Uralt-Punkrocker mit prüfendem Blick von oben bis unten, dann entgegnete er kopfschüttelnd: "Ich glaube, der Zug ist schon vor einiger Zeit abgefahren, aber keine Angst! Sie wissen ja, mein Freund: Hinterm Horizont gehts weiter!". Der Langmähnige schüttelte dem Ex-Inspektor die Hand und griff sich dabei mit der anderen an die Hutkrempe: "Geiler Slogan, Du! Macht sich übrigens auch supi als Songtitel! Tschüssi und alles Gute, ich muß jetz mal eben weg, die eingestaubte Deutsche Musikszene ein bißchen aufmischen, nä!". Damit schlenderte er leise vor sich her trällernd lässig den Bahnsteig entlang, während Lukas, Yelena, Fritz, Derrik und Tim in den soeben eingefahrenen Zug einstiegen.

Am Alex - dem zentralen Platz im östlichen Berlin - angekommen, schlüpfte Onkel Fritz sogleich wieder in die Rolle des Reiseführers und zeigte seinen Gästen den Fernsehturm. Dazu erläuterte er: "Meine Herrschaften und die verehrte Dame, jener 365 Meter hohe Turm mit der gläsernen Kugel wird von den Berlinern aufgrund seiner Form und Funktion auch liebevoll Telespargel genannt. Wahlweise früher auch Erichs Kathedrale, weil - sehr zum Leidwesen unseres ehemaligen, atheistischen Regierungschefs - sich in seiner Kugel die einfallende Sonne in Form eines Kreuzes widerspiegelte". Als nächstes ging es zur Weltzeituhr, an welcher man zu jeder Tages- und Nachtzeit für jede der großen Weltstädte ablesen kann, was dort die Stunde geschlagen hat. Die fünf Reisenden umwanderten wieder und wieder das kreisrunde Bauwerk, bis jeder von ihnen schließlich eine Stadt für sich entdeckt hatte: Lukas Kaliningrad, Yelena Minsk, Onkel Fritz Berlin und Timmy das gute, alte London. Nur Derrik wußte irgendwie nicht so recht, wofür er sich entscheiden sollte, und blieb schließlich unsicher vor Moskau stehen.

Ein paar Minuten später löste sich die Reisegruppe wieder aus ihren selbstgewählten Städtepartnerschaften, um nun - von Onkel Fritz angeführt - auch den Rest der Deutschen Hauptstadt zu erkunden. Vorbei am ehemaligen Haus des Lehrers mit seiner kunstvollen Bauchbinde, dem Roten Rathaus als Regierungssitz des Berliner Senats und dem davor befindlichen Neptunbrunnen ging es - unmittelbar am Spreeufer - zu einer Baustelle der besonderen Art. Hier ließ Onkel Fritz halten und erklärte: "Auf jenem Platz stand bis vor wenigen Jahren der Palast der Republik. An der Stelle des ehemaligen Berliner Stadtschlosses errichtet und wegen seiner verschwenderischen Beleuchtung auch als Erichs Lampenladen betitelt, war das Ganze als Prestigeobjekt der damaligen DDR gedacht. Ein sozialistisches Schloß sozusagen als weltweites Aushängeschild für König Erich I. und letzten und seine holde Gemalin Margot. Nach der Wende stellte sich heraus, daß der ganze noble Schuppen asbestverseucht war und abgerissen werden mußte, was vor einiger Zeit dann auch geschah. Und heutigen Tages wird hier schon wieder eifrig gebaut, um so zügig den mehrheitlich beschlossenen Wiederaufbau des historischen Stadtschlosses voranzutreiben. Für uns, meine Lieben, ist dieser Baugrund insofern interessant, als das genau darunter jene Gemäuer liegen, in denen der Königsberger Klops und ich seinerzeit die 24 Kisten einlagerten". Damit führte Onkel Fritz Lukas und seine Begleiter weiter zur nahegelegenen U-Bahnstation Hausvogteiplatz, vor deren Zugang er verkündete: "Hier sind wir damals eingestiegen. Und hier werden wir auch heute nacht wieder unter Tage gehen, um zum Versteck der Kisten vorzudringen. Gegen 1 Uhr fährt hier die letzte U-Bahn ab. Bis kurz vor halb 5 Uhr ruht dann der Bahnverkehr. Diese Zeit bleibt uns für unser Vorhaben. Das nötige Werkzeug finden wir gegebenenfalls sicher im U-Bahn-Tunnel". Lukas Svensson schaute bei den Ausführungen seines Onkels auf seine Taschenuhr. Es war inzwischen genau 17.32 Uhr, und die Sonne schickte sich langsam an unterzugehen. Genug Zeit also noch, die Berlintour fortzusetzen. Und so ging es auf der Straße Unter den Linden vorbei am Museum für Deutsche Geschichte - dem ehemaligen Zeughaus - zur Neuen Wache mit dem Mahnmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Im Innern des Gebäudes fiel Lukas Svensson im Angesicht der dort aufgestellten Kopie der Käthe-Kollwitz-Skulptur "Mutter mit totem Sohn" spontan auf die Knie. Er gedachte in einer Schweigeminute all denen, die Opfer der beiden Weltkriege, des Nationalsozialismus, des Stalinismus und der Deutschen Teilung wurden. Sein Blick fiel auf das versteinerte Antlitz der Mutter, und er mußte in diesem Moment auch an den schmerzlichen Verlust seiner Eltern denken, die er als Heranwachsender stets so schrecklich vermißt hatte. Eine Träne tropfte dabei von seiner Wange herab auf den Granitfußboden. In dieser Sekunde trat Yelena, die sich im Hintergrund gehalten hatte, zu ihrem Verlobten heran und half ihm beim Aufstehen. Arm in Arm verließen die Zwei stumm jene denkwürdige Räumlichkeit und begaben sich - unmittelbar gefolgt von Onkel Fritz, Timmy und Derrik - an der Humboldt-Universität vorbei durch das Brandenburger Tor bis hin zur Siegessäule, von der aus die römischen Siegesgöttin Victoria über die Stadt wachte. Die "Goldelse", wie sie die Berliner liebevoll nannten, strahlte und funkelte dabei im Schein der sinkenden Herbstsonne, als wolle sie ihren Besuchern aus aller Herren Länder zurufen: "Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!". Hier übernahm nun Fritz Salomon wieder die Reiseleitung, und führte seine Gäste zum Reichstag. Der Onkel tippte im Angesicht des altehrwürdigen Regierungssitzes seinem Neffen sanft auf die Schulter und sprach: "Na Junge, ick glaube, seit Deinem letzten Besuch hat sich hier in unserer Big City ganz ordentlich was getan, wie?!". Lukas aber erwiderte ein wenig verunsichert: "Ach, weißt Du, es kommt mir irgendwie so vor, als wäre ich gerade erst vor ein paar Tagen hier gewesen".

Den Rest des zur Neige gehenden Tages verbrachte das abenteuerlustige Fünfergespann in einem der zahlreichen kleinen Caferestaurants nahe dem Bahnhof Friedrichsstraße mit einem ausgedehnten Abendmahl. Sie aßen, tranken und erzählten sich ausgiebig all ihre kleinen und großen Lebensgeschichten. Dabei kam man in geselliger Runde schließlich auch auf die kleinen Geheimnisse zu sprechen, die jeder der Anwesenden so hatte. Yelena, die nach drei Gläsern Weißwein schon ein wenig beschwipst war, buffte dabei Fritz kräftig in die Seite und lallte: "Na komm schon, Onkelchen, Du doch sicher auch etwas haben, was sonst keiner wissen von Dir, oder?!". Onkel Fritz dachte einen Moment lang angestrengt nach, dann nickte er: "Naja gut, jetzt wo Du schon fast zu unserer Familie gehörst, kann ich's Dir ja verraten. Ich hab da noch einen zweiten Vornamen väterlicherseits. In meiner Geburtsurkunde bin ich nämlich als Friedrich Wilhelm Salomon aufgeführt. Aber außer meiner seligen Minna - die mich, wenn wir unter uns waren, immer Willi nannte - wußte das bis jetzt keiner". Yelena schüttelte den Kopf: "Kerle! Immer das Gleiche! Mein Ex genauso gewesen! Auch ständig ein Riesengeheimnis um seinen zweiten Vornamen haben gemacht. Nur seine engsten Vertrauten gewußt, daß er von Vaterseite aus nochmal gleiches Vornamen getragen haben. Er immer sein - ihm als Kind prügelndes - Erzeuger nur Iwan der Schreckliche genannt haben". Onkel Fritz kratzte sich nachdenklich am Kopf, dann meinte er: "Nun ja, wie dem auch sei, meinen zweiten Vornamen kannte jedenfalls bis eben noch nicht mal mein Lieblingsneffe hier". Damit deutete er augenzwinkernd auf Lukas. Der hatte den Worten seines Onkels allerdings gar nicht zugehört, da er noch immer niedergeschlagen und fassungslos war, was die Nachricht von der Ermordung seines früheren Vorgesetzten und Freundes Harold Freakadelly betraf. Onkel Fritz, der das erst jetzt bemerkte, versuchte einmal mehr, die Stimmung wieder aufzulockern. Mit einem Faustschlag auf den Tisch verschaffte er sich kurzerhand die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Gäste und sprach: "Was meint Ihr, die Herren?! Wie wärs mit einem kleinen Spielchen unter Freunden? Kennt Ihr Armdrücken?!". Derrik und Timmy nickten eifrig, und auch Lukas ließ sich für einen Moment von seinen trüben Gedanken ablenken und erwiderte: "Wer kennt das nicht, Onkel?". Fritz Salomon krempelte bereits den Ärmel seines weißen Oberhemds hoch und meinte siegessicher: "Na, dann mal los, Jungs! Ihr Drei gegen mich!". Derrik und Tim knöpften daraufhin milde lächelnd auch ihre Hemdsärmel auf und stellten sich nacheinander dem kräftigen Unterarm ihres hochbetagten Herausforderers. Das überhebliche Grinsen verschwand dabei rasch aus ihren Gesichtern und wich einem Ausdruck kraftvoller Anstrengung. Doch auch das nützte ihnen nichts, mit leichter Hand schickte Onkel Fritz die Arme der beiden innerhalb weniger Sekunden auf die Bretter der Holztischplatte. Lukas, der noch aus seiner Kindheit um die ungeheure Stärke seines Onkels wußte, war im Gegensatz zu seinen Jungs bei seinem Versuch von Anfang an hochkonzentriert bei der Sache. Doch nach anderthalb Minuten hielt auch sein Unterarm dem gleichbleibenden Druck seines ihm überlegenen Gegners nicht länger stand. Triumphierend erhob Fritz Salomon sein Bierglas: "Männers, es tut mich leid, aber mit meinen in langen, harten Arbeitsjahren gestählten Gliedmaßen kann nun mal keiner von Euch mithalten!".

Wieder knallte eine Faust auf die Tischplatte und brachte damit die daraufstehenden Gläser für Sekunden ins Wanken. Es war Yelena, die sich auf diese Weise - eine kräftige Schnute ziehend - zu Wort meldete: "Nö, Jungs, so das aber nicht gehen! Ihr hier Männerabend machen! Únd wo denn da bleiben Emma ... Emann ... Emanzi ... Gleichberechtigung?! Ich wollen mitspielen, ich sein starkes Mädchen! Nichts da sein mit Drei gegen Onkel Fritz - jetzt spielen Vier gegen Willi!". Demonstrativ krempelte sie den Ärmel ihres Pullovers nach oben und stellte ihr schlankes Ärmchen mit dem Ellenbogen auf dem Tisch auf. Tim, Derrik und auch Lukas standen die Münder weit offen, während Onkel Fritz anerkennend nickte und seinen Arm neben dem ihren wieder in Position brachte: "Also Mumm hat Deine Kleine, Lucky, alles, was recht ist! Na dann, zeig mal, was Du so drauf hast, Wonder Woman!". Mit leichtem Druck begann der Onkel den Wettkampf. Yelena aber spannte alle Muskeln ihres Körpers an und hielt ihm stand. Fritz erhöhte seine Anstrengungen, aber Yelenas Unterarm gab keinen Millimeter nach. Der Onkel gab noch einmal alles, doch so verbissen er sich auch bemühte, Yelena blieb eisern. Nach zwei Minuten drückte ihr stählernes Unterärmchen die gewaltige, muskelbepackte Pranke von Onkel Fritz auf die Tischplatte. Mit dem strahlenden Lächeln einer Siegerin warf Yelena beide Fäuste in die Luft und rief: "Ich sein Gewinnerin!". Und die Männer am Tisch applaudierten ihr dabei einmütig. Nur der besiegte Onkel schnaufte schulterzuckend: "Na, ick hab Dir halt gewinnen lassen, und?! Ick konnte einer schönen Frau doch noch nie nich wehtun, schon gar nich, wenn sie mir mit so großen Rehaugen anguckt wie Du, mein Mädchen!". Yelena aber erwiderte lächelnd: "Schon klar, Onkelchen! Wenn angekratztes Männerego von Dir sich besser fühlen damit?!".

Die Stimmung in der Runde blieb noch eine ganze Zeit lang recht heiter und gelöst. Gegen Mitternacht aber erhob Lukas Svensson sein halbvolles Sektglas, bat die Anwesenden um einen Moment der Stille und sprach einen Toast aus: "Meine Lieben, auf unsere Freundschaft! Liebste Yelena, auf Deine Rettung, unsere untrennbare Liebe zueinander sowie auf unsere bevorstehende Hochzeit! Und last but not least: Auf das ehrenvolle Andenken meines guten Freundes Harold Freakadelly, der leider nicht mehr unter uns weilt! Möge sein Mörder nicht ungestraft davonkommen!". Yelena, Timmy und Onkel Fritz erhoben gerührt ihre Gläser und stießen mit Lukas an. Nur Derrik, der seinen Orangensaft gerade erst ausgetrunken hatte, mußte passen und wirkte dabei ein wenig betroffen. Eine Stunde später machten sich Svensson und Co auf den hell erleuchteten, nächtlichen Straßen Berlins auf den Weg zurück zum inzwischen gewiß menschenleeren U-Bahnhof Hausvogteiplatz, wo nun ihr Abstieg in die Berliner Unterwelt beginnen sollte ...

EPISODE 19: ÜBERRASCHENDE ENTHÜLLUNGEN

Beeindruckt stand Lukas mitten auf dem großflächig angelegten Platz des Gendarmenmarktes, welcher links vom Deutschen und rechts vom Französischen Dom kunstvoll eingerahmt wurde. Vor ihm aber erhob sich mit einer gewaltigen Steintreppe das prachtvolle Gebäude des Königlichen Schauspielhauses. Hier lag ihm sozusagen die ganze Welt der hohen Bühnenkunst zu Füßen. Der Ex-Inspektor seufzte ehrfürchtig, dann machte auf dem Hacken kehrt und begab sich - festen Schrittes dem Rest seiner Truppe folgend - hinüber zum U-Bahnhof Hausvogteiplatz, gleichsam den letzten Akt der abenteuerlichen Suche nach dem verschollenen Bernsteinzimmer eröffnend.

Die Taschenuhr des Ex-Inspektors zeigte exakt 1 Uhr und 24 Minuten, als er den Eingang zum unterirdischen Bahnhof erreichte. Yelena, die der Männerriege schon ein paar Schritte vorausgeeilt war, blieb zu seinem Erstaunen nun recht unvermittelt vor dessen Treppe stehen und rief: "Verdammt! So ein Mist!". Damit tippelte sie aufgeregt die Treppenstufen hinunter und rüttelte kräftig an dem verschlossenen, gußeisernen Gittertor, welches vor ihr den Zugang zu den Bahnsteigen versperrte. Lukas Svensson, der inzwischen ebenso wie die anderen drei Herren der Schöpfung oben an der Treppe eingetroffen war, faßte sich an die kahle Stirn und raunte: "Daran haben wir natürlich nicht gedacht, daß der Bahnhof hier während der Nachtstunden abgesperrt wird. Scheint so, als sei unsere Mission schon gescheitert, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat". In diesem Moment kam Derrik mit einem ziemlich ungewöhnlichen Vorschlag: "Ich hab da doch noch die zwei Handgranaten in meiner Jacke. Vielleicht können wir uns den Zugang ja freisprengen?!". Und während Lukas Svensson nur bedächtig sein Haupt schüttelte, bemerkte Timmy sarkastisch: "Klar, Du Einfallspinsel, und damit holen wir dann erstmal halb Berlin aus den Betten und sichern uns ganz nebenbei ein lauschiges Nachtquartier auf der nächsten Polizeiwache! Nein, mein Lieber, laß mal stecken!". Onkel Fritz, ein Liebhaber alter Krimifilme, meinte derweil - während er Yelena anschaute: "Ja, wenn wir jetzt ein paar Haarnadeln hätten! Du hast nich zufällig ein paar dabei, Kleines!". Die Befragte aber schüttelte bedauernd den Kopf. Stattdessen meldete sich nun wieder Timmy zu Wort: "Im Notfall geht ja vielleicht auch sowas hier!". Damit präsentierte er den Anderen freudestrahlend ein ganzes Bund mit verschiedengroßen Dietrichen, welches er zuvor aus seiner Hosentasche hervorgeholt hatte. Und dem allseitigen Erstaunen Rechnung zollend, ergänzte er rasch: "Manchmal vergeß ich auf Arbeit meinen Wohnungsschlüssel. Dann brauch ich den Zweitschlüssel, den ich bei uns im Keller hinter einer der Waschmaschinen versteckt hab. Um aber in den ebenfalls verschlossenen Keller zu gelangen, benötige ich wiederum ...". Derrik Crawler unterbrach den Redefluß seines Nebenmann schroff: "Soll das jetzt eine abendfüllende Geschichte werden, Timothy?! Vielleicht darf ich Dich daran erinnern, daß wir nur begrenzt Zeit haben für unsere Schatzsuche. Also quatsch hier keine Opern, sondern mach endlich das verdammte Tor auf!". Leicht eingeschnappt kam Tim Hackerman der Aufforderung des Inspektors nach und öffnete in Sekundenschnelle das Schloß. Leise knarrend gewährte das Tor dem Svensson-Quintett endlich den heißersehnten Zugang zu Berlins düsterer Unterwelt. Yelena wollte den verwaisten Bahnsteig gerade als Erste betreten, als sie Lukas am Arm packte und zurückhielt. Dazu sprach er: "Ich glaube, es ist besser, wenn Du hier auf uns wartest und Wache schiebst, Liebes. Nach allem, was Du gerade erst durchgemacht hast, möcht ich Dich nicht schon wieder in Gefahr sehen. Das verstehst Du doch hoffentlich, ja?!". Yelena zögerte einen Moment, dann aber lenkte sie kopfnickend ein. Lukas streichelte ihr noch einmal sanft übers Gesicht, dann kramte er zum Abschied die Taschenlampe aus seinem Regenmantel hervor, machte sie an und reichte sie an seinen Onkel weiter. Gleichzeitig bat er Timmy um die - in dessen Jacke verstaute - Pistole, die einstmals Iwan Kowarno gehört hatte und mit der Derrik dessen Leben vor einigen Tagen so plötzlich beendete. Der Ex-Inspektor blickte einen Moment stumm erst auf Timmy, dann auf das Schießeisen. Schließlich übergab er die Pistole Derrik mit den Worten: "Nur falls uns da drinnen etwas Unvorhergesehenes passieren sollte. Du hast ja schon bewiesen, daß Du das Ding im Ernstfall zu benutzen verstehst!"

Unter der Führung des alten Fritz drangen die vier Männer, dem Lichtkegel ihrer Lampe folgend, langsam auf den Bahnsteig vor, von dem sie sich kurze Zeit später beherzten Sprunges auf die Schienen begaben und sich dann immer weiter ins Tunnelinnere der U-Bahn-Gleisanlage vorwagten. Sie liefen so einige hundert Meter, bis Onkel Fritz schließlich an einer rostigen Eisentür Halt machte. Wieder waren Tims Dietriche gefragt, und schon ging es weiter in einen der vielen unterirdischen Seitenschächte. Ein paar Mäuse und Ratten gesellten sich zu dem abenteuerlustigen Männerverein, der schließlich vor einem riesigen Haufen aus Schutt und Geröll erneut zum Stehen kam. Und Onkel Fritz erklärte seinen Begleitern: "Hier befand sich damals der Zugang zu jenem Gemäuer, wo der Klops und ich die Kisten abgestellt haben. Aber wie Ihr seht, ist da kein Durchkommen mehr. Und was nun?". Sein Neffe besah sich die Geröllmassen ganz genau und verkündete dann: "Jungs, ich hab da einen Plan! Der Zugang hier ist versperrt. Bei der von Dir geschilderten Explosion anno 1946 ist er komplett verschüttet worden, soviel steht fest. Wie wir aber wissen, ist Röder damals dennoch auf irgendeinem Wege dem somit scheinbar unzugänglich gemachten Versteck der Kisten entkommen. Ich vermute mal, es gibt noch einen zweiten Zugang, irgendwo hier ganz in der Nähe. Und genau den suchen wir jetzt!". Tim und Derrik nickten eifrig, während Onkel Fritz zugleich einen anerkennenden Pfiff ausstieß: "Mächtig gewaltig, Lukas! Darauf muß man erst mal kommen. Eine Kombinationsgabe hat der Junge wie Nick Knatterton höchstpersönlich! Na dann mal ausgeschwärmt, Ihr Schatzsucher!". Die vier Männer verteilten sich daraufhin im Dunkel in alle vier Himmelsrichtungen. Es dauerte einige Minuten, bis plötzlich Timmys aufgeregte Stimme zu vernehmen war: "Hey Leute, hier ist was! Ich fühle hinter dem Bretterverschlag in der Wand so eine Art schmalen Felsspalt, gerade breit genug für einen Menschen zum Durchschlüpfen". Derrik und Lukas begaben sich daraufhin vorsichtig - dem Licht der Taschenfunzel folgend - zu Onkel Fritz zurück, und gemeinsam suchten sie im fahlen Taschenlampenlicht in der Richtung, aus der sie Tims Stimme vernommen hatten. Tatsächlich fanden sie den jungen Hackerman hinter ein paar achtlos aufgestellten Brettern wieder. Derrik räumte, ohne zu zögern, die Holzansammlung zur Seite und gab damit die Sicht frei auf jene von Timmy zuvor eindrucksvoll beschriebene Felswandspalte. Nacheinander schlüpften die vier Männer vorsichtig hindurch, allen voran der Onkel mit der Lampe. Sie landeten in einer Art Höhle, bei derem Anblick es Fritz Salomon erst einmal sekundenlang die Sprache verschlug, bevor er schließlich in eine Art Jubelschrei ausbrach: "Jungs, das ist es! Das ist der Raum! Und dann müßten hier irgendwo auch die Kisten abgestellt sein". Lukas' Onkel begann vorsichtig, die Umgegend intensiv auszuleuchten. Am anderen Ende der riesigen Höhle tauchte dabei wieder jener Schuttberg auf, der auch von hier aus den Weg versperrte und an dessen anderer Seite sie bereits kurz zuvor gestanden hatten. Aus all dem Schutt und Geröll aber ragten an hier nun jede Menge große und kleine Knochen heraus und sogar ein paar menschliche Schädel. Onkel Fritz erschrak bei dem gruseligen Anblick und schluchzte: "Mein Gott, das müssen die Überreste von den anderen 11 sein, die damals mit mir und dem ollen Klops die Kisten hier runtergeschleppt haben. Der Mistkerl hat alle seine Mitwisser einfach mitsamt dem Ausgang in die Luft gejagt. Nur mir hat er gebraucht, damit ihn einer bei den Behörden als vermißt erklären kann. Ansonsten würden meine Knochen jetzt auch hier verstreut liegen". Den Onkel schüttelte es bei diesem Gedanken, und er richtete flugs den Lichtkegel zur gegenüberliegenden Höhlenwand hin aus. Und bei dem, was er und die anderen Drei dort entdeckten, fehlten nun sämtlichen mehr oder minder gestandenen Mannsbildern die Worte. Mit großen Augen starrten sie auf die vielen Holzkisten, 24 an der Zahl - allesamt mit einem großen aufgedruckten Pleitegeier und den Schriftzügen "Geheime Reichssache" sowie "BSZ" versehen. Onkel Fritz entdeckte am Boden eine rostige Brechstange, hob sie auf und öffnete damit den hölzernen Deckel einer der Kisten. Im Schein der Taschenlampe kam darin - unter den staunenden Augen der Hinzugeeilten - ein Stapel bernsteinfarbener Mosaiktafeln zum Vorschein. Zugegeben, der Zahn der Zeit und die ungünstigen Witterungsverhältnisse hier unten hatten den einst so strahlenden, kunstvoll gefertigten Tafeln ziemlich zugesetzt. Und dennoch konnte man, wenn man genau hinsah, den ehemaligen Glanz und die Schönheit des märchenhaften Wandschmuckes erahnen.

Lukas beendete schließlich seinerseits mit Freudentränen in den Augen die Phase der allgemeinen Sprachlosigkeit: "Onkel Fritz, Tim, Derrik! Wir sind am Ziel angekommen. Es ist uns gelungen, was zuvor Generationen von eifrigen Schatzsuchern und Kunstliebhabern verwehrt geblieben ist. Wir haben gemeinsam das seit Jahrzehnte verschollene, sagenumwobene Bernsteinzimmer wiederentdeckt. Unsere Aufgabe wird es nun sein, den Kunstschatz zu bergen und endlich wieder der breiten Öffentlichkeit zu übergeben. Was für ein Triumph! Und den kann uns niemand mehr nehmen ...".

Aus dem Dunkel der Höhlenlandschaft meldete sich in diesem Augenblick eine - Lukas Svensson nur allzu vertraute Stimme zu Wort: "Wenn Sie sich da mal nur nicht täuschen, mein Teuerster!". Es war kein Geringerer als Charles Wannabe, der eine Sekunde später mit der Dienstpistole im Anschlag aus dem Dunkel ins spärliche Licht trat. Onkel Fritz ließ vor Schreck die Taschenlampe fallen, die nun vom Boden aus alle Anwesenden in ein geradezu gespenstisches Licht tauchte. Im selben Augenblick taten sowohl Svensson als auch Wannabe einen Schritt aufeinander zu, wobei Lukas nun direkt neben seinem Onkel zu stehen kam. Derrik Crawler aber, der sich nahezu unbemerkt in eine der Ecken der großen Höhle zurückgezogen hatte, zückte nun seinerseits die - ihm vorher von Timmy übergebene - Pistole Kowarnos. Dann schrie er voller Entschlossenheit: "Das Spiel ist aus, Wannabe!". An dieser Stelle meldete sich auch Lukas Svensson zu Wort: "Ganz recht, das Spiel ist aus! Es ist an der Zeit, endlich die Maske des Verräters fallen zu lassen, oder?!". Die Waffe fest im Griff schaute Wannabe Svensson ein wenig mitleidig an: "Sie alter Narr glauben doch wohl nicht ernsthaft ...". Lukas Svensson verschränkte die Arme vor dem Bauch: "Daß Sie der Verräter sind, dem ich letztendlich die Verschleppung meiner Braut verdanke und der zudem auch Harold Freakadellys Leben auf dem Gewissen hat?!". Sekunden lang herrschte Stille, dann begann Lukas Svensson, deutlich sein kahles Haupt zu schütteln: "Nein! Das wissen wir Beide, denk ich mal, besser. Aber vielleicht kann uns ja Mister Crawler ein wenig mehr dazu sagen!". Onkel Fritz schaute seinen Neffen an und zog fragend die Schulterblätter nach oben: "Ich versteh kein Wort! Was ist denn hier nur los?". In Derriks Gesicht aber kehrte im selben Moment ein merkwürdig nervöses Zucken ein, und seine Augen funkelten wutentbrannt, während es aus ihm herausbrach: "Ok, Svensson! Ich hab Sie scheinbar ein wenig unterschätzt, Sie altes, seniles Schaf! Nun denn, wenn Sie es eh schon wissen ... Ja, ich hatte die Idee mit der Entführung Ihrer Herzdame, auch wenn sie all meinen Partnern - allen voran dem Genossen Kowarno - ganz gut in den Kram paßte. Zum einen ergab sich durch den enormen Kunstverstand Ihrer Yelena die Chance, mithilfe von Vorbergs Hinweisen und Kowarnos Zugang zu alten KGB-Quellen rasch auf die Spur des Bernsteinzimmers zu gelangen. Zum anderen hatte ich damit auch Sie in der Hinterhand. Denn obwohl ich Sie mit all Ihrem liebenswerten Getue noch nie leiden konnte, haben Sie während Ihrer Zeit im Yard mehr als einmal instinktiv den richtigen Riecher für die Lösung so manches kniffligen Falls bewiesen. Sie waren sozusagen meine zweite Wahl, was das Aufspüren des verschollenen Schatzes anging. Alles, was ich noch zu tun hatte, war, mich Ihnen reumütig anzubiedern, als wolle ich Sie ganz uneigennützig bei der Suche nach Yelena unterstützen. Klar haben Sie in Ihrer Einfältigkeit den Köder ohne weiteres geschluckt. Nachdem ich dann allerdings feststellen mußte, daß Kowarno sein eigenes Süppchen kochen und mich zusammen mit Ihnen in dem verdammten Bunkergefängnis in die Luft jagen wollte, hab ich den Mistkerl kurzerhand beseitigt, noch bevor er mich an Sie verraten konnte. Und mit einm Schlag waren Sie, was die Hilfe beim Aufspüren des Bernsteinzimmers anging, meine unumstrittene Nummer 1. Und, ich muß schon zugeben, Sie haben mich keineswegs enttäuscht. Hier stehe ich nun, und bin endlich im Besitz jenes Kunstschatzes, den ich schon in Kürze in Unterweltkreisen gegen ein paar Millionen Aufwandsentschädigung an den den kaufbereiten Privatmann bringen werde. Zu schade nur, daß Ihr alle hier meinem großen Triumph nicht mehr beiwohnen könnt! Euch ist doch schon irgendwie klar, daß ich keine Mitwisser brauchen kann, oder?!".

Lukas schaute grimmig zu Crawler herüber: "Das haben Sie ja mit der Ermordung Freakadellys mehr als deutlich bewiesen! Vielleicht verraten Sie uns ja noch, wen Sie da für sich die Drecksarbeit machen lassen haben?!". Derrik Crawler grinste dämonisch: "Diese Aufgabe wurde meiner Janet zuteil, meiner langjährigen Geliebten. Und sie hat sie geradezu meisterhaft gelöst, auch wenn es sie sicher einiges an Überwindung gekostet haben muß, den eigenen Vater ...". Crawler schaute gespannt zu Charles Wannabe hinüber, in dessen Gesicht mit einem Male das blanke Entsetzen einkehrte. Sichtlich zufrieden mit dem, was seine Offenbarung da auslöste, fuhr er fort: "Ja, ganz recht, Charles! Deine Frau und ich! Wir treiben es schon jahrelang hinter Deinem Rücken. Das hättest Du nicht von mir gedacht, oder?! Natürlich nicht, für Dich und all die andern Idioten im Yard war ich ja immer nur der Kaffeeholer und Laufbursche. Keiner ahnte auch nur im Geringsten, was da so alles in mir schlummerte. Nur Deine Janet, die erkannte gleich - kurz nachdem Du uns bekannt machtest - meine verborgenen Qualitäten". Das war zuviel für Wannabe. Er ballte wütend seine Fäuste und schrie: "Das ist nicht wahr! Du lügst doch, Du elender Mistkerl!". Hier meldete sich nun wieder Lukas Svensson zu Wort: "Ich fürchte, das tut er nicht, Wannabe! Crawler stand mit Ihrer Frau die ganze Zeit unserer Reise über telefonisch in Kontakt. Und er war dabei skrupellos und abgebrüht genug, ihr den verschlüsselten Mordauftrag - in dem er ihren Schwiegervater kurzerhand als Ratte abstempelte - seelenruhig im Beisein von Tim Hackerman über dessen Handy zu erteilen. Mehr noch, er war sich sogar dermaßen sicher, daß er die private Handynummer Ihrer Gattin in Tims Kurzwahlverzeichnis hinterlegte. Tim und ich haben die entsprechende Rufnummer gestern nachmittag während eines Kirchenbesuchs persönlich überprüft, und siehe da, wir hatten - für mich klar zu erkennen - Ihre sichtlich überraschte Nochehefrau am Apparat". Derrik Crawler, der den Ausführungen des Ex-Inspektors sichtlich gelassen gelauscht hatte, grinste nun dreckig in Wannabes Richtung. Er wartete noch eine Sekunde, dann setzte er seine zuvor unterbrochene Ansprache fort: "Ok, genug der schlüpfigen kleinen Details! Zurück zum Wesentlichen, nämlich zu mir und meinem Genie! Über meine private Leidenschaft für osteuropäische Autorennen kam ich mit Leuten zusammen, die mir halfen, Kontakte zu einflußreichen Kreisen in der ehemaligen Sowjetunion zu knüpfen. So traf ich vor einiger Zeit auch mit Kowarno zusammen, der mich in seine Pläne bezüglich des Bernsteinzimmers einweihte. Im Gegenzug für eine Beteiligung an der Schatzsuche bot ich ihm meine Hilfe beim Ausfindigmachen und Entführen seiner Exfrau an. Wie leicht sich die Erbringung dieser Gegenleistung gestaltete, davon war ich am Ende selbst ein wenig überrascht. Tja, und nun mach ich die liebe Yelena in wenigen Augenblicken gleich zum zweiten Mal zur Witwe, noch ehe sie überhaupt die Gelegenheit hatte, Ihre Braut zu werden, Svensson! Aber den Anfang mach ich jetzt erstmal mit jemand ganz anderem - einem kleinen angeberischen Hosenscheißer, der mir schon lang auf die Nerven geht...". Damit schritt er enschlossen auf den etwas abseits stehenden Timmy zu, umklammerte ihn mit der freien linken Hand und setzte dem Jungen mit der rechten die entsicherte Pistole an die Schläfe. Der Ex-Inspektor zeigte sich davon keineswegs beeindruckt. Stattdessen entgegnete er nur seelenruhig: "Ich glaub nicht, daß Sie Timmy oder einen anderen der hier Anwesenden erschießen werden, Crawler!". Wannabe starrte ihn entsetzt an: "Sind Sie jetzt ganz und gar meschugge, Svensson! Vernebelt Ihnen der langsam rieselnde Kalk im Hirn die klare Sicht?! Oder wird das hier wieder so ein Musterbeispiel Ihrer achso tollen Menschenkenntnis". Lukas Svensson lächelte nur mild: "Meine Überzeugung diesbezüglich hat weniger mit Menschenkenntnis zu tun, als vielmehr mit Logik. So weit ich weiß, kann man mit einem leeren Magazin niemanden erschießen, oder?!". Damit blinzelte er Timmy zu, der daraufhin vorsichtig in seine Jacke griff und zum Erstaunen Crawlers und Wannabes geräuschvoll eine Handvoll Patronen auf den staubigen Boden rieseln ließ. Entsetzt drückte Crawler auf den Abzug der Pistole in seiner Hand. Es machte Klick, aber kein Schuß löste sich. Verzweifelt wiederholte er die Prozedur ein paar Mal. Dann kramte er nervös in Timmys Jackentasche, so als hoffe er, hier noch eine weitere Patrone zu finden. Wutentbrannt ließ er schließlich die Waffe zu Boden fallen und schubste Tim Hackerman zur Seite. Kurzzeitig durchwühlten seine freigewordenen Hände nun seine eigenen Jackentaschen, und die linke zog schließlich eine der dort - seit dem Ableben Kowarnos - aufbewahrten Handgranaten hervor. Crawler umklammerte mit seinen Fingern krampfhaft deren Bügel, während er zeitgleich mithilfe seiner Zähne den Sicherungsstift herauszog. Wildentschlossen schrie er Wannabe ins Gesicht: "Wenn Sie jetzt auf mich schießen, dann sterben wir alle! Also weg mit der Waffe!". Wannabe zögerte für einen Moment. Crawler aber nutzte die sich daraus ergebende Chance, lief auf ihn zu und zerrte ihn vom Ausgang weg, so daß er strauchelte und schließlich direkt in den - sich vor ihm öffnenden - Armen Lukas Svenssons landete. Timmy versuchte noch, dem flüchtigen Crawler zu folgen. Doch der hatte die scharfgemachte Handgranate inzwischen fallen gelassen und war schnellen Fußes durch den Felsspalt nach draußen entwichen.

Tim und Lukas, die noch von der Bombendetonation im russischen Bunker her mit dem schildkrötenhaften Prinzip des "Duck & Cover" vertraut waren, gingen in Anbetracht der unmittelbar bevorstehenden Explosion sofort und nahezu gleichzeitig in die Knie und preßten dabei ihre Oberkörper fest auf den schmutzigen steinernen Untergrund. Während Tim nur seine Hände schützend über dem Kopf hielt, hatte Svensson allerdings noch instinktiv in feinster Schutzengelmanier die breiten Flügel seines Regenmantels über Wannabe und seinen Onkel Fritz ausgebreitet und Beide kurzerhand mit sich zu Boden gerissen. Im selben Augenblick gab es einen ohrenbetäubender Knall im Höhleninnern, verbunden mit einem heftigen Beben des Erdbodens. Dann herrschte geradezu bedrückende Stille. Eine dicke Staubwolke hüllte das unterirdische Gewölbe minutenlang in einen dichten gräulichen Nebel. Erst als der sich lichtete, sah man unter der angehäuften Staubschicht die Umrisse der vier leblos am Boden liegenden Gestalten. Es war Timmy, der sich als Erster wieder hochrappelte. Vorsichtig wischte er sich mit den staubfreien Innenflächen seiner Hände über die Augen und den Mund, dann entdeckte er den ausgebreiteten Mantel des Ex-Inspektors und fiel unmittelbar neben ihm erneut auf die Knie. Wild rüttelte er abwechselnd an jedem der drei darunterliegenden Männer, ohne daß sich zunächst auch nur bei einem von ihnen ein Lebenszeichen zeigte. Hüstelnd, mit Millionen feinster Staubpartikel in der Kehle, schrie er, ganz außer sich: "Oh Gott! Bitte, bitte kommt doch zu Euch!". Es war die markante Stimme Wannabes, die seiner Aufforderung nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich als erstes nachkam: "Heulen Sie hier nicht so rum, Hackerman! Ihr mädchenhaftes Geflenne weckt ja Tote auf!". Damit löste er sich aus der Umklammerung Svenssons und richtete sich langsam wieder auf. Sorgsam tastete er seinen Körper nach möglichen Wunden ab, doch außer ein paar Schrammen schien der amtierende Yardchef völlig unversehrt. Erst als sein zufriedener Blick auf den staubbedeckten und an mehreren Stellen zerschlissenen Armani-Anzug fiel, änderte sich schlagartig sein Gesichtsausdruck, und er begann zu fluchen: "Nun schau sich das einer an! So ein verdammter Mist! Der war maßgeschneidert und nigelnagelneu. Über 500 Pfund hat mich das Schätzchen gekostet. Und meine Gucci-Treter sind auch völlig ruiniert. Wär ich bloß in London geblieben! Was hat mich nur geritten, mich freiwillig in die Katakomben dieses preußischen Dreckskaffs zu begeben?!".

Während sich nun auch Onkel Fritz nahezu unverletzt dem schützenden Zugriff seines Neffen entwand, tönte unter dessen ausgebreitetem Mantel als Antwort auf Wannabes Fluchen ein leises und dennoch recht tiefes Stimmchen: "Die reine Nächstenliebe, schätze ich mal!". Und nach einem kräftigen Nieser fügte die Stimme hinzu: "Sie sind eben ein echter Teufelskerl, Charles, mit einer beispiellosen Todesverachtung und einem sündhaft teuren Fummel am leidgeprüften Leib". Lukas Svensson erhob sich langsam niesend. Er schüttelte den Staub von seinem geliebten Schutzmantel und begann sogleich - mit beiden Händen wild kramend - den umfangreichen Inhalt seiner Taschen zu ordnen. Timmy, welcher derweil den glücklicherweise von der Detonation unversehrt gebliebenen Eingangsspalt ins Auge faßte, meinte zornig: "Dieser verfluchte Crawler! Der Mistkerl hätte uns doch tatsächlich alle hier verrecken lassen, und das, ohne mit der Wimper zu zucken. Und jetzt versucht der Feigling zu türmen, Aber nicht mit mir! Ich schnappe mir nämlich gleich mal mein Handy und dann rufen wir die ...". Seine Finger durchwühlten krampfhaft seine Jackentaschen. Dann plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: "So ein Aas! Dieser elende Verräter hat mir zu allem Übel auch noch mein geliebtes Handy geklaut. Jetzt wirds persönlich! Na warte, Bürschchen, Dich greife ich mir ...". Mit einem einzigen Satz war Tim Hackerman durch den Felsspalt verschwunden, noch ehe Lukas überhaupt die Chance gehabt hätte, ihn aufzuhalten.

Der Ex-Inspektor machte sich in Anbetracht des flüchtigen Gewalttäters Crawler zudem nun auch immer größere Sorgen um seine Yelena. Was, wenn der miese Kerl sie draußen am Ausgang überfallen und erneut als Geisel nehmen würde?! Noch einmal würde er das Ganze nicht durchstehen! Deshalb klopfte er seinem Onkel auf die verstaubten Schultern und raunte, von heftigen Niesern unterbrochen: "Onkel Fritz ... schau doch mal ... was ... was ... Yelena ... draußen macht!". Fritz Salomon, der ein paar Staubteilchen eingeatmet hatte und nun selbst kräftig zu husten begann, nickte und erwiderte: "Klar, Junge! Das mach ick doch glatt! Ick werde Deiner Yelena draußen ein wenig Gesellschaft leisten. Mit meinen mehr als 90 Lenzen sind meine Lungenflügel ja eh nicht mehr die besten. Und die gute Berliner Luft ist da für meine Gesundheit sicher förderlicher als der ganze Feinstaub hier drin!". Und mit einem kritischen Blick hinüber zu Charles Wannabe ergänzte er: "Der feine Pinkel und Du, Ihr kommt doch ohne mir klar, oder?!" Lukas nickte: "Keine Sorge, geh nur ruhig! Und hab mir ein wachsames Auge auf meine zukünftige Frau!".

Wannabe, der nun ganz allein mit Svensson zurückblieb, winkte nur müde ab: "Um Ihre Braut sollten Sie sich weit weniger Sorgen machen als um Ihre grauenhafte Stauballergie. Ihre Yelena ist draußen bei Ihrem Freund Jack eh schon in sicheren Händen". Svensson stellte für ein paar Sekunden das Niesen ein und fragte erstaunt: "Jack ist hier? Mein Freund Jack aus L.A.?". Wannabe aber schüttelte mitleidig den Kopf: "Nein, der hat nun in London mit der vorübergehenden Übernahme meines alten Postens als Leiter unserer Antiterroreinheit CI7 wahrlich Besseres zu tun, als hier mit auf Schatzsuche zu gehen. Ich meine ihren Kumpel Black Jack - den kleinen, mit allen Wassern gewaschenen Ex-Ganoven. Was seinen amerikanischen Namensvetter angeht, so hat der mich allerdings überhaupt erst auf Ihre Spur gebracht. Im Zuge meiner Ermittlungen bezüglich Freakadellys Tod und dem rätselhaften Verschwinden Ihrer Braut mitsamt ihren Entführern und dem Munchgemälde hab ich mich nämlich auch in Ihrer Wohnung umgeschaut. Keine Bange, ich hatte zwar keinen Durchsuchungsbeschluß, aber es war ja irgendwo Gefahr im Verzug. Und so eine ramponierte Wohnungstür ist ja auch schnell ersetzt, denk ich mal. Aber ich schweife ab! Auf Ihrem Anrufbeantworter - ich war übrigens erstaunt, daß sie so ein Teil überhaupt besitzen - fand ich eine Nachricht von eben jenem Jack aus L.A., der sich fragte, warum sein geschenktes Armband nebst Peilsender schon tagelang auf russischem Gebiet rumkurvte. Außerdem hinterließ er in der Nachricht seine aktuelle Handynummer, über die ich sofort Kontakt zu ihm aufnahm. Schon mit dem nächsten Flugzeug kam Ihr Freund nach London und leitete fieberhaft mit mir gemeinsam die weitere Spurensuche. Eins muß man Ihrem Ami-Agenten lassen, der hat einen siebten Sinn für Leute, die einem die richtigen Hinweise liefern können, und er weiß, wie man sie aus den Typen möglichst schnell und effektiv rauskitzelt. Mein neuer Amtsnachfolger im Yard, ein gewisser Herr Powerich, teilte uns bei unseren Nachforschungen zunächst einmal mit, daß mittels meiner CI7 Zugangsdaten in der streng vertraulichen Kowarnoakte zwei Änderungen getätigt wurden. Änderungen, die einzig und allein dazu dienten, zu verschleiern, daß seine Exfrau und Ihre zukünftige Braut ein und dieselbe Person sind. Da ich diese kriminellen Manipulationen nicht vorgenommen hatte, kamen Ihr Freund Jack und ich rasch zu dem Schluß, daß jemand aus dem Umfeld des Yard mein Paßwort geknackt haben mußte. Gleichzeitig berichtete uns Powerich, daß seit der Flugzeugentführung neben Ihnen auch mein ehemaliger Kollege Crawler ganz plötzlich verschwunden sei. Von Ihrem Freund George erfuhren wir zusätzlich, daß der gute alte Derrik sich auf Ihrem Junggesellenabschied mit Hochprozentigem reichlich zugeschüttet und meinem Schwiegervater dann eine Szene gemacht habe. Das ließ mich sofort noch stutziger werden. Aus unserer gemeinsamen Zeit beim Yard wußte ich schließlich noch, daß er gar keinen Alkohol vertrug und beim kleinsten Schluck sofort ähnlich heftige Niesattacken bekam wie sie von dem Staub hier. Also hakte ich nach. Und George verriet mir, daß er sich nach dem Nach-Hause-Bringen Crawlers und einem kleinen Absacker in dessen Wohnung plötzlich an nichts mehr erinnern konnte. Ein totaler Filmriß, wobei er erst nach fünf Stunden wieder aufwachte, und das, obwohl er eigentlich versprochen hatte, sie nach der Party nach Hause zu bringen. Da dämmerte es mir. Dieser Wurm Derrik mußte ihm irgendwas ins Glas getan haben. Jetzt mußte ich nur noch Eins und Eins zusammenzählen. Klar verfügte Derrik über genug Insiderwissen, um mein leicht zu erratendes Paßwort zu knacken. Wie oft hatte ich schließlich gerade ihm in unseren Mittagspause von meiner herrlichen Yacht vorgeschwärmt. Daß er allerdings mit meiner eigenen Frau im wahrsten Sinne des Wortes unter einer Decke steckte und mit ihr gemeinsam ein Mordkomplott zur Beseitigung meines Schwiegervaters schmiedete, darauf wäre ich nie im Leben gekommen. An dieser bitteren Pille werde ich wohl auch noch eine Weile zu schlucken haben. Wie dem auch sei: Ich schnappte mir Ihren alten Freund Black Jack Holmes als Flugbegleiter, und wir nahmen gemeinsam den nächsten Flieger nach Berlin. Et voila, hier bin ich! Gerade noch rechtzeitig zum explosiven Finale Ihrer Schatzsuche! Eine Frage hätte ich da allerdings noch, um mal eine Ihrer - von mir so lang vermißten - Lieblingsfloskeln zu bemühen: Wie um alles in der Welt kamen Sie denn nun dahinter, daß Derrik Crawler quasi der Wolf im Schafspelz war?".

Lukas Svensson fühlte sich sichtlich geschmeichelt, daß sein alter Widersacher Wannabe unterschwellig andeutete, ihn zu vermissen. Und so errötete er sogar ein wenig, während er die ihm gestellte Frage möglichst ausführlich zu beantworten versuchte: "Es machte mich natürlich erst einmal stutzig, als mir Crawler am Abend meiner Abreise plötzlich wie aus heiterem Himmel seine Mithilfe anbot. Wie schnell er mir dann Ihr geheimes Passwort präsentieren konnte, gab mir ebenfalls zu denken. Und auch seine überschwengliche Freundlichkeit mir gegenüber ließ mich nur noch skeptischer werden. Dennoch bemühte ich mich, letzteres einfach als eine Art Besinnung und Läuterung seinerseits anzusehen. Doch schon bei unserer Zugreise nach Moskau wurde ich erneut hellhörig. Die Sache mit der mysteriösen Alkoholallergie Crawlers irritierte mich genauso wie Sie. Beim Junggesellenabschied hatte der Kerl schließlich kein einziges Mal geniest. Also mußte er uns allen den ganzen Abend über den Betrunkenen nur vorgespielt haben. Mit diesem Wissen blieb ich argwöhnisch, auch als er wenig später mit mir zusammen - in einem Bunker eingesperrt - fast selbst ein Opfer Kowarnos wurde. Was meine Zweifel nur noch bestärkte, waren seine plötzlich so zahlreich vorhandenen Talente und Fähigkeiten, die ihn praktisch jede noch so aussichtslose Situation mit Bravur meistern ließen. Wir entkamen schließlich durch sein kaltschnäuziges Handeln dem sicheren Tod. Und dann wurde aus dem scheinbar so unterwürfigen Derrik mit einem Male ein zorniger Racheengel, der uns furchtlos schnurstracks zu Kowarnos Unterschlupf führte, als hätte er ihn bereits erahnt. In seiner Wut machte er gleich den nächsten großen Fehler. Er sprach Iwan Kowarno mit seinem zweiten Vornamen Iwanowitsch an, der aber nirgends in seinen Akten auftauchte und den er somit nur wissen konnte, wenn er Kowarno schon vorher persönlich kannte. Meine Yelena hat mir diesen Verdacht heute abend dann noch einmal bestätigt, als sie verriet, daß überhaupt nur Kowarnos engste Vertraute von seinem zweiten Vornamen wußten. Tja, als ich den guten alten Iwan dann kräftig in die Mangel nahm und er zum Auspacken bereit war, da knallten dem bisher so abgebrühten Crawler mit einem Male die Sicherungen durch, und er erledigte mit einem gezielten Schuß seinen unbequem gewordenen Teilhaber. Hinzu kam noch ein mysteriöses Telefonat mit seiner kleinen Freundin, einer gewissen Janet, die sich bei telefonischer Überprüfung dann als Ihre Noch-Ehefrau entpuppte. Aber auch beim Besuch im Hause meines Onkels hatte sich der gute Derrik in gleich drei Fällen recht stümperhaft verplappert. Er wußte sowohl um Ihre bevorstehende Scheidung als auch um das Hörgerät und die Ausstiegspläne Ihres Schwiegervaters, obwohl der mir all diese Dinge nur unter dem Mantel des Stillschweigens anvertraut hatte. Da erinnerte ich mich daran, daß Harold Freakadelly bei unserem letzten Zusammentreffen von einem komischen Knacken im Telefon sprach. Mit ziemlicher Sicherheit hatte Crawler das Büro seines Chefs verwanzt und unser ganzes Gespräch von einem Nebenzimmer aus belauscht. Das erklärte mir auch, wieso er von meinen Reiseplänen wußte und behaupten konnte, der Chiefsuperintendent selbst hätte ihn gebeten, mich auf der Suche nach meiner Yelena zu unterstützen. Alles in allem eine nette Ansammlung kleiner und großer Indizien, aber immer noch kein stichhaltiger Beweis. Und so kamen Timmy und ich beim Besuch der Berliner Gethsemanekirche - wo er in biblischer Weise seinem Verrat an mir mit einer Art Judaskuß quasi die Dornenkrone aufsetzte - auf eine recht ausgefallene Idee. Wir wollten ihn mittels der Aushändigung einer nicht geladenen Pistole im Angesicht des gefundenen Schatzes dazu bewegen, seine Maske selbst fallen zu lassen. Nun, und das tat er ja dann auch". Wannabe runzelte nachdenklich die Stirn: "Und Sie hatten dabei also von Anfang an auch nicht nur eine einzige Sekunde mich als den Drahtzieher hinter dem Ganzen in Verdacht?". Lukas schmunzelte ein wenig und erwiderte: "Klar standen Sie bei all den Verdachtsmomenten gegen Derrik Crawler dennoch als möglicher Yardmaulwurf lange Zeit an erster Stelle. Erst als ich von Harold Freakadellys gewaltsamem Ableben erfuhr, da war ich mir absolut sicher, daß Sie rein gar nichts damit zu tun haben. Und diese wichtige Erkenntnis verdanke ich einzig und allein dem Ermordeten selbst". Wannabe schien bei der Andeutung seines Gegenüber nur Bahnhof zu verstehen, und so erklärte Svensson weiter: "Nun, Ihr vestorbener Schwiegervater hat mir mehr als nur einmal deutlich zu verstehen gegegen, daß Sie neben sich selbst nichts mehr lieben auf der Welt als die Ihnen von ihm geschenkte Yacht, der Sie den Namen Ihrer leider viel zu früh verstorbenen Frau Mama verliehen haben. Nie im Leben hätten Sie Ihr geliebtes Mutterschiff in die Luft jagen können!". Charles Wannabe senkte andächtig sein Haupt und seufzte leise. Svensson registrierte die bedrückende Traurigkeit im Gesicht seines alten Kontrahenten und sah sich daher zu einem raschen Themenwechsel genötigt. So ergänzte er: "Nur mit Ihrem Auftritt hier und heute hatte ich dabei so ganz und gar nicht gerechnet, das muß ich anerkennend zugeben".

Wannabes Kopf schnellte augenblicklich wieder nach oben. Dabei zuckten seine Mundwinkel sogar ein wenig, fast so, als wollten sie ein Lächeln hervorbringen: "Alter Knabe, mit mir muß man immer rechnen. Außerdem konnte ich Sie ja nicht einfach so sterben lassen, ist mir doch Ihre schrullige Einfalt über all die gemeinsamen Jahre irgendwie ans Herz gewachsen. Und wenn Sie mir versprechen, es nicht weiterzuerzählen, dann verrat ich Ihnen noch etwas ...". Gespannt wartete Charles Wannabe auf die Reaktion des Ex-Inspektors, der sogleich schulterzuckend entgegnete: "Wie Sie sehen, ist hier außer Ihnen und mir keine Menschenseele. Und was mich betrifft, so kann ich schweigen wie ein Grab!". Einen Augenblick lang zögerte der amtierende Yardchef noch, dann aber raunte er: "Ach was solls! In ein paar Jahren ruht Ihr greises Haupt vermutlich eh in einer wohl eher bescheidenen Gruft. Und bis es soweit ist, werd ich Sie schon irgendwie vom Ausplaudern meines kleinen Zugeständnisses abhalten können. Warum soll ich einem kauzigen Mann wie Ihnen nicht auch mal ein kleines Erfolgserlebnis gönnen?! Was ich sagen will: Ich hab Sie irgendwie stets beneidet, um all Ihre Freunde und den kindlich-naiven Optimismus, mit dem Sie durchs Leben mit all seiner Boshaftigkeit und Mißgunst tappen. Ein aufrichtiger und von Grund auf ehrlicher Mensch unter all den kleinen und großen Speichelleckern, den ganzen bornierten Affen und überheblichen Snobs. So, nun ist es endlich raus! Und wie gesagt, wagen Sie bloß nicht, das rumzutratschen bei einem Ihrer wöchentlichen Seniorenkaffeekränzchen oder wo Sie sich nach Ihrer Pensionierung jetzt sonst noch so rumtreiben mögen". Abermals klopfte sich der kommissarische Yardchef notdürftig den verbliebenen Staub vom Maßanzug: "Gut, das wäre dann auch geklärt. Und nun bitte ich Sie, mich zu entschuldigen. Ihr schon jetzt mächtig staubaufwirbelnder Fund bringt nämlich noch so Einiges an Konsequenzen mit sich, wie ich fürchte: Zähe Verhandlungen zwischen Rußland und Deutschland um den Verbleib des Fundstücks, den leidigen Papierkrieg mit den zuständigen Behörden und vielleicht sogar die eine oder andere Pressekonferenz. Und nicht zu vergessen: Falls Ihr Freund Tim Hackerman erfolglos zurückkehren sollte, müssen auch noch ein paar internationale Haftbefehle gegen den flüchtigen Derrik Crawler sowie meine mörderische Noch-Gattin beantragt werden. Wenn Sie nichts dagegen haben, kümmere ich mich darum. Erstens haben Sie mit Ihren erneuten Hochzeitsvorbereitungen sicher andere Dinge im Kopf, und zum zweiten ist das eh eher etwas für einen - ich zitiere - karrieresüchtigen Armleuchter wie mich. Ja, ganz recht, Ihr Freund Jack Holmes hat sich da während unseres gemeinsamen Fluges ein wenig verplappert, was Ihre durchaus recht einfallsreichen Umschreibungen meiner Person betrifft. Nun, was solls?! Schwamm drüber! Wir sind uns also einig, daß ich all die beschriebenen Formalitäten rund um Ihren Fund in die Hand nehme?!". Wannabe schaute dem völlig sprachlos dastehenden Svensson sekundenlang tief in die Augen, dann räusperte er sich kurz und sprach: "Ich werte Ihr Schweigen als eine Art unausgesprochener Einverständniserklärung. Nun denn, an die Arbeit, Herr Ex-Kollege!". Damit machte er ohne ein weiteres Wort auf dem staubigen Hacken kehrt und verließ durch den Eingangsspalt das Gewölbe. Lukas Svensson aber blieb noch eine ganze Weile wie versteinert stehen. Dann griff er in seine Manteltasche und zog seinen - ihm von Harold Freakadelly überreichten - Pocket Dictator hervor. Der rote Aufnahmeknopf war gedrückt, und eine ebenso rote Leuchtdiode blinkte wild, und auf dem Display veränderten sich die Ziffern der angezeigten Aufnahmezeit im Sekundentakt. Kopfschüttelnd bemerkte der Ex-Inspektor schließlich: "Tja, da muß ich beim Aufräumen meiner Manteltaschen wohl zufällig draufgedrückt haben. Und nun hat das kleine Gerät hier alles aufgezeichnet, was mir Mister Wannabe ganz im Vertrauen erzählt hat. Ob ich das Eingeständnis seiner Bewunderung für mich für die Nachwelt aufbewahren sollte?! Ach was, ich werds wohl nach meiner Rückkehr in die Heimat einfach löschen, glauben würde mir das im Kreise meiner Bekannten eh keiner, denke ich!". Damit drückte er schmunzelnd die Stoptaste des Diktiergeräts und ließ es wieder in seiner Tasche verschwinden. Und dann verließ auch er das stickige Gemäuer mit den Worten: "Wenn wir uns statt in Berlin in Casablanca befänden, und wenn es sich nicht gerade um Wannabe handeln würde, dann wäre ich fast dazu geneigt zu behaupten, das hier eben könnte durchaus der Beginn einer langen Freundschaft unter Männern sein. Na gut, Spaß beiseite! Ich glaub, ich sollte mich jetzt lieber mal um meine Yelena kümmern und meinen Freund Jack draußen begrüßen!". Und mit einem letzten Blick auf die 24 eingestaubten und dennoch wie durch ein Wunder völlig unversehrt gebliebenen Schatzkisten um ihn herum ergänzte er sichtlich bewegt: "Was für ein denkwürdiger Tag!".

Lukas Svensson hatte gerade von den Gleisen aus den Bahnsteig der U-Bahn-Station Hausvogteiplatz erklommen, als ihm dort im Halbdunkel - völlig außer Atem - sein Freund Jack Holmes entgegenstolperte: "Lukas, mein Freund! ... Mensch, was bin ich froh ... Dich unversehrt wiederzusehen!". Jack Holmes riß seinen alten Kameraden an sich, nur um ihn schon im nächsten Augenblick wieder aus der Umarmung zu entlassen. Dabei verschwand mit einem Schlag all die Wiedersehensfreude aus seinem Gesicht, und an ihre Stelle trat blankes Entsetzen, während er zu stottern begann: "Mein Gott ... Lukas ... es ist ... ist etwas ... etwas ganz ... ganz Schreckliches geschehen!". Von unguten Vorahnungen getrieben, begann der Ex-Inspektor, seinen Freund sofort wie wild zu schütteln. Dazu brüllte er: "Was?! Was ist los? Ist etwas mit Yelena? Hat dieser Hundesohn Crawler ...". Jack Holmes entzog sich der verzweifelten Attacke seines Freundes und schüttelte stattdessen seinen Kopf wild hin und her: "Nein, Lukas! Mit Yelena ist alles in Ordnung. Aber die Einsatztruppe der Berliner Polizei, die inzwischen vor Ort ist, hat gerade über Funk durchgegeben bekommen, daß es am nächstgelegenen U-Bahnhof Stadtmitte eine gewaltige Explosion und einen tragischen Verkehrsunfall gegeben hat. Wie es aussieht, ist ein Mann, der von einem anderen auf den U-Bahngleisen verfolgt wurde, dort von einem leeren Zug erfaßt worden. Und das just in dem Moment, da er - um seinen Verfolger abzuschütteln - eine scharfgemachte Handgranate in Händen hielt. Der Fahrer der U-Bahn wurde durch die Wucht der folgenden Explosion mitsamt dem Führerhaus des Zuges regelrecht zerfetzt, und auch von dem flüchtigen Mann scheint nicht mehr viel übriggeblieben zu sein. Die Gleisanlage soll einem Schlachtfeld gleichen, überall nur Blut und Wrackteile. Und der Schienenverkehr ist verständlicherweise erst einmal bis auf weiteres unterbrochen". Lukas hatte Jack die ganze Zeit über entgeistert angestarrt, jetzt aber fragte er zögernd: "Und was ist mit dem, der den Mann verfolgt hat? Sag schon, Jack, was ist mit meinem Schützling und Freund Timmy?". Jack Holmes senkte seinen Blick, dann stammelte er: "Der dritte Mann soll sich durch die Detonation schwerste Verletzungen zugezogen haben. Und die hinzugerufenen Rettungsmannschaften kämpfen derzeit vor Ort verzweifelt um sein Leben". Nun senkte auch Lukas sein Haupt und sprach mit tränenerstickter Stimme: "Mein Gott, der arme Junge! Ich muß sofort zu ihm!". Beherzt sprang Svensson zurück auf die Gleise und rannte - als ginge es um sein eigenes Leben - in Richtung des U-Bahnhofs Stadtmitte in den Tunnel hinein, dessen düsteres Inneres ihn Sekunden später wieder völlig in sich aufgenommen hatte ...

EPISODE 20: EINE HOCHZEIT UND EIN TODESFALL

Blinzelnd öffnete Lukas Svensson die Augen. Die Morgensonne lugte vorsichtig durch das Fenster ins Schlafzimmer seiner Londoner Wohnung hinein und kitzelte sein Gesicht mit ihren ersten feinen Strahlen. Seine rechte Hand tastete die Bettstelle neben sich ab, wo sie zu seiner Verwunderung allerdings nicht den faszinierenden Körper Yelenas, sondern nur ein - noch warmes - weiches Federkissen und eine akurat zusammengelegte Bettdecke vorfand. Der Ex-Inspektor riß seine Augen weit auf und drehte den Kopf zur Seite. Tatsächlich, sie war nicht da und das Bett ordentlich gemacht. Mit einem Satz war Svensson aus dem Bett gesprungen und stand nun - immer noch ein wenig verschlafen - neben seinem eigenen, arg zerwühlten Nachtlager. Er blickte auf den Reisewecker auf seinem Nachttisch. Es war exakt 6.45 Uhr. Wo war sie nur? Er schaute sich im Zimmer um. Über die Lehne des Stuhls in der Ecke hingen ein weißes Hemd mit weinroter Krawatte und ein schwarzer Anzug sorgsam zusammengelegt, zu seinen Füßen standen die frischgeputzten schwarzen Lackschuhe Svenssons. Vom Flur her vernahm er in diesem Moment aus dem nahegelegenen Badezimmer ein leises Rauschen. Er folgte seiner Wahrnehmung und erspähte durch die leichtgeöffnete Badtür die Silhouette Yelenas hinter dem Duschvorhang. Vorsichtig öffnete er die Tür ein Stück weiter und trat ein. Yelena zog den Vorhang im selben Augenblick ein wenig zur Seite und strahlte ihn lächelnd an, während das heiße Duschwasser von ihren nassen Haaren herabtropfte: "Guten Morgen, Liebes! Schön, daß Du wach sein schon. Du haben heute volles Terminkalender. Du Dir auch sicher sein, daß Du das alles schaffen?". Svensson nickte verschlafen: "Keine Sorge, mein Schatz, ich bekomme das schon gebacken. Schließlich hatte ich zu meiner Zeit im Yard häufig noch viel mehr Termine an einem Tag". Yelena schüttelte den Kopf hin und her, daß die Wassertropfen zu Dutzenden nach beiden Seiten von ihrem feuchten Haar absprangen: "Nein, das ich nicht meinen, Luki! Ich mich sorgen, ob Du das überstehen von Gefühl her". Lukas verstand, was sie sagen wollte. Und sein Gesicht blickte betroffen auf den gefliesten Badezimmerboden, während er seufzte: "Ja, ich denke, ich packe das schon, auch emotional. Auch wenn es mir teilweise nicht ganz leicht fallen wird, vor allem die Beerdigung gleich heute morgen". Yelena riß den Duschvorhang nun ganz beiseite und entstieg dem feuchten Duschbecken. Notdürftig trocknete sie mit einem bereitliegenden Froteehandtuch ihren nassen Körper. Dann trat sie behutsam von hinten an ihren zukünftigen Mann heran und hauchte: "Dafür wir dann aber machen zweites Hälfte von Tag mit Hochzeit und Taufe von kleines Junge Luke um so schöner. Und gar nicht zu vergessen, wenn erstes Nacht brechen herein, wo Du und ich sein ganz offiziell Mann und Frau". Ganz eng preßte sie dabei ihren Körper an den seinen und küßte sanft seinen Nacken, daß ihm für einen Moment sogar die zahlreich vorhandenen Brusthaare unter seinem Pyjama zu Berge standen. Schließlich löste sie ihre Lippen wieder von seiner warmen Haut und hauchte ihm ins Ohr: "Und jetzt Du solltest gehen frühstücken. Heißes Kaffee und frisches Brötchen schon warten auf Dich in Küche". Lukas drehte sich zu ihr um und schenkte ihr ein erstes kleines Lächeln, gefolgt von einem zarten Kuß auf die noch ungeschminkten Lippen: "Ach, Yel, was würde ich nur tun, wenn ich Dich nicht hätte!". Yelenas Zeigefinger stupste frech gegen Lukas' Nase, während sie augenzwinkernd erwiderte: "Du jetzt würden küssen anderes frischgeduschtes, unbekleidetes Frau?!". Svensson aber schüttelte entschlossen sein fast haarloses Haupt: "Nein, mein Schatz! Früher, ja da hätte ich wahrscheinlich ganz genauso gedacht. Wenn nicht die, na dann eben eine andere. Aber seit ich Dich kennen und lieben gelernt habe, da bin ich mir absolut sicher, daß es im Leben einen Mannes nicht 5 oder 6 oder was weiß ich wieviel Richtige gibt, sondern nur die Eine, nach der man als Mann oft sein ganzes Leben lang sucht. Und wenn man ganz viel Glück hat, dann findet man sie, noch bevor es an der Zeit ist, seine Augen wieder zu schließen - so wie ich!". Noch einmal schmiegte sich Yelena ganz eng an ihren Lukas und sprach verzückt: "Das Du haben wieder einmal wunderschön gesagt. Überhaupt Du immer finden richtiges Wort für rechtes Moment. Und das ich so unheimlich bewundern an Dir. Auch ich nach schweres Zeit bei Dir endlich haben gefunden großes Liebe von mein Leben". Einen kurzen Moment lang lockerte sie die Umklammerung ihres Verlobten und ergänzte bedrückt: "Schade nur, daß wir zusammen nicht können haben Kind als Frucht aus großes Liebe". Lukas streichelte ihr tröstend mit dem Handrücken über die Wange: "Aber wir haben doch Kinder. Meine Tochter Lisa mag Dich sehr, das hast Du doch bei ihrem Überrschungsbesuch vorgestern gespürt oder nicht?!". Yelenas gesenkter Kopf nickte vorsichtig: "Ja, das ich haben gespürt. Sie sein ganz wunderbares junges Frau, so wie Vater!". Lukas aber ergänzte: "Und was Deine Tochter angeht, da hab ich schon jemanden drauf angesetzt, der sie mithilfe seiner umfangreichen Kontakte ganz gewiß aufspüren wird. Eigentlich sollte es ja eine Überraschung sein, aber was solls! Mein Informant hat mir nämlich gestern abend mitgeteilt, daß er noch heute im Laufe des Tages den neuen Familiennamen Deiner Tochter erfahren wird". Yelenas Blick erhob sich mit einem Ruck wieder, und sie schaute verblüfft: "Bosche moij! Mein Gott, Ich endlich werden wiederfinden mein Tochter? Oh, das ja zu schön sein würde um zu sein wahr! Ich so sehr haben vermißt mein Kind ganzes Zeit und haben soviel versäumt von ihr Leben! Daß Du das haben getan für mich, ich Dir nie im Leben werden vergessen. Ich Dich so sehr lieben!". Yelena schlang ihre beiden Arme zur Untermauerung ihrer Worte einmal mehr ganz fest um Lukas Hals und übersäte sein Gesicht wieder und wieder mit dankbaren Küssen.

Einige Stunden später stand der Ex-Inspektor in seinem schwarzen Anzug vor einem frisch ausgehobenen und mit Kunstgrasteppich ausgelegten schmalen Erdloch. Um ihn herum waren etwa dreißig Leute versammelt, die - wie er - mit ineinenander gefalteteten Händen ihren trauernden Blick gesenkt hielten. An der Stirnseite des Grabes, in das in diesem Augenblick eine silberne Urne herabgelassen wurde, stand ein Mann, dessen graues Hemd einen weißen Kragen trug, und der nun in feierlichem Ton das Wort an die Versammelten richtete: "Liebe Trauergemeinde! Auf grausamste Weise wurde ein Mensch aus unserer Mitte herausgerissen. Es geschah ganz plötzlich, und niemand konnte sich auf diesen Verlust vorbereiten. Das aber macht ihn nur umso schmerzlicher für uns, die wir heute hier als seine Witwe, seine Familie, seine Freunde und Kollegen im Angesicht seiner sterblichen Überreste traurig und fassungslos zurückbleiben. Harold Freakadelly war ein herzensguter und beliebter Chef. Er war stets bemüht, trotz all seiner verantwortungsvollen Arbeit auch für seine Familie da zu sein. Seiner Frau war er zu allen Zeiten ein liebevoller Ehemann, seiner Tochter ein guter Vater. Und dennoch hat eine dunkle Macht von seinem Kinde Besitz ergriffen, die es dazu verlockte, seiner sprühenden Lebenslust ein so jähes Ende zu bereiten. Sie dafür heute und hier zu richten, das aber liege uns ferne. Wir sollten diese Aufgabe den weltlichen Gerichten und letztlich unserem Schöpfer überlassen, der einst über uns alle Recht sprechen wird am Tage des Jüngsten Gerichts. Was uns an diesem Tage bleibt, ist die stille Erinnerung an einen Menschen, der gerade im Begriff war, vor seinem geistigen Auge seinen Lebensabend in den schillernsten Farben zu planen, als unverhofft die düstere Todesnacht über ihn hereinbrach. Wir sollten Harold Freakdelly dabei so im Gedächtnis mit uns tragen, wie wir ihn gekannt haben. Ich persönlich zum Beispiel kannte ihn als eifrigen Vorstand unserer Kirchengemeinde, der stets entschlossen und dennoch auch gütig und einlenkend für die Belange unserer Kirche eintrat. So manches Mal war es sein gewinnendes Wesen, das bei unseren großzügigen Spendern ein paar Pfund für notwendige Baumaßnahmen und Investitionen loszueisen vermochte. Mit ebenso fester Hand leitete er seine Untergebenen. Und auch hier zeigte er sich durchaus immer wieder kompromißbereit, wie mir die ihm Unterstellten in Vorbereitung meiner heutigen Rede zu berichten wußten. Nun, da sich seine unsterbliche Seele auf den Weg gemacht hat, vor ihren Schöpfer zu treten, um dann auf ewig bei ihm im Paradiese zu weilen, verneigen wir uns noch einmal in Ehrfurcht vor den spärlichen Überresten seines vergänglichen Leibes. Leb wohl, Harold Freakadelly! Unsere Gedanken sind bei Dir, und unser ganzes Mitgefühl ist bei denen, die mit uns gemeinsam trauernd hier auf Erden zurückbleiben". Damit gab er dem Urnenträger ein Zeichen, auf welches dieser das silberne Behältnis langsam in das dunkle Erdloch absinken ließ. Der Geistliche aber bekreuzigte sich mit zu Boden gerichtetem Blick vor der Brust, während er sprach: "Asche zu Asche, Staub zum Staube. Von Erde bist Du genommen, zu Erde sollst Du wieder werden. Der Herr aber wird Dich dereinst auferwecken von den Toten und mit sich zum ewigen Leben führen. Amen!". Ein einzelner kräftiger Sonnenstrahl kämpfte sich im selben Moment durch die dichten Kronen der umstehenden Bäume und erleuchtete dabei strahlend den mit goldenen Lettern im schwarzem Granit des aufgestellten Grabsteins eingemeißelten Namen des Verstorbenen. Die Trauernden erhoben ihren Blick zum wolkenlos blauen Himmel und stimmten auf das Zeichen des Pfarrers mit dem wohlkingenden Namen Matthew Prayer das Lied "Nearer My God to Thee" an. Nur Janet Freakadelly, die Tochter des Toten, die eingerahmt von zwei Polizeibeamten in Zivil in Handschellen ein wenig abseits stand, hielt ihren versteinerten Blick gesenkt und blieb stumm.

Am Grabe Freakadellys war das gemeinschaftlich angestimmte Trauerlied inzwischen verklungen, und die Anwesenden traten nun einzeln an die Grabstätte heran. Sie legten dort ihre Blumen und Kränze nieder - allen voran die Witwe, gefolgt von Charles Wannabe, der im Namen des Yard einen großen Kranz mit goldfarbener Schleife niederlegte. Darüber aber breitete er kniend den sorgsam zusammengefalteten Union Jack aus. Und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte der nahe dabei stehende Svensson mit seinem eigenen tränenschwangeren Blick auch im Auge seines ehemaligen Kollegen ein leichtes feuchtes Glitzern zu erkennen. Sollte Wannabe tatsächlich soetwas wie ehrliche Gefühle haben? Er wollte diesen Gedanken schon beiseite wischen, aber der inzwischen vom Grabmal zurückgetretene amtierende Yardchef schien ihn bereits erahnt zu haben. Und so wischte er sich mit dem Ärmel seines dunkelgrauen Nobelanzugs über die zusammengekniffenen Augen und raunte Lukas Svensson im Vorübergehen zu: "Nur keine falschen sentimentalen Schlüsse, Sie alter Knochen! Mir ist da nur ein Sandkorn ins Auge geflogen. Der Wind, Sie verstehen?!". Damit war er auch schon am Ex-Inspektor vorbeigehuscht und verließ schnellen Schrittes - vorbei an der Menge der Trauernden - durch einen Seitenausgang das Friedhofsgelände. Lukas aber feuchtete den Zeigefinger seiner rechten Hand mit der Zunge ein wenig an und hielt ihn prüfend in die Höhe. Kein Windzug war zu verspüren, auch nicht ein einziges laues Lüftchen. Kopfschüttelnd trat nun auch er an die Grabstelle Freakadellys heran. Dabei fiel sein sich senkender Blick erst auf den goldenen Namenszug auf dem Grabstein und dann auf die im Erdreich versenkte Urne. Eine Sekunde lang ballten sich wütend seine Fäuste, dann aber faltete er die sich wieder öffnenden Hände ruhig vor seinem recht umfangreichen Bauch. Tränen schossen ihm in die Augen und strömten über sein Gesicht dem kühlen Erdreich entgegen. Und schluchzend flüsterte er: "Du wirst mir fehlen, alter Freund. Ich hätte Dir Deinen langersehnten Ruhestand im 'Gasthaus an der Themse' so sehr gegönnt. Doch es hat nicht sollen sein! Ja, Harry, das Leben ist kurz, oft kürzer als wir denken. Wir sollten uns angewöhnen, jeden Tag und jede Stunde so zu leben und auszukosten, als könnten es unsere letzten sein. Augenblicke wie dieser erinnern einen immer wieder recht schmerzlich an diese Einsicht. Du hast mir einst das Leben gerettet, bei jener großen Gefängnisrevolte in Nordirland vor drei Jahren. Dein Verhandlungsgeschick vollbrachte es damals, den Geiselgangster zum Aufgeben zu bewegen, als er mich während eines gescheiterten Alleingangs überwältigt hatte und die herbeigerufene Spezialeinheit schon mit der gewaltsamen Stürmung der Haftanstalt drohte, ohne Rücksicht auf mich und die anderen 11 Geiseln. Ich wünschte, ich wäre vor ein paar Tagen auch zur Stelle gewesen, um Dich zu retten. Doch es war mir leider nicht vergönnt. Ich danke Dir, mein Freund, für alles! Und ich werde Dein Andenken auf ewig in meinem Herz bewahren! Leb wohl, Harry! Und das hier ist für Dich! Klein und unscheinbar wie wir Menschen und dennoch von Gott mit aller Liebe zum Deteil wunderbar und einzigartig kreiert!". Mit diesen Worten zog er die weiß-gelbe Blüte eines Gänseblümchen aus dem Knopfloch seines Anzugs hervor und legte es sorgsam auf dem Deckel der Urne ab. Lukas verbeugte sich noch einmal tief vor dem Grabe, dann trat er zurück in den Trauerzug, der sich wenige Momente später in Richtung Friedhofstor entfernte - an seiner Spitze der Pfarrer und am Ende die mit Handschellen gefesselte Tochter des von ihr Ermordeten, beidseitig dicht gefolgt von den zwei sie begleitenden Beamten.

Die trauernde Gemeinde passierte auf dem langen, sandigen Friedhofsweg auch eine noch recht frisch anmutende Grabstätte, die kein teurer Grabstein und keine Blumen zierten. Nur ein schlichtes, aus zwei krummen Holzpflöcken selbstgezimmertes Kreuz stand lieblos in den weichen Erdboden gerammt. Und ein mit Plastikfolie ummanteltes Blatt Papier zeugte von dem Namen des hier im feuchten Erdreich zu Grabe Liegenden: "D.Crawler". Eine Sekunde lang blieb Lukas Svensson auch vor jenem armseligen Erdhügel stehen. Er bekreuzigte sich, und in Gedanken an Crawler und seine Gespielin Janet sowie Kowarno und dessen Gehilfin Katja formten seine zitternden Lippen dabei ein leises: "Vater, vergib ihnen! Denn sie wußten nicht, was sie taten!".

Der restliche Trauerzug war inzwischen nur noch wenige Schritte von der Eingangspforte des Friedhofs entfernt. Auch Janet Wannabe war schon im Begriff, am stehengebliebenen Ex-Inspektor vorbeigeführt zu werden, als Svensson in unmittelbarer Nähe seines rechten Ohres ein kurzes pfeifendes Geräusch vernahm. Ein paar Meter von ihm entfernt sank zeitgleich die Freakadellytochter zum Entsetzen ihrer Bewacher zu Boden und blieb dort regungslos liegen. Aus ihrem Oberkörper aber sickerte schon wenige Augenblicke später Blut auf die sorgsam geharkte Erde des Friedofsweges und bildete eine immer größer werdende, dunkelrote Lache. Panik hatte die gesamte Trauergemeinde ergriffen, und so liefen nun unzählige Menschen weinend und kreischend völlig ziellos durchs Gelände, um schließlich irgendwo mit schlotternden Knien hinter Bäumen und Grabsteinen in Deckung zu gehen. Lukas Svensson war als Einziger seelenruhig stehengeblieben und hielt dabei Ausschau nach der Position eines vermeintlichen Heckenschützen. Dank seiner jahrzehntelangen kriminalistischen Erfahrung wurde er dabei auch rasch fündig. Das Dach des hiesigen Krematoriums bot geradezu perfekte Sichtverhältnisse für die Optik eines Scharfschützengewehres. Einer der beiden anwesenden Polizeibeamten hatte wohl die gleichen Schlüsse gezogen und rannte bereits in Richtung des zirka 200 Meter entfernten Gebäudes. Sein Kollege kauerte über der am Boden liegenden Freakadellytochter und orderte über sein Funkgerät einen Rettungswagen. Lukas lief zu ihm herüber und erkundigte sich aufgeregt: "Was ist mir ihr? Ist sie etwa ...?". Der Polizist legte sein Walkietalkie beiseite und schüttelte den Kopf: "Nein, tot ist sie nicht. Aber sie ist schwerverletzt und verliert unheimlich viel Blut. Die Kugel scheint etwas oberhalb des Herzens in ihren Brustkorb eingedrungen zu sein und dort festzustecken. Jedenfalls gibt es keinerlei Austrittswunde". In diesem Augenblick kehrte auch der andere Beamte völlig außer Atem von seiner Jagd auf den Attentäter zurück. An seinen Kollegen gewandt, keuchte er: "Der Kerl ... muß auf ... auf dem Dach gelauert ... haben. Ich ... ich hab da ein ... Snipergewehr plus einer leeren Patronenhülse gefunden und ... und einen Zigarrenstummel ... Aber der Schütze selber ... war schon ... schon weg". Seine Schultern zuckten, während aus der Ferne bereits das lauterwerdende Geräusch mehrerer Sirenen zu vernehmen war. Wenig später bahnten sich ein Notarzt und ein Rettungsassistent mit einem Notfallkoffer den Weg durch die Traube der Schaulustigen, die sich am Eingangsbereich des Friedhofs versammelt hatte. Niemand der Anwesenden bemerkte in dem Getümmel, wie ein Typ im schwarzen Regenmantel über die Friedhofsmauer sprang und dann am Straßenrand in einen bereitstehenden schwarzen Mercedes stieg. Der Mantelträger startete den Motor und schaute mit seinem einen grünen Auge in den Rückspiegel, während sein anderes blaues Auge die Menschenansammlung im Blick behielt. Dabei murmelte er: "Tja, Täubchen, tut mir leid! Aber ich kann nun mal niemanden gebrauchen, der weiß, wie ich aussehe. Schließlich hab ich mir meine Tarnidentität hier in England nach dem Ende der DDR nicht so mühevoll über all die Jahre bewahrt, um sie mir dann von Typen wie Kowarno, Crawler oder gar Dir wieder kaputtmachen zu lassen. Und nun, da ich auch Dich mundtot gemacht habe, gibt es da eigentlich nur noch eine einzige Person, die mich wiedererkennen könnte, Kowarnos Exfrau Yelena. Aber keine Sorge, um die kümmere ich mich zu gegebener Zeit auch noch, so wahr ich Paul Vorberg heiße!". Dreimal laut hupend bahnte sich daraufhin der Wagen mit dem silberglänzenden Stern auf der Kühlerhaube den Weg durch die Menschenmassen hindurch, nur um Sekunden später sogleich wieder inmitten des dichten vormittäglichen Verkehrs auf Londons überfüllten Straßen spurlos zu verschwinden.

Die Taschenuhr des Ex-Inspektors zeigte exakt 12 Uhr mittags, als Lukas Svensson nach kurzer Fahrt durch die schmalen Gassen der englischen Haupstadt sein Fahrrad im Ständer des "Chelsea and Westminster Hospital" abstellte. Er hatte den Friedhof nach Aufnahme seiner Personalien durch die herbeigerufene Metro Police verlassen und noch einen kurzen Abstecher zu Tim Hackermans Wohnung gemacht, wo er als Überraschung für seinen jungen Freund noch ein - für Timmy nahezu unentbehrliches - Mitbringsel abgeholt hatte. Selbiges klemmte sich der Ex-Inspektor nun eilends unter den Arm und raste damit durch die Eingangshalle sowie über die Stufen im Innern des angrenzenden Treppenhauses. Zahlreiche Gedanken spukten dabei die ganze Zeit durch seinen Kopf: Wer hatte auf Janet Wannabe geschossen? Wollte jemand den Tod Harold Freakadellys rächen? Oder handelte es sich um einen Terrorbruder aus Crawlers und Kowarnos Umfeld, der eine unliebsame Mitwisserin zum Schweigen bringen wollte? War es vielleicht gar dieser Stasi-Vorberg, von dem ihm Yelena erzählt hatte? Oder gab es da noch einen ganz Anderen - einen Unbekannten, von dem weder er noch seine zukünftige Braut etwas ahnten? Fragen über Fragen. Und dennoch hatte er keine Zeit für die Suche nach Antworten - nicht heute. Nein, er war außer Dienst und mußte die Ermittlungen vertrauensvoll Charles Wannabe und seinen Polizeikollegen überlassen. Und außerdem war er jetzt unterwegs zu einem wichtigen Krankenbesuch. Und so lief Svensson nun über den langen hellblauen Flur der Unfallchirurgie im ersten Obergeschoß und blieb schließlich vor dem Zimmer mit der Nummer 241 stehen. Hier lockerte er noch kurz die am Hals recht eng anliegende Krawatte und klopfte dann aufgeregt an die Tür, hinter der ihn eine dünne, junge Männerstimme sogleich zum Nähertreten aufforderte.

Lukas Svensson folgte der Aufforderung und stand nun vor dem Bett eines - bis auf die Arme - nahezu am ganzen Körper mit weißen Binden umwickelten Patienten, der auf seinem Lager langsam den Kopf ein wenig zur Seite drehte. Das sichtlich schmerzverzerrte Antlitz Timmys starrte dem Besucher entgegen: "Mensch Lukas! Was bin ich froh, Dich gesund und munter hier zu sehen! Ich hab nämlich grad in den Nachrichten gehört, daß es bei der Beisetzung unseres Chefs ein Attentat mit einer schwerverletzten Person gab. Und da war ich schon in großer Sorge, es könne sich um Dich handeln. Erzähl doch mal, was ist denn geschehen?". Haargenau berichtete Svensson seinem Schützling alles über den Anschlag auf Freakadellys Tochter. Timmy lauschte den Ausführungen des Ex-Inspektors gespannt, und die ganze Zeit stand sein Mund dabei weit offen. Als Lukas seine Schilderung schließlich beendet hatte, blieb es noch etwa eine Minute lang ganz still im Krankenzimmer. Lukas nutzte jenen stillen Moment, um das Gesicht und den Körper seines - fast bis zur Unkenntlichkeit einbandagierten - Freundes eingehender zu betrachten. Immer größer wurde dabei der Kloß, der sich in seinem Hals bildete. Da endlich brach Timmy das bedrückende Schweigen mit der in den Raum geworfenen Frage: "Sag mal, was wird denn nun eigentlich aus Deiner bevorstehenden Trauung? Willst Du die nach dem Anschlag auf dem Friedhof jetzt vielleicht erstmal verschieben?". Energisch winkte Lukas Svensson ab: "Ich habe nach dem Vorfall natürlich gleich mit Yelena telefoniert. Und in einem sind sie und ich uns hundertprozentig einig. Die Hochzeit findet wie geplant statt. Nichts und niemand könnte uns diesmal davon abhalten!". Timmys Augen strahlten, während er ausrief: "Recht so, Lukas!". Dabei streckte er, so gut es in seinem Zustand eben ging, den Daumen seiner - zur Faust geballten - rechten Hand anerkennend in die Höhe. Und mit einem Blick auf die große Wanduhr im Zimmer ergänzte er rasch: "Allerdings solltest Du Dich dann möglichst bald mal auf den Weg zur Kirche machen, anstatt hier stundenlang meinen stark mumifizierten Körper anzustarren. Die Ärzte nennen mich übrigens aufgrund meiner unfangreichen Verhüllung scherzhaft Tim-Ench-Amun. Und weißt Du, was das einzig Positive an meinem derzeitigen Zustand ist?! Die jungen hübschen Schwestern kümmern sich morgens und abends eingehend um Körperteile, zu denen zuvor - außer meiner Frau Mama in meinen ersten Lebensjahren - noch nie eine Frauenhand vorgedrungen ist". Lukas, der noch bis eben mit äußerst betretener Miene dagestanden hatte, mußte nun unweigerlich schmunzeln: "Na, den Humor hat man Dir jedenfalls trotz all der zahlreichen Verletzungen und der daraus resultierenden Schmerzen anscheinend nicht nehmen können". Timmy schüttelte behutsam sein eng umwickeltes Haupt: "Nein, für die Schmerzen bekomm ich ja auch meine Drogen. Ganz legal und vom Chefarzt höchstpersönlich als meinem Dealer". Lukas schmunzelte nochmals, dann jedoch wurde sein Gesichtsausdruck sogleich wieder deutlich ernster: "Nun aber mal ehrlich, Timmy, was sagen denn die Ärzte?". Timmys Blick entzog sich dem seines Gastes. Und von Lukas abgewandt in Richtung Fenster blickend, stammelte der junge Mann ein wenig traurig: "Was sie sagen, ist bitter. Bitterer als jede Medizin. Es werden Narben bleiben, überall am Körper, auch im Gesicht. Und ein Granatsplitter steckt in meinem Rücken fest. Sie haben gestern versucht, ihn rauszuoperieren, aber er sitzt zu dicht am Rückenmark. Ein Spezialist aus den Staaten wird übermorgen eingeflogen, der einen weiteren Eingriff versucht. Bleibt auch der erfolglos, dann bin ich vermutlich zeitlebends von der Hüfte ab gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt. Und selbst wenn die OP glücken sollte, stehen meine Chancen, wieder laufen zu können, maximal bei 50 Prozent". Dicke Tränen kullerten aus den eingesunkenen Augenhöhlen heraus unter die Verbände von Timmys vermummtem Gesicht. Auch Lukas Svensson mußte schlucken. Um seinen Schützling ein wenig aufzumuntern, reichte er ihm das mitgebrachte Notebook herüber, welches er bislang sorgsam hinterm Rücken verborgen gehalten hatte. Timmy wischte sich mit einem Papiertaschentuch aus der Box auf seinem Nachttisch die Tränen fort und umklammerte mit aller Kraft die Hand des Ex-Inspektors: "Das Du bei all der Aufregeung vorhin noch daran gedacht hast! Danke, Lukas! Jetzt hab ich wenigstens wieder ein paar kleine Fenster, über die ich Verbindung zur Außenwelt aufnehmen kann. Ich werde mir die Zeit bis zur OP damit verkürzen, daß ich mich schonmal nach geeigneten Reha-Angeboten umschaue. Und für den Fall der Fälle such ich mir auch schon ein paar elektrische Rollstühle raus, mit allen technischen Raffinessen versteht sich. Geld genug dafür hab ich ja jetzt mit den umgerechnet 100.000 Pfund, die die Deutsche Regierung für das Wiederauffinden des Bernsteinzimmers für jeden von uns vier am Fund beteiligten Männern hat springen lassen. Nur zu schade, daß unsere sensationelle Entdeckung auf Beschluß von Rußland und Deutschland noch ein paar Jahre geheim gehalten werden soll. Zumindest solange, bis es von Fachleuten komplett restauriert ist und in das dann hoffentlich fertiggestellte Berliner Stadtschloß einziehen kann. Übrigens eine kluge und gerechte Übereinkunft beider beteiligten Staaten, die Vertäfelung nun doch wieder an ihrem ursprünglichen Platz ausstellen zu lassen, während Rußland die - erst vor ein paar Jahren so mühevoll fertiggestellte - Kopie behält. Und wie ich gehört habe, war unser Charlie Wannabe ja auch ziemlich maßgeblich an den Verhandlungen darüber beteiligt. Apropos Wannabe und Co, was gibts eigentlich Neues in unserem geliebten Yard, Lukas?".

Im Stil eines Oberlehrers hob Lukas seinen Zeigefinger bedeutungsvoll in die Höhe und antwortete: "Oha, da tut sich so einiges, mein Freund! Die Führung des Yard übernimmt Anfang kommenden Jahres provisorisch noch einmal der alte Eddi Wallace, der zurückkehrt, um das Erbe seines Nachfolgers würdig fortzuführen. Zumindest solange, bis wieder ein geeigneter Mann für den Posten gefunden ist. Mein Freund Jack aus L.A. leitet bis auf Weiteres kommissarisch die Antiterroreinheit CI7, während sich Charles Wannabe nun gänzlich aus dem Polizeidienst zurückzieht und stattdessen beruflich ganz neue, eigene Zukunftspläne verfolgt". Timmy schaute ein wenig nachdenklich, dann sagte er: "Nun ja, dann steckt Mister Wannabe seine Belohnung also nicht nur in einen neuen Maßanzug, neue Lackschuhe und eine neue Yacht, sondern auch in einen kompletten Neuanfang. Soviel Mut zum Risiko hätte ich dem karrieresüchtigen Schnösel ehrlich gesagt gar nicht zugetraut. Aber nun mal wieder zurück zu Dir. Da wäre noch was, was ich Dich unbedingt fragen wollte. Daß Dein Onkel Fritz den Großteil des Geldes für die Kirche und den Wiederaufbau des Stadtschlosses spendet, das weiß ich ja. Und was Wannabe mit seinem kleinen Vermögen vorhat, weiß ich jetzt auch. Aber was machst Du eigentlich mit dem ganzen Geld?!". Lukas zögerte einen Moment, dann antwortete er: "Ich werd einen Teil für die Zukunft meiner Tochter Lisa anlegen, ein anderer Teil wird in die ausgedehnte Hochzeitsreise von Yelena und mir investiert. Und mit dem Rest hab ich etwas vor, was ich vorerst noch ein wenig geheimhalten möchte. Ich verrat es Dir, wenn Du erstmal wieder auf den Beinen bist". Svenssons Blick fiel dabei unweigerlich auf die zwei unteren Extremitäten seines Freundes, die regungslos unter der Bettdecke am Fußende des Krankenhausbettes lagen. Lukas schaute in Tims Gesicht und probierte, ein wenig zu lächeln, um seinem Schützling Mut zu machen. Doch es gelang ihm ebenso wenig wie Timmy selbst. Es war einfach zu schrecklich zu sehen, wie hilflos der einst so lebenslustige Jüngling hier vor ihm lag und dabei versuchte, tapfer und stark zu sein, obwohl ihm innerlich sicher permanent nur zum Heulen zumute war. Timmy hob bedächtig den linken Arm und klopfte Lukas gegen die Brust: "Kopf hoch, Sir! So schnell geben wir Zwei doch nicht auf, haben wir doch in den vergangenen Tagen ganz andere Katastrophen und Tiefschläge überstanden. Apropos Katastrophe! Wenn Du Dich jetzt nicht schleunigst vom Acker machst, dann blüht Dir ganz sicher auch eine, und zwar von Deiner vorm Altar auf Dich wartenden Braut! Einen Hochzeitstermin mußtet ihr Beiden ja schließlich schon sausen lassen. Also los jetzt! Ach ja, und grüß Deine Yelena von mir! Und falls Du auf der Hochzeitsfeier heute abend diese neue Chefsekretärin Sabrina Meltstone mit dem süßen Stimmchen unter Euren zahlreichen Gästen entdeckst, dann bestell auch ihr einen ganz lieben Gruß von Bandagen-Timmy. Sag ihr, unser - seinerzeit in Berlin telefonisch vereinbartes - Treffen verschiebt sich um ein paar Tage, weil ich gerade einen mehrwöchigen Erholungsurlaub in Chelsea und Westminster mache. Und frag sie doch mal, ob sie nicht eine Emailadresse hat, die sie Dir für mich geben kann. Machs gut, mein Freund! Ich wünsch Dir und Deiner Frau alles Glück der Welt!". Kräftig schüttelte er minutenlang Lukas' Hand. Der Ex-Inspektor aber flüsterte: "Danke Timmy! Und auch Dir alles Glück! Ich werde für Dich und Deine baldige Genesung beten!". Dann drehte er sich verstohlen um und verließ schnellen Schrittes das Krankenzimmer. Draußen ließ er die Tür leise hinter sich zufallen. Und innerlich wie äußerlich in sich zusammensinkend, murmelte er - mit dem Rücken an der hellblaue Flurwand Halt suchend: "Lieber Gott! Bitte hilf dem Jungen! Nimm Dich seiner an und gib ihm Kraft, all das durchzustehen, was auf ihn zukommt! Vergib mir, und laß mich mir auch selbst vergeben, daß ich nicht da war, um ihn vor diesem Schicksalschlag zu bewahren! Amen!"

Es war 13.56 Uhr, als Lukas - völlig außer Atem und mit einem Strauß aus 24 roten und weißen Rosen bewaffnet sowie einem kleinen Ansteckstrauß im obersten Knopfloch seines Anzugs - mit seinem Drahtesel vor der gigantisch anmutenden "Saint Pauls Cathedral" anlangte. Sein Freund George stand bereits parat, um das zweirädrige Gefährt des Inspektors in Empfang zu nehmen. Dabei warf er einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr und raunte: "Meine Güte, Lukas! Wie immer auf den letzten Drücker. Zieh Deinen Schlips gerade, wisch Dir den Schweiß aus dem Gesicht und dann nichts wie ab zum Altar!". Lukas zerrte aufgeregt an seiner Krawatte und tupfte sich dann mit seinem - der Hosentasche rasch entrissenen - Stofftaschentuch die feuchte, kahle Stirn. Dabei schaute er George ganz erwartungsvoll an und fragte: "Und alles klappt so wie ausgemacht?". George nickte: "Alles wie verabredet! Deiner Yelena wirds bestimmt gefallen. Und was Eure Gäste angeht, die werden Black Jack und ich inzwischen schon bei Laune halten". Lukas begab sich schnellen Schrittes zum Seitenportal der Kathedrale, wo bereits Onkel Fritz - herausgeputzt im schwarzen Anzug - auf ihn wartete. Der Onkel packte seinen Neffen am Ärmel und zerrte ihn mit sich ins Kathedraleninnere, während just im selben Moment vor dem Haupteingang eine blumengeschmückte weiße Kutsche vorfuhr und hielt. Lukas Svenssons Augen mußten sich erst an das Halbdunkel des Kircheninnern gewöhnen, dann aber sah er sich um und war überwältigt von der Größe und Pracht des monumentalen Bauwerks. Hier hatte einst Prinz Charles seine Lady Diana - die Königin der Herzen - geehelicht. Und nun stand er unmittelbar davor gleiches mit seiner Herzenskönigin zu tun und war dabei fest davon überzeugt, daß seine Ehe von mehr Erfolg gekrönt sein würde als die seiner königlichen Vorreiter. An der Seite von Onkel Fritz schritt Lukas langsam und bedächtig zum Altar, während im Hintergrund die anwesende Kapelle die ersten Takte des Hochzeitsmarsches von Felix Mendelssohn Bartholdy zu intonieren begann.

Auch auf der Gegenseite der Kapelle öffnete sich die kleine Eingangspforte, durch die sogleich Inspektor Powerich und Chiefsuperintendent Wannabe die Kirche betraten. Powerich blieb unmittelbar in Türnähe neben einer hübschen, jungen Lady stehen, die ihn durch ihr attraktives Äußeres und ein verführerisches Lächeln sofort in ihren Bann zog. Mit dem Zeige- und Ringfinger seiner rechten Hand griff er sich an die Stirn, während er dazu - um einen Flüsterton bemüht - seine sanfte Baßstimme ertönen ließ: "Maam, gestatten Sie, daß ich mich Ihnen bekanntmache?! Powerich, mein Name, John Wayne! Nicht verwandt oder verschwägert mit dem gleichnamigen Westernhelden. Von Beruf Inspektor beim Yard, altersmäßig in den besten Jahren und - das dürfte Sie wohl am meisten interessieren - ledig und noch zu haben". Die junge Lady mit dem Pferdeschwanz schüttelte lachend den Kopf, wobei ihre Mähne verwegen hin und her flatterte: "Spinner! Aber wenn Sie unbedingt wissen möchten, wer sich da gleich Ihrem unwiderstehlichen Charme zu entziehen vermag: Ich heiße Lisa, Lisa Svensson. Ich studiere Musik, spiele Geige und bin schätzungsweise ein Dutzend Jahre jünger als Sie. Auch ich bin ledig und durchaus noch zu haben. Nur muß, wer mich will, schon ein wenig mehr aus dem nicht vorhandenen Hut zaubern als ein paar plumpe Machosprüche! So long, Cowboy!". Damit stolzierte sie lächelnd von dannen, nicht ohne nochmal einen kurzen Blick zurück zu werfen, um sodann in einer der vorderen Holzbankreihen Platz zu nehmen. Powerich aber schaute ihr leise pfeifend nach, während er bei sich dachte: 'Das Fohlen von meinem berühmten Amtsvorgänger gefällt mir. Die Kleine hat Feuer im Blut und Haare auf den Zähnen. Eine Kombination, die durchaus ihre Reize hat. Genau wie ihr schnuckliges Äußeres. Alter Schwede, ich glaube, Johnny hat sich soeben verliebt!'. Die Svenssontochter schaute währenddessen noch einmal zu ihm herüber und lächelte verschmitzt, bevor sie ihrem Vater am Altar zuzwinkerte, der ihr Eintreffen erst jetzt bemerkt zu haben schien. Lukas Svensson winkte ihr aufgeregt zu, wobei sich das Lächeln in seinem Gesicht noch einmal deutlich verbreiterte. Es bedeutete ihm unheimlich viel, seine kleine Lisa hier und heute an seiner Seite zu wissen, wo für ihn ein so neuer und wichtiger Lebensabschnitt beginnen sollte. Zu schade nur, daß nicht auch ihre Mutter dabei anwesend sein konnte. Schließlich wäre ohne ihre selbstlose Hilfe für ihren Ex-Mann die Hochzeit so vermutlich gar nicht erst zustande gekommen. Eingeladen hatten Lukas und Yelena Nina Svensson ja, und auch zugesagt hatte sie schon. Aber dann hatte die Botschaftsangestellte am späten Vorabend der Trauung doch noch überraschend absagen müssen und Lukas als Grund dafür unter dem Deckmantel strengster Verschwiegenheit anvertraut, daß im russischen Murmansk auf der Halbinsel Kola mehrere Trägerraketen für Nuklearsprengköpfe abhanden gekommen seien. Man gehe in Rußland nach ersten Unteruchungen davon aus, daß dies einmal mehr eine Aktion der momentan kopflos agierenden Terrorgruppe "Nowoij Djehn" gewesen sei und schließe daher auch nicht aus, daß die heiße Ware am Ende in England oder einem anderen europäischen Staat wieder auftauche. Was die Terroristen wohl mit den Dingern vorhatten? Ohne die zugehörigen Atomsprengköpfe waren die Raketen ja schließlich vorerst relativ wertlos. Während Lukas Svensson so seinen Gedanken nachhing, war Charles Wannabe unterdess gänzlich unbemerkt von hinten an ihn herangetreten. Und nun, da der Hochzeitsmarsch verklungen war, flüsterte er dem Ex-Inspektor ins linke Ohr: "Hören Sie zu, Svensson! Bevor Sie sich hier gleich in Ihr Verderben stürzen, hab ich noch eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie und Ihre Braut. Zuerst die schlechte: Die Adoptiveltern der verschollenen Tochter Ihrer Yelena sind schon seit Jahren tot. Und auch an die aktuelle Adresse des Kindes ist beim besten Willen kein Herankommen. Sie wissen ja, Datenschutz und so weiter. Nun aber die gute Nachricht: Ich konnte nämlich meinem Informanten mit viel gutem Zureden zumindest den aktuellen Familiennamen der verschollenen jungen Dame entlocken, und der ist Webster. Jana Webster. So, das wärs! Hat mich echt viel Mühe gekostet, das rauszufinden. Ich hoffe, Sie wissen das gebührend zu würdigen. Es bleibt doch bei dem, was wir als Gegenleistung ausgemacht haben, oder?!". Svensson, der durch die überraschende Ansprache Wannabes zunächst ein wenig zusammengezuckt war, drehte nun seinen Kopf zur Seite und blickte dem Mann in seinem Rücken tief in die Augen: "Klar doch! Ich stehe zu meinen Versprechen! Auch wenn ich mich ehrlich gesagt schon jetzt frage, auf was ich mich da auf meine alten Tage noch einlasse. Aber naja, für das Glück meiner zukünfigen Frau ist mir letztlich kein Preis zu hoch! Also abgemacht, Charles!". Begeistert schüttelte der kommissarische Yardchef die Hand seines Ex-Kollegen: "Ok, man sieht sich! Und nun viel Vergnügen beim fröhlichen Schippern in den stürmischen Hafen der Ehe! Auf in den Kampf, alter Haudegen! Und einen schönen Gruß an die holde Gattin!". Nach diesen Worten trat Wannabe rasch ein paar Schritte zurück und hockte sich schließlich in eine der hinteren Kirchenbankreihen.

So langsam kehrte erwartungsvolle Stille ein im Kircheninnern. Nahezu alle Gäste hatten sich einen Sitzplatz gesucht und diesen auch eingenommen. Nun harrte man gemeinschaftlich der großen Dinge, die da kommen würden. Urplötzlich wurden die beiden Flügeltüren des Hauptportals der Kathedrale von außen aufgestoßen, und das strahlend helle Sonnenlicht flutete innerhalb einer einzigen Sekunde den Gang zum Altar. Lukas und die restlichen Hochzeitsgäste waren einen Moment lang geblendet, dann aber traten zwei Gestalten durch die erleuchtete Pforte, eine von ihnen im schwarzen Anzug und die andere ganz in Weiß gehüllt. Ihre glänzenden Erscheinungen ließen das Sonnenlicht in ihrem Rücken verblassen, während Beide unter den Orgelklängen von Richard Wagners Brautchor würdevoll dem Altar entgegenschritten. Ein Staunen erfaßte die Anwesenden, und die Augen des Bräutigams begannen zu glitzern und zu funkeln, als er erkannte, wer da auf ihn zukam. Es war niemand anders als sein Freund Jack aus L.A., der sichtlich gerührt an Stelle des Brautvaters die Braut zum Altar führen durfte. Neben ihm aber schwebte in einem Traum aus weißer Seide mit dem bezauberndsten Lächeln auf der ganzen weiten Welt seine Yelena wie in Zeitlupe auf ihn zu. Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis sie endlich neben ihm zu stehen kam, vom nicht enden wollenden Beifall sämtlicher Gäste begleitet. Jack flüsterte Yelena etwas ins Ohr und zwinkerte Lukas dabei zu, während er die zitternde Hand der Braut in die gleichfalls stark bewegte ihres zukünftigen Gatten legte. Lukas aber strahlte überglücklich und überreichte Yelena den Brautstrauß. Die bekannte Melodie aus der Oper "Lohengrin" verstummte, und Pfarrer Marc Goody Shepherd trat am Altar vor das Brautpaar. Der mit indischen und südafrikanischen Wurzeln in England geborene Geistliche räusperte sich kurz, dann sprach er feierlich: "Liebe Yelena, lieber Lukas - liebes Brautpaar, werte Gäste! Wir alle sind heute hier zusammengekommen, um Zeugen zu werden, wenn sich Yelena Zladkaja und Lukas Svensson das Ja-Wort geben und damit den heiligen Bund der Ehe eingehen. Dabei wurde es Ihnen, liebes Brautpaar, in den vergangenen Tagen wahrlich nicht leicht gemacht, heute hier gemeinsam gesund und munter im Kreise ihrer Lieben vor mir am Altar dieses ehrwürdigen Gotteshauses stehen zu können. Und auch der nun vor Ihnen liegende gemeinsame Weg der Ehe wird nicht immer ein leichter sein. Nein, dieser Weg wird Ihnen Beiden sicher mehr als einmal steinig und schwer erscheinen. Nicht immer und in allem werden Sie sich einig sein. Und dennoch möchte ich Ihnen für all die Hindernisse, die auf Sie zukommen mögen, eines mit auf den Weg geben: Was Sie in Zukunft alleine nicht schaffen, das schaffen Sie dann ganz gewiß zusammen. Und alles, was es dafür bedarf, sind ein paar Tugenden: Verständnis und Kompromißbereitschaft, Ehrlichkeit und Vertrauen sowie Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Liebe aber - sowohl zueinander als auch zu Gott, der Sie Beide nach seinem Bilde erschuf und nach seinem Willen zusammenführte - das ist die wichtigste und größte unter ihnen". Damit blickte der Geistliche zu Onkel Fritz, der nun sichtlich nervös die Schachtel mit den Trauringen aus der Hosentasche hervorholte und sie an seinen Neffen weiterreichte. Daraufhin wandte sich der Pfarrer dem Bräutigam zu seiner Rechten zu und fuhr mit der Zeremonie fort: "Und so, Lukas Svensson, frage ich Dich vor Gottes Angesicht: Willst Du die hier anwesende Yelena Zladkaja zur Frau nehmen? Versprichst Du, ihr die Treue zu halten in guten und bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, und sie zu lieben, zu achten und zu ehren, solange Ihr Beide lebt?". Lukas schaute seiner Braut tief in die Augen und antwortete dann aus tiefster Seele: "Ja, ich will!". Der Pfarrer nickte zufrieden und wandte sich nun der Braut zu seiner Linken zu: "Ebenso, Yelena Zladkaja, frage ich Dich vor Gottes Angesicht: Willst Du den hier anwesenden Lukas Svensson zum Manne nehmen? Versprichst Du, ihm die Treue zu halten in guten und bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, und ihn zu lieben, zu achten und zu ehren, solange Ihr Beide lebt?". Yelena strahlte ihren Lukas ganz verliebt an und sprach dann mit aller Inbrunst: "Ja, das ich wollen!". Wieder nickte der Geistliche: "So tauscht denn nun als Zeichen Eures soeben vor Gott und aller Welt geschlossenen Ehebundes untereinander die Ringe". Aufgeregt kam Lukas der Bitte des Pfarrers nach und öffnete das schwarze Kästchen. Er holte den kleineren der beiden enthaltenen goldenen Ringe heraus und steckte ihn Yelena an den Ringfinger ihres zarten linken Händchens. Yelena tat daraufhin das gleiche mit dem verbliebenen größeren Ring, nur daß sie ihn ihm - wie in ihrer alten Heimat üblich - an den rechten Ringfinger steckte. Die beiden Brautleute legten daraufhin die frisch beringten Hände ineinander und schauten mit großen Augen erwartungsvoll auf den Geistlichen, der die Trauung mit den Worten vollendete: "Damit erkläre ich Euch, Yelena und Lukas Svensson, nach dem Willen Gottes rechtmäßig zu Mann und Frau! Lukas, Sie dürfen Ihre Braut jetzt küssen!". Das ließ sich der Bräutigam nicht zweimal sagen. Stürmisch umfaßte er den Hals seiner Yelena und drückte seine Lippen leidenschaftlich und dennoch sanft auf die ihren. Der Geistliche aber lächelte nur und sprach: "Was aber unser himmlischer Vater zusammengeführt hat, das soll der Mensch nicht scheiden! Amen! So gehet nun hin in Frieden!". Und während das Brautpaar sich nun unter dem sie segnenden Pfarrer zu seinen Gästen umdrehte, um dann zwischen ihnen allen hindurch über den langen Mittelgang aus dem Kirchgebäude hinaus ins neubegründete Eheleben zu schreiten, gab Onkel Fritz der eigens aus Deutschland mit angereisten kleinen Band um die Sängerin Vanessa ein Zeichen. Auf dieses Zeichen hin stimmte die in Italien geborene, junge Sängerin zum Auszug des Brautpaares die letzte Strophe des Silbermond-Liedes "Gib mir Sonne" an, so wie sie es schon einmal ein paar Jahre zuvor als damals ungekrönte Schlagerkönigin in einer Fernsehcastingshow getan hatte. Damals war das überaus herzliche Mädchen an diesem Titel gescheitert, doch heute sprach sie Lukas beim Anblick seiner wundervollen Frau aus dem Herzen, wenn sie sang: "Feier das Leben, feier den Tag! Feier uns Beide, es ist alles gesagt! Hier kommt die Sonne!". Die Sonne - ja das war sie für ihn. Licht- und wärmespendend, sein kleines Leben Tag für Tag aufs Neue erhellend. Seine Yelena, seine Frau!

Unzählige Hände wollten auf dem Wege geschüttelt, unzählige Gratulanten umarmt werden. Besonders innig fiel die Umarmung von Lukas Svensson und seiner Tochter Lisa aus. Sichtlich gerührt hauchte sie ihrem Vater dabei ins Ohr: "Oh, ich freu mich ja so sehr für Euch! Auch von Mutti soll ich Dir und Deiner Yelena ganz liebe Grüße und die besten Wünsche zur Vermählung ausrichten! Werdet glücklich, Ihr Zwei! Nach Euren Flitterwochen komm ich Euch dann zu den Weihnachtstagen mal für ein Wochenende besuchen, das ist ganz fest versprochen! Ich hab Dich lieb, Daddy!". Und mit einem zärtlichen Kuß auf die Wange entließ sie ihren überwältigten Vater aus ihrer Umklammerung. In ein paar Metern Entfernung aber schien sich bei diesem bewegenden Anblick ein völlig gedankenversunkener Inspektor Powerich lebhaft auszumalen, wie es wohl wäre, jetzt an der Stelle seines Amtsvorgängers zu sein und die zärtlichen Berührungen dieser aufregenden jungen Frau in vollen Zügen auskosten zu dürfen. Augenblicke später erwachte John Wayne jäh aus seiner schwärmerischen Versunkenheit und bemerkte, daß die Frischvermählten mittlerweile durch das große, weit geöffnete Kirchenportal ins Freie getreten waren, wo sich nun die restlichen Gäste wie auch er selbst innerhalb weniger Minuten in einer dichten Traube um sie scharrten. Yelena hob noch auf der Treppe ihr Brautkleid ein wenig nach oben und befreite sich dann von dem Sixpencestück in ihrem Schuh sowie von ihrem blauen Strumpfband, welches sie dem Bräutigam reichte. Lukas aber nahm es und warf es in hohem Bogen in die Menge, wo es sogleich von einem sichtlich überraschten Inspektor Powerich gefangen wurde. Auch Yelena entledigte sich nun traditionsgemäß ihres Brautstraußes, der daraufhin prompt in den Armen von Lukas' Tochter Lisa landete. Lukas schaute ein wenig skeptisch auf sein - von ihrem unerwarteten Fang - sichtlich geschmeicheltes Töchterchen, aber Yelena zwinkerte ihm nur zu und flüsterte: "Keine Sorge! Deine kleine Mädchen sein schon alt genug für Heiraten. Können ja nicht warten alle solang wie Du und ich mit Glück auf Erde!". Lukas nickte schmunzelnd: "Was für eine weise alte Dame ich mir da doch angelacht habe!". Yelena kniff ihrem Gatten daraufhin augenzwinkernd in die Seite und flüsterte: "Du aufpassen! Ich Dir heut nacht noch zeigen, wer oder was hier sein alt!". Lukas aber ergriff nur wortlos ihre Hand und zog sie mit sich - durch all die Menschen hindurch die Stufen der Treppe herab, hin zu seinem Freund George, der dort bereits mit einem weißen Tandem auf die Brautleute wartete. Das drahtige Gefährt hatte an seinem hinteren Sattel ein Schild mit dem Schriftzug "Just Married" angeschraubt. Und am Gepäckträger baumelte eine Schnur, an derem anderen Ende ein halbes Dutzend Blechbüchsen befestigt war. Lukas bedeutete seiner verdutzten Gemahlin, hinten auf dem Sattel Platz zu nehmen. Ohne zu zögern, raffte sie ihr langes Brautkleid beim Aufsteigen ein wenig zusammen und klemmte es vorsichtig im Gepäckträger ein, damit es beim Fahren nicht in die Speichen geraten konnte. Vor ihr nahm nun auch der Bräutigam auf dem vorderen Sattel platz und trat sogleich - im Einklang mit seiner Braut - kräftig in die Pedale. Laut scheppernd setzte sich das Hochzeitstandem in Bewegung. Dabei hauchte Yelena ihrem Mann zärtlich fragend ins Ohr: "Wohin die Reise denn sollen gehen?". Ihr Vordermann aber tat nur äußerst geheimnisvoll: "Na, da laß Dich mal überraschen, Misses Svensson!".

Eine halbe Stunde später befanden sich die beiden frischgebackenen Eheleute mitten im Londoner Hydepark. Die herbstliche Sonne strahlte durch die schattenspendenden Kronen der zahlreichen Bäume hindurch, und die Vögel in ihren Ästen zwitscherten vergnügt. Braut und Bräutigam saßen händchenhaltend auf einer Parkbank in unmittelbarer Nähe eines Imbißwagens und hielten je einen Hot Dog in ihren freien Händen. Yelena Svenssons Augen waren weit geöffnet, und sie konnte sich scheinbar gar nicht satt sehen am Anblick des wundervollen bunten Herbstlaubs, welches den Erdboden des riesigen Parks nahezu komplett bedeckte. Lukas Svensson aber blinzelte zur gleichen Zeit in den pardiesisch blauen Himmel über ihnen und atmete voller Wonne die herrlich frische Herbstluft in sich ein. Neugierig fragte er dabei seine Angetraute: "Sag mal, mein Schatz, was hat Dir eigentlich mein amerikanischer Freund Jack da am Altar ins Ohr geflüstert?". Yelena schwieg einen Augenblick lang. Ihr Blick löste sich dabei vom Erdreich und wanderte unumwunden in das sonnenbeschienene, strahlende Antlitz des geliebten Mannes an ihrer Seite. Lukas hatte unterdess für sich beschlossen, daß der Himmel noch warten konnte, und schaute nun ebenfalls zu seiner Frau herüber. Ihre Blicke fanden sich, und in der intensiven Begegnung ihrer blauen und braunen Augenpaare schienen für einige Sekunden Himmel und Erde miteinander zu verschmelzen. Und nun endlich lüftete Yelena das kleine Geheimnis, das bislang nur sie und ihr charmanter amerikanischer Brautführer geteilt hatten: "Jack haben mir gratuliert zu Dir und umgekehrt. Er sich sehr geehrt gefühlt haben, daß er mich dürfen begleiten anstelle von Vater von Braut. Er haben uns gewünscht alles Glück auf ganzes Welt. Und er haben gesagt, er hoffen, daß es sein kein schlechtes Omen für Ehe von uns Beiden, wenn er mich bringen zu Altar, wo er doch immer wieder haben soviel Unglück, was betreffen längere Beziehung zu weibliches Geschlecht. Und dann er noch haben gemeint, daß ich genauso herrlich und unbeschwert lächeln wie früher sein Teri". Lukas nickte: "Ja, der gute alte Jack. Die Bekanntschaft mit ihm hat vieles in meinem Leben verändert. Sein unbeugsamer Wille, stets das Richtige tun zu wollen, auch wenn er einen nahezu übermenschlich hohen Preis dafür zu zahlen hat, beeindruckt mich immer aus Neue. Wie viel hat er dabei verloren?! Seine Frau, sein ungeborenes Kind, viele seiner Freunde und Kollegen. Und auch, wenn er dabei viele Male in den Abgrund seiner irdischen Existenz schaute, so kämpfte er doch letztendlich immer weiter - für sein Land, seinen Glauben an den Sieg der Gerechtigkeit und für die Menschen, die er liebt. Denn seien wir doch mal ehrlich: Es gibt kaum ein größeres Verbrechen, als nicht kämpfen zu wollen, wo man kämpfen muß. Ja, liebste Yelena, ich verneige mich voller Ehrfurcht und Respekt vor diesem Mann und bin stolz, ihn meinen Freund nennen zu dürfen". Sichtlich gerührt von der Ansprache ihres Gatten streichelte Yelena über dessen rechte Wange und fing dabei mit ihrem Handrücken eine herunterlaufende Träne ab. Sie mochte ihren Lukas an diesem Freudentag nicht weinen sehen, und so suchte sie rasch nach einer Möglichkeit, ihn aufzuheitern. Ihr Blick fiel dabei unvermittelt auf den Hot Dog in ihrer Hand, und sie sprach lächelnd: "Ja, nun wir sein also hier in großes öffentliches Park an Tag von unseres romantisches Hochzeit. Und das also sein Dein Vorstellung von großes Hochzeitsbuffet. Heißes Wurst in Mantel aus Teig, verfeinert mit Sauce von erpreßte Tomate?!". Lukas lächelte verschmitzt, dann biß er noch einmal herzhaft in seine Wurstsemmel und erwiderte kaum verständlich: "Nun ja, hier hat schließlich alles angefangen mit uns, damals am Tag meines zehnjährigen Dienstjubiläums als Yardinspektor. Erinnerst Du Dich noch?". Yelena nickte entschlossen: "Natürlich, wie ich könnte das je vergessen?! Du und ich mit Eis in Hand. Du gekleckert, ich geschleckert! Und ich damals schon haben gewußt, daß Du sein mein. Dein Lächeln und Deine Hände, Deine Augen und Deine Lippen! Alles mir schon an dieses Nachmittag sein so vertraut gewesen. Und ich schon gewußt haben, daß ich lieben Dich, noch bevor ich überhaupt haben Dich richtig gekannt. Du und ich - das sein gewesen Schicksal göttliches! Das sein Bestimmung! In gutes wie in schlechtes Tage, bis daß Tod scheiden uns!". Unbemerkt von den beiden frisch angetrauten Turteltäubchen hatte sich ihnen unterdess aus einem naheliegenden Gebüsch heraus ein dunkel gekleideter Mann genähert, der sein Gesicht unter einem tief heruntergezogenen Basecap zu verbergen suchte. Er schlich langsam auf die beiden Svenssons zu und umklammerte dabei mit beiden Händen krampfhaft ein schwer zu identifizierendes längliches Objekt. Nur noch wenige Schritte trennten ihn vom Brautpaar, als der Unbekannte unvermittelt stehenblieb. Ein dumpfer Knall durchbrach die Stille der Parklandschaft und ließ die aufgeschreckten Vögel aus den Baumkronen hochflattern. Lukas aber - der sich im selben Moment gerade zu Yelena hinübergebeugt hatte, um sie zu küssen - griff sich unvermittelt an die kahle Stirn, wo er deutlich einen stechenden Schmerz registrierte. Etwas hatte ihn am Kopf getroffen. Und während er sichtlich benommen mit seinen Fingern die Umgegend der schmerzenden Stelle abtastete, erblickte er auf Yelenas schneeweißem Brautkleid unmittelbar vor sich in Brusthöhe zu seinem blanken Entsetzen einen großen, häßlichen roten Fleck.

Es dauerte ein Weilchen, bis Lukas begriffen hatte, was hier soeben geschehen war. Vor ihm kniete sein Freund Yusuf mit einer überschäumenden Magnumflasche Sekt in der Hand und bat händeringend: "Tschüldigung, Chef! Ich hab nix auf Dich schießen wollen. Der Korken ist bei der ganzen Schüttelei einfach so rausgeflogen und direkt an Deine großflächige Denkerstirn. Tut mir leid! Vor allem, daß vor Schreck von Deinem Hot Dog ein bißchen Ketchup auf das Kleid Deiner Frau getropft ist. Was für ein Unglück!". Der Ex-Inspektor schaute Yusuf noch immer ein wenig grimmig an, während er sich weiter die Stirn rieb. Schließlich aber winkte er lächelnd ab: "Ich bin sicher, meine Yelena kriegt den doofen Fleck wieder raus!". Die Svenssonbraut besah sich die betroffene Stelle an ihrem Hochzeitskleid genauer und nickte schließlich zustimmend. Svensson aber klopfte dem betrübten Yusuf freundschaftlich auf die herabhängende rechte Schulter: "Na also! Schwamm drüber! Und das im wahrsten Sinne des Wortes!". Yusuf hob kurz den gesenkten Kopf und schmunzelte. Doch nur für einen Augenblick, dann murmelte er erneut sichtlich bedrückt: "Aber so ein Fleck auf dem Brautkleid bedeutet doch immer Unglück, weißt Du?!". Lukas schaute seinem Freund tief in die traurigen Augen und schüttelte dabei energisch den Kopf: "Mensch, Alder! Laß bloß den Scheißendreck-Aberglaube! Und jetzt Schluß mit Kopfzerbrechen! Alles was zählt, ist schließlich die gute Absicht dahinter und daß Du hier bist! Und außerdem habe ich genau diesen roten Fleck auf dem weißen Kleid bereits vor ein paar Tagen im tiefsten Rußland in einer Art visionärem Traum vorausgesehen. So, und genau darauf stoßen wir jetzt an, auf die Erfüllung all unserer Träume und auf meine Eheschließung mit der tollsten Frau, die ich mir vorzustellen vermag!". Mit diesen Worten stand er auf und ließ sich vom Pächter des Imbißes drei Plastikbecher reichen, die Yusuf umgehend mit dem mitgebrachten edlen Sprudelwasser befüllte. Die Drei stießen an, tranken ihre Becher in einem Zuge aus und füllten sofort wieder nach. Das Ganze wiederholten sie solange, bis die große Sektflasche restlos geleert war. In diesem Moment fiel Svenssons bereits leicht verklärter Blick auf Yussufs Armbanduhr, deren kleiner Zeiger inzwischen der Fünf des zugehörigen Ziffernblatts bedrohlich nahekam. Entgeistert sprang er von seinem Sitzplatz auf und rief: "Du meine Güte, wir kommen wegen unserem kleinen nicht geplanten Umtrunk hier am Ende noch zu spät zur Taufe von Klein-Luke". Yusuf aber zügelte die Aufregung seines Freundes: "Keine Panik, Chefe! Guckst Du da hinten um die Ecke am Parktor! Da wartet schon Euer Chauffeur George mit einem extra für Euren großen Tag angemieteten schneeweißen Rolce Royce auf Euch Beide. Und was Euren Doppeldrahtesel angeht, den schieb ich derweil ganz in Ruhe nach Hause. Wir sehen uns ja dann heute abend im 'My Redemption' wieder zur großen Hochzeitsfeier". Lukas schüttelte Yussuf kräftig die Hand: "Ja, klar! Darauf freu ich mich schon. Und danke für die unvergeßliche Überraschung mit dem feucht-fröhlichen Blitzangriff hier, mein Freund!". Der türkischstämmige Schrankenwärter aber schaute ein wenig verlegen zu Boden und stammelte: "Wozu hat man denn schließelich Freunde?!". Als er den Kopf wieder zu heben wagte, waren Lukas und Yelena samt Chauffeur George und seinem Luxusschlitten längst über alle Berge verschwunden.

In der kleinen Vorstadtkapelle wartete man schon recht ungeduldig und nervös auf das Eintreffen des noch fehlenden Taufpaten. Umso erleichterter waren Cathrin Napolitani, ihre Freundin Jane und der kleine Luke, als der weiße Traumschlitten mit Lukas und Yelena an Bord endlich fast auf die Minute genau vorm Eingang hielt. George entstieg in standesgemäßer Chauffeurstracht eilends dem noblen Gefährt und öffnete dessen Hintertür, so daß nun auch Yelena und ihr Bräutigam unter dem Beifall der staunenden Anwesenden aussteigen konnten. Hand in Hand begab sich das Paar ins Innere des kleinen Kirchengebäudes und dort wiederum schnurstracks zum Taufbecken. Yelena postierte sich ein wenig abseits, während ihr Göttergatte unmittelbar neben Lukes Mutter Jane Aufstellung nahm. Dann hatte einmal mehr an diesem denkwürdigen Tag ein Mann der Kirche das Wort: "Lieber Täufling, lieber Pate, liebe Eltern, werte Anwesende. Mit dem symbolischen Akt der Taufe nehmen wir als Christen einen Menschen als neues Mitglied in unsere Gemeinschaft auf. Wir stellen ihn damit unter den besonderen Schutz und die Obhut unseres lebendigen Gottes. Er muß fortan nicht mehr einsam durchs Leben gehen. Nein, er darf Jesus Christus sowie als dessen irdische Vertreter seinen Paten im Besonderen und die Gemeinde im Allgemeinen an seiner Seite wissen, die ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen werden und darauf Acht geben mögen, daß er durch alle Irrungen des Lebens hindurch stets den rechten Weg beschreitet. Der Täufling selbst erkennt in seiner Taufe an, ein Geschöpf Gottes zu sein. Er bekennt seinen festen Glauben an Jesus Christus, dessen Tod am Kreuz ihn vor Gott von all seinen menschlichen Verfehlungen freispricht und ihm das ewige Leben an der Seite seines himmlischen Vaters ermöglicht. Die symbolische Handlung der Taufe macht dem Täufling zugleich das wertvolle Geschenk des Heiligen Geistes, der ihm das Wort Gottes und damit auch das Wort vom Kreuz verständlich machen wird, auf daß er sein ganzes weiteres Leben mit Gottes Hilfe danach auszurichten vermag!". Damit bat Pfarrer John Baptist den kleinen Luke, seinen Kopf über das Taufbecken zu neigen. Und nachdem dieser dem Wunsch nachgekommen war, schöpfte der junge Geistliche mit der rechten Hand Wasser aus jener steinernen Schale und ließ es über den Hinterkopf es Täuflings fließen. Dazu redete er: "Ich taufe Dich hiermit im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Dein Taufspruch aber sei das Wort aus dem Buche des Propheten Jesaja Kapitel 43 Vers 1: 'Ich, der Herr, habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du bist mein!'. Und so sollst nun auch Du ganz dem Herrn gehören, der Dich bei Deinem Namen gerufen hat ... Dich, Luke Webster!" ...

EPISODE 21: IM NAMEN DES GROSSVATERS

Lukas kratzte sich nachdenklich am Kopf, während der kleine Luke vor ihm mit einem dargereichten weißen Tuch seinen Hinterkopf abtrocknete. Webster? Aber ja! Daß er da nicht gleich ... Zwei Hände zupften an seinem Hosenbein und rissen ihn damit jäh aus seiner Gedankenwelt heraus. Der frischgetaufte Luke zerrte voller Eifer an der Hose seines Patenonkels: "Toll, Onkel Lukas! Ich freu mich, daß Du da bist! Hast Du mir auch was mitgebracht zu meiner Taufe, vielleicht ein kleines Präsent oder eine schöne Geschichte". Der Ex-Inspektor schaute ein wenig entgeistert drein: "Was? Ja, Luke, schon möglich, daß ich da eine ganz tolle, geradezu märchenhafte Geschichte für Dich hab! Gib mir nur mal eine Sekunde, ich muß da noch rasch was mit Deiner Mami bereden". Damit nahm er den Jungen zu sich auf den Arm und trat dann von hinten an dessen Mutter heran. Er klopfte ihr mit dem Zeigefinger solange auf die Schulter, bis sie sich aus der angeregten Unterhaltung mit ihrer geliebten Cathrin löste, und fragte aufgeregt: "Jane Webster?! Sie heißen Jane Webster, oder auch Jana Webster, richtig?!". Jane sah den Ex-Inspektor erstaunt an und erwiderte: "Ja, richtig! Aber das wußten Sie doch bereits! Und was das Jana angeht, so hat mich seit meiner Kindheit niemand mehr genannt. Alle sagen Jane, so wie es auch in meinem Paß steht". Lukas nickte, noch immer etwas abwesend wirkend: "Ja, klar doch! Im guten alten England wird aus einer Jana von Amts wegen rasch mal eine Jane! Eigentlich doch ganz offensichtlich! Nur hab ich im entscheidenden Moment einfach nicht dran gedacht. Und in Ihrer Akte stand ja auch, daß Ihre Pflegeeltern bei einem Unfall ums Leben kamen. Und auch, daß Sie Kunst studiert haben, genau wie sie ...". Jane Webster schaute verdutzt: "Wie sie? Wen meinen Sie damit?". Lukas' Augen begannen zu leuchten: "Na sie - Ihre Mutter, Jane. Ihre leibliche Mutter meine ich damit!". Lukes Mutter begann mit einem Male am ganzen Körper zu zittern. Ungläubig fragte sie: "Sie kennen meine Mutter, Lukas?! Meine leibliche Mutter, die ich nie kennenlernen durfte und die ich über all die Jahre immer wieder verzweifelt gesucht habe?! Niemand hat mir sagen können, wer sie ist und wo sie lebt. Und nun kommen Sie als Taufpate meines Sohnes daher, und wissen, wo sie sich befindet?!". Lukas winkte seine Frau zu sich. Und als Yelena herangetreten war, verkündete er schluchzend: "Yelena, liebste Yelena, ich hab Dir doch versprochen, daß ich Deine Tochter für Dich ausfindig mache - Deine Jana, die Du nach ihrer Geburt schweren Herzens aus Angst um ihr Leben weggeben mußtest, nicht wahr?!". Yelena verstand kein Wort und nickte zögernd. Lukas aber rannen dicke Tränen über beide Wangen, während er fortfuhr: "Dann darf ich Dir jetzt die Mutter des kleinen Luke vorstellen, Jane Webster alias Jana Webster, geborene Jana Zladkaja, Deine Tochter!". Sekundenlang standen sich beide Frauen wie angewurzelt gegenüber und schauten sich dabei tief in die Augen. Keine von ihnen wollte recht glauben, daß in diesem Moment all ihr Suchen und Bangen ein Ende haben sollte. Schließlich war es Yelena, die als Erste in der Lage war, ihr Glück zu begreifen. Sie schlang beide Arme um Janes Hals und sprach weinend: "Mein Kind, geliebtes mein Kind! Daß ich das noch darf erleben!". Die Tränen Yelenas, die in wilden Sturzbächen die Schulterpolster von Janes Seidenbluse fluteten, schienen nun auch deren Erstarrtheit zu lösen. Und so erwiderte sie die Umarmung jener noch so unbekannten Frau und schluchzte: "Mama! Liebste Mum! Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, Dich jemals zu finden!".

Angelockt vom Weinen ihrer Geliebten trat nun auch Cathrin Napolitani näher und erkundigte sich, was denn so Schlimmes geschehen sei. Lukas aber verpaßte ihr zu ihrem Erstaunen ein Küßchen auf die Wange und flüsterte: "Ich glaube, Deine Freundin Jane kann ab heute Vater zu mir sagen. Meine Braut Yelena ist nämlich ihre leibliche Mutter. Und nun: Küß mich, Kate!". Sie zögerte einen kleinen Moment, doch dann drückte sie dem Ex-Inspektor einen feuchten Schmatzer auf die Stirn. Und zärtlich abwechselnd über Janes und Yelenas Wange streichelnd, fragte sie: "Ist das wahr, Ihr Zwei?! Ihr seid Mutter und Tochter?!". Die beiden Frauen aber zu ihrer Rechten und Linken nickten synchron. Der kleine Luke, der der ganzen Enthüllung um das neuaufgedeckte Verwandtschaftsverhältnis seiner Frau Mama bislang nur stumm beigewohnt hatte, wurde nun auf dem Arm seines Patenonkels recht zappelig. Schließlich platzte es neugierig aus dem kleinen Kerl heraus: "Du, Onkel Lukas, dann sind wir Beide jetzt also auch miteinander verwandt?!". Lukas Svenssons Augen füllten sich stolz und glücklich mit ein paar Freudentränen: "Ja, mein Junge! Und ich glaube, Du solltest mich jetzt Großvater nennen". Der kleine Luke jedoch schüttelte nur energisch den Kopf: "Aber Du siehst doch gar noch nicht aus wie ein Großvater!". Und lachend entgegnete ihm sein neuer Opa Lukas: "Da kann ich Dir allerdings nur zustimmen!" ...

[ENDE]